S 11 KR 548/17

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Gießen (HES)
Sachgebiet
Krankenversicherung
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 11 KR 548/17
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 1 KR 429/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Klage wird abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.


Tatbestand

Der Kläger begehrt von der Beklagten die Versorgung mit Medizinal-Cannabisblüten.

Der Kläger (geb. 1951) ist bei der Beklagten krankenversichert. 

Am 17. Februar 2017 informierte sich der Kläger telefonisch bei der Beklagten wegen des Gesetzesentwurfs zu Cannabis. Auf die Mitteilung, dass die Beklagte hierzu noch keine Auskünfte geben könne, erklärte der Kläger, dass er sich gegebenenfalls später noch einmal melden werde.

Am 13. März 2017 beantragte der Kläger bei der Beklagten telefonisch die Kostenübernahme der Medikamententherapie mit Cannabisblüten. In diesem Telefonat teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass eine Prüfung durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) nötig sei und daher ein Arztfragebogen für den behandelnden Arzt zugesandt werde. Mit Schreiben vom gleichen Tag bat die Beklagte – aufgrund ihrer Bindung an vorgegebene Fristen – den Kläger, dass er den Fragebogen seinem Arzt spätestens nach drei Tagen übermittle. 

Mit Schreiben vom 28. März 2017 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass mangels Vorlage der angeforderten Unterlagen der Antrag nicht innerhalb der gesetzlichen Fristen abschließend bearbeitet werden könne. 

Am 30. März 2017 teilte der Kläger telefonisch mit, dass er im Hinblick auf seine Alkoholerkrankung schon 15 Jahre Selbsttherapie mit Cannabis mache. Er finde keinen Arzt für die von der Beklagten geforderten Unterlagen. Dr. B. sei schon abgesprungen. Die Beklagte erklärte ihm, dass sie aktuelle ärztliche Unterlagen benötige. 

Mit Schreiben vom 4. April 2017 erklärte der Kläger gegenüber dem MDK, dass er Alkoholiker sei. Abgesehen von einem oder zwei Rückfällen sei er seit ca. 15 Jahren abstinent. Seinen Drang zum Alkoholkonsum habe er in den letzten Jahren in Eigentherapie mit Cannabis kompensiert. Im September 2016 sei sein Eigenanbau von der Polizei beschlagnahmt worden. Seitdem leide er vermehrt unter Stimmungswechseln und schlechtem Schlaf. Zudem verspüre er einen vermehrten Drang nach Alkohol. Er müsse erhebliche Energie aufwenden, um nicht rückfällig zu werden. Seine Lebensqualität sei dadurch erheblich gemindert. Seinem Schreiben fügte der Kläger einen selbst ausgefüllten Arztfragebogen bei. Darin gab er unter anderem an, dass ihm Cannabis-Blüten verordnet werden sollen, wobei die optimale Darreichungsform und die Dosierung im Laufe der Therapie ermittelt werden müsse, da hierzu bisher keine Angaben möglich seien. 

Ferner übersandte der Kläger dem MDK eine ärztliche Bescheinigung des Allgemeinmediziners Dr. C. vom 10. April 2017. Dieser bescheinigte, dass dem Kläger, der sich neu in seiner ärztlichen Behandlung befinde, der Selbstanbau von Cannabis nicht mehr möglich sei und daher die Genehmigung einer Cannabisversorgung beantragt werde. 

Zudem reichte der Kläger eine Bescheinigung von Dr. D. vom Suchthilfezentrum E-Stadt vom 1. Dezember 2010 ein, der bestätigte, dass Tetrahydrocannabinol (THC) aus fachlicher Sicht in Einzelfällen durchaus geeignet sei, das alkoholtypische Craving beherrschbar zu machen.

In dem darüber hinaus vorgelegten Gutachten nach Aktenlage vom 4. Oktober 2010 berichtete Dr. F. von positiven Studien über Cannabiskonsum bei der Alkoholkrankheit. Der Kläger habe ihm von einer Vielzahl an früheren Versuchen der Alkoholtherapie berichtet (Selbsthilfegruppe, erfolglose Psychotherapie über ein ¾ Jahr, Einnahme von Zoloft, Citalopram). Im Jahr 2002 habe er eine stationäre Entgiftung durchführen lassen. Eher zufällig habe er dann die Erfahrung gemacht, dass Cannabis ihm dabei helfe, abstinent zu bleiben. Mit Hilfe des selbstangebauten Cannabis sei es ihm gelungen, abstinent zu bleiben und ein stabiles Leben zu führen. Die legalen Medikamente würden erst nach längerer Einnahmezeit wirken, ihre Wirksamkeit sei nicht sicher. Im Jahr 2008 sei das Cannabis des Klägers beschlagnahmt worden. Er sei wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz verurteilt worden. Dr. F. führte aus, dass diese Angaben des Klägers zu den an sich selbst beobachteten therapeutischen Effekten von Cannabis auf der Basis der wissenschaftlichen Datenlage nachvollziehbar seien. 

In dem vorgelegten Befundbericht vom 30. November 2010 führte der Allgemeinmediziner Fleck aus, dass der Kläger ein Alkoholproblem angegeben habe, welches in den letzten Jahren kompensiert gewesen sei. Er habe über ein fibromyalgisches Beschwerdebild und über Tinnitus geklagt. Unter THC würden seine Beschwerden sich bessern. Die versuchsweise Gabe von Amitriptylin 10 mg sei von dem Kläger aufgrund von Nebenwirkungen nicht toleriert worden. Der Kläger habe ihm gegenüber von der früheren Einnahme verschiedener Psychopharmaka berichtet, welche ihn nie deutlich vom Alkohol haben distanzieren lassen.

Die Beklagte holte daraufhin eine Stellungnahme des MDK ein. Dieser verneinte in seiner Stellungnahme vom 13. April 2017 das Vorliegen der Voraussetzungen für die beantragte Versorgung. Eine Verordnung sei bisher nicht ausgestellt worden. Es fehle an einer entsprechend differenzierten Begründung und der Vorlage der relevanten Dokumentation. Auf der Grundlage der übermittelten Unterlagen verbiete sich eine Benennung von Alternativen.

Mit Bescheid vom 18. April 2017 lehnte die Beklagte die beantragte Versorgung unter Bezugnahme auf die Stellungnahme des MDK ab.

Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch. Er gab an, ohne Cannabis befinde er sich in einer permanenten Notsituation, weil er nichts habe, womit er einen möglichen Kontrollverlust mit Blick auf seine Alkoholkrankheit stoppen könne. Dem Widerspruch fügte er eine Stellungnahme von Dr. C. vom 24. April 2017 bei, der darauf hinwies, dass bei einer Alkoholkrankheit eine schwerwiegende Erkrankung mit Anspruch auf Versorgung mit Cannabis vorliege. Der Kläger habe seine Alkoholkrankheit bislang mit Cannabis erfolgreich behandelt und weitere Rückfälle vermeiden können. Nunmehr drohe ein Rückfall. Es bestehe somit eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf.

In einer weiteren Stellungnahme vom 11. Mai 2017 kam der MDK zusammenfassend zu dem Ergebnis, dass eine schwerwiegende Erkrankung vorliege, weshalb eine Therapie notwendig sei. Zur Diagnose, Behandlung und Rückfallprophylaxe alkoholbezogener Störungen seien differenzierte Empfehlungen erarbeitet worden, welche den Leitlinien zu entnehmen seien. Dem Kläger dürfe eine entsprechende Therapie mit Maßnahmen zur Rückfallprophylaxe nicht vorenthalten werden. Aus den vorliegenden Unterlagen seien die aktuelle Therapie und der aktuelle Verlauf nicht nachvollziehbar. Zudem sei nicht erkennbar, dass alternative Therapien nicht zur Verfügung stünden oder im Einzelfall nicht zur Anwendung kommen könnten. Eine fundierte Risikoabwägung der Anwendung von Cannabis unter Berücksichtigung der vorliegenden Konstellation sei nicht übermittelt worden.

Am 18. Mai 2017 beantragte der Kläger bei dem Sozialgericht Gießen einstweiligen Rechtsschutz. Er trug vor, vor dem Beginn seiner Eigentherapie habe er verschiedene Therapieversuche unternommen, u. a. in Form von Psychotherapie und durch Medikamenteneinnahme. Im Jahr 2002 habe er eine Entgiftung in der Klinik in E-Stadt durchgeführt. Da dies schon lange her sei, habe er hierzu jedoch kaum Nachweise. Cannabisblüten benötige er nicht dauerhaft, sondern nur bei aufkommendem Drang, Alkohol zu konsumieren. Dronabinol sei dann in seiner Wirkung zu langsam.

Aus den vom Kläger im Rahmen des Eilverfahrens vorgelegten medizinischen Unterlagen sowie den vom Gericht eingeholten Befundberichten ergibt sich, dass der Kläger von Januar 2003 bis Februar 2010 Mitglied in einer angeleiteten Abstinenzgruppe war (Bescheinigung des Landkreises Gießen vom 24. Juni 2010).

In den Jahren 2009 und 2010 war der Kläger dreimal bei Dr. H. (Facharzt für Psychiatrie) in Behandlung. Dieser stellte die folgenden Diagnosen: Abhängigkeitssyndrom bei Alkoholgebrauch, zurzeit abstinent; Abhängigkeitssyndrom bei Gebrauch von Cannabinoiden; rezidivierende depressive Störung. Der Kläger konsumiere Cannabis gegen den Alkohol-Suchtdruck. Ein Therapieversuch mit Citalopram sei mit Nebenwirkungen verbunden gewesen und daher nicht fortgesetzt worden (Fachärztliche Bescheinigung vom 3. September 2010 und Befundbericht vom 11. Juli 2017).

Von April 2010 bis März 2012 war der Kläger bei dem Allgemeinmediziner Herrn G. in Behandlung. Zudem hat am 21. März 2017 ein einmaliger Kontakt stattgefunden. Herr G. berichtete von dem oben beschriebenen Therapieversuch mit Amitriptylin im Jahr 2010 sowie einer durch das Suchthilfe Zentrum E-Stadt eingeleiteten Therapie mit Sativex. 2010 habe er eine Entgiftungstherapie mit anschließender Langzeittherapie angeboten (Befundbericht vom 29. Juni 2017). 

Auf Nachfrage bei Dr. F. sowie beim Kläger ergab sich, dass Dr. F. das Gutachten vom 4. Oktober 2010 auf Basis von Kontakt über Telefon und E-Mail mit dem Kläger erstellt hatte.

Seit April 2017 war der Kläger bei dem Allgemeinmediziner Dr. C. in Behandlung. Dieser teilte mit, der Antrag auf Medizinal-Cannabisblüten sei im Einzelfall nach begründeter Einschätzung unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes und daher nicht zur Verfügung stehender allgemeiner Behandlungsmöglichkeiten gestellt worden. Bei alternativen Behandlungsmethoden sei die Rückfallgefahr enorm. Daher sei nachvollziehbar, dass sich der Kläger seinerzeit bewusst gegen eine stationäre Entzugsbehandlung entschieden habe. Der Kläger verwende Cannabinoide nur bei akuten Entzugssymptomen/akuter Rückfallgefahr, weshalb er auf eine schnelle Wirksamkeit angewiesen sei. Dies sei bei Dronabinol oder Nabilon nicht gegeben. Es seien spürbar positive Einwirkungen auf den Krankheitsverlauf zu erwarten. Es gäbe keinen medizinischen Grund, die jahrelang problemlos durchgeführte erfolgreiche Substitution jetzt zu unterbinden. Aufgrund der nun fehlenden Therapie habe der Kläger berichtet, es komme zu Schlafstörungen, Angstzuständen und ein Gewichtsverlust von 10 kg sei eingetreten. Der Zustand ohne Cannabis verschlechtere sich zunehmend, ein Rückfall sei nicht auszuschließen. Kontraindikationen bestünden nicht (Stellungnahme vom 14. Juni 2017, Befundberichte vom 30. Juni 2017 und 6. Juli 2017). Unter dem 28. Juli 2017 hat Dr. C. eine Verordnung für Cannabisblüten ausgestellt.

Der MDK kam in seinen weiteren Stellungnahmen zu dem Ergebnis, es sei nicht nachvollziehbar, dass allgemein bzw. im speziellen Einzelfall Behandlungsalternativen nicht bestünden. Zudem fehle eine fundierte Risikoabwägung. Insbesondere schwere Abhängigkeitserkrankungen seien nach den Regeln der ärztlichen Kunst adäquat (Entgiftung, Entwöhnung) zu behandeln. Aus medizinischer Sicht sei bei Cannabisabhängigkeit das Behandlungsziel Abstinenz anzustreben (Stellungnahmen vom 28. Juli 2017 und 2. August 2017).

Die Beklagte hat im Rahmen des Eilverfahrens ausgeführt, dass es an der Dokumentation schwerwiegender Symptome sowie einer suffizienten Therapie mit entsprechender Verlaufskontrolle fehle. Maßnahmen zur Rückfallprohylaxe seien nicht dargelegt worden. Ferner fehle es an einer fundierten ärztlichen Risikoabwägung. Dronabinol sei zudem günstiger als Medizinal-Cannabisblüten.

Das vom Kläger geführte Eilverfahren war in erster Instanz erfolgreich, blieb in zweiter Instanz vor dem Hessischen Landessozialgericht aber erfolglos (zur Begründung des Landessozialgerichts siehe Entscheidungsgründe). 

Mit Widerspruchsbescheid vom 19. Oktober 2017 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt, mit einer Therapie zur Entgiftung und Entwöhnung des Alkohols sei eine vertragliche Alternative vorhanden. Gründe, warum diese Therapie nicht möglich sei, seien nicht vorgetragen worden. Zudem fehle eine fundierte Risikoabwägung.

Der Kläger hat am 13. November 2017 Klage erhoben und im Wesentlichen die bereits im Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren sowie im gerichtlichen Eilverfahren vorgetragenen Gründe wiederholt. Er hat auf die Symptome sowie Begleiterscheinungen im alltäglichen Leben im Zusammenhang mit seiner Alkoholkrankheit hingewiesen, welche sich durch den Cannabis-Konsum wesentlich verbessern würden. Diese Symptome seien wesentlich schwerwiegender als die einer möglichen Cannabis-Abhängigkeit, sofern man überhaupt von einer solchen sprechen könne. Der Einsatz von Cannabis sei nicht gefährlich, was auch der legale Konsum in anderen Ländern belege. Überdies vermöge keine dem medizinischen Standard entsprechende Leistung eine entsprechend schnelle Wirkung gegen den Alkoholdrang zu entwickeln. Er habe vor 15 Jahren alle ihm bekannten Methoden der Standardmedizin versucht, ohne Erfolg zu haben. 


Der Kläger beantragt,

den Bescheid vom 18. April 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Oktober 2017 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Kläger mit Cannabisblüten zu versorgen.

Die Beklagte beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Die Beklagte hat im Wesentlichen auf die Gründe des Widerspruchsbescheides verwiesen. 

Auf Nachfrage des Gerichts hat der Kläger angegeben, es hätten seit dem Beschluss des Landessozialgerichts keine weiteren Arztbesuche stattgefunden.

In der mündlichen Verhandlung am 23. September 2020 hat der Kläger angegeben, eine Langzeittherapie habe er bisher nicht gemacht. Eine solche lehne er ab. Er sei weiterhin alkoholabstinent und könne auch nicht riskieren, Alkohol zu trinken, da dies sein Tod wäre.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Inhalte der Verwaltungsakte der Beklagten, der Gerichtsakte sowie der Gerichtsakte des beigezogenen Verfahrens S 15 KR 263/17 ER (HLSG: 1 KR 338/17 B ER) verwiesen, welche Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Entscheidung waren.


Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist unbegründet.

Der Bescheid vom 18. April 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Oktober 2017 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Versorgung mit Medizinal-Cannabisblüten.

1. Ein solcher Anspruch ergibt sich nicht aus § 13 Abs. 3a SGB V. In diesem Zusammenhang hat bereits das Hessische Landessozialgericht in seinem Beschluss vom 9. Oktober 2017 zum Aktenzeichen L 1 KR 338/17 B ER ausgeführt:
„Ein Anspruch auf die geltend gemachte Versorgung folgt nicht aus einer fiktiven Genehmigung gemäß § 13 Abs. 3a SGB V. Diese Norm ist zwar auch hinsichtlich § 31 Abs. 6 SGB V anwendbar (so ausdrücklich BT-Drucks. 18/8965 S. 25; ebenso LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 27. Juli 2017, L 5 KR 140/17 B ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 4. September 2017, L 1 KR 305/17 B ER; SG Trier, Beschluss vom 4. September 2017, S 3 KR 143717 ER). Der Bescheid der Antragsgegnerin vom 18. April 2017 ist jedoch nicht erst nach Ablauf der 3- bzw. 5-Wochenfrist gemäß § 13 Abs. 3a SGB V ergangen. Maßgeblich für den Fristbeginn ist der Eingang eines fiktionsfähigen Antrags bei der Antragsgegnerin. Der am 13. März 2017 bei der Antragsgegnerin telefonisch gestellte Antrag war nicht hinreichend bestimmt, so dass ein fiktionsfähiger Antrag nicht vorlag. Hierfür hätte es unter anderem der Angabe des Behandlungszieles bedurft (vgl. BSG, Urteil vom 11. Juli 2017, B 1 KR 26/16 R, juris, Rn. 18). Der Antragsteller hat jedoch lediglich eine Kostenübernahme für Cannabis beantragt. Erst durch seine Angaben mit Schreiben vom 4. April 2017 und der Vorlage medizinischer Unterlagen ist ersichtlich geworden, weshalb der Antragsteller die Cannabisversorgung beantragt. Ob am 4. April 2017 ein fiktionsfähiger Antrag vorlag, kann hier dahinstehen, da die Antragsgegnerin den Antrag bereits am 18. April 2017 und damit innerhalb von 3 Wochen beschieden hat.“

Diesen überzeugenden Ausführungen schließt sich die Kammer an. Eine Genehmigungsfiktion ist nicht eingetreten.

Entgegen der zunächst im gerichtlichen Eilverfahren vertretenen Ansicht, ergibt sich ein Anspruch zudem nicht aus § 31 Abs. 6 SGB V. Die im Eilverfahren vertretene Ansicht gibt das Gericht auf.

Nach § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V haben Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon, wenn 
1.    eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung 
a) nicht zur Verfügung steht oder    
b) im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann
2.     eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht.

Die Leistung bedarf bei der ersten Verordnung für eine Versicherte oder einen Versicherten der nur in begründeten Ausnahmefällen abzulehnenden Genehmigung der Krankenkasse, die vor Beginn der Leistung zu erteilen ist (§ 31 Abs. 6 Satz 2 SGB V).

Die Voraussetzungen des § 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 a) SGB V sind nicht gegeben, da allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistungen zur Verfügung stehen. Hier sei insbesondere verwiesen auf die S3-Leitlinie „Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen“, Stand: 28. Februar 2016, insbesondere unter 3.8. „Entwöhnungsbehandlung und andere Formen der Postakutbehandlung“. Genannt wird dort u. a. auch die vom Kläger bislang abgelehnte stationäre Langzeittherapie sowie weitere ambulante, teilstationäre oder stationäre Maßnahmen, Psychotherapie, medikamentöse Therapie. Insbesondere eine stationäre Langzeittherapie wurde bisher nicht versucht und steht weiterhin zur Verfügung. Auch die beiden zuletzt genannten Maßnahmen wurden vom Kläger bisher nicht ausgeschöpft und lediglich kurzzeitig (¾ Jahr an Physiotherapie) bzw. vereinzelt (Therapieversuch mit einzelnen Medikamenten) durchgeführt. 

Die Voraussetzungen des § 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 b) SGB V sind ebenso wenig erfüllt. Hierzu hat das Hessische Landessozialgericht in seinem Beschluss vom 9. Oktober 2017 zum Aktenzeichen L 1 KR 338/17 ER ausgeführt:

„Mit dem o.g. Gesetz zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften soll Personen mit schwerwiegenden Erkrankungen (z.B. schwerwiegend erkrankte Schmerzpatienten, s. BT-Drucks. 18/8965 S. 13) nach entsprechender Indikationsstellung und bei fehlenden Therapiealternativen ermöglicht werden, die entsprechenden Arzneimittel zu therapeutischen Zwecken in standardisierter Qualität durch Abgabe in Apotheken zu erhalten. Zudem soll für Versicherte der gesetzlichen Krankenversicherung in eng begrenzten Ausnahmefällen ein Anspruch auf Versorgung mit diesen Arzneimitteln geschaffen werden (BT-Drucks. 18/8965, S. 23 und 18/10902, S. 2 sowie Bundesrat-Drucks. 233/16, S. 6 und 17). „Die Voraussetzung, dass eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung im Einzelfall nicht zur Verfügung steht, entspricht grundsätzlich derjenigen in § 2 Absatz 1a Satz 1. Den betroffenen Versicherten soll im Rahmen der ärztlichen Behandlung eine Möglichkeit eröffnet werden, nach Versagen empfohlener Therapieverfahren einen individuellen Therapieversuch zu unternehmen; bei Erfolg sollte die längerfristige Gabe eines Cannabisarzneimittels erwogen werden. Die gesetzliche Voraussetzung bedeutet nicht, dass eine Versicherte oder ein Versicherter langjährig schwerwiegenden Nebenwirkungen ertragen muss, bevor die Therapiealternative eines Cannabisarzneimittels genehmigt werden kann. Eine Ärztin oder ein Arzt soll Cannabisarzneimittel als Therapiealternative dann anwenden können, wenn sie oder er durch die Studien belegten schulmedizinische Behandlungsmöglichkeiten auch unter Berücksichtigung von Nebenwirkungen im Ausmaß einer behandlungsbedürftigen Krankheit, die mit überwiegender Wahrscheinlichkeit eintreten werden, ausgeschöpft hat. Dabei sind von der Ärztin oder dem Arzt allerdings auch die Nebenwirkungen von Cannabisarzneimitteln zu berücksichtigen. Die ebenfalls aus § 2 Absatz. 1a Satz 1 bekannte Voraussetzung, dass eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf bestehen muss, wurde um die nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf schwerwiegende Symptome ergänzt, da auch Konstellationen erfasst werden sollen, in denen mit dem cannabishaltigen Arzneimittel keine Grunderkrankung adressiert werden soll. Denkbar sind beispielsweise Fälle in denen eine Versicherte oder ein Versicherter im Rahmen einer onkologischen Erkrankung mit Chemotherapie an Appetitlosigkeit und Übelkeit leitet. Auch in diesen Fällen muss jedoch eine besondere Schwere der Symptome vorliegen.“ (BT-Drucks. 18/8965, S. 24).
Hieraus folgt, dass nur eine entsprechend substantiierte Begründung des behandelnden Vertragsarztes den Anforderungen gemäß § 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 b) SGB V genügt. Diese muss sich zum einen auf die schwerwiegende Erkrankung, den Krankheitsverlauf sowie die schwerwiegenden Symptome beziehen. Zum anderen ist detailliert darzulegen, weshalb eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung im Einzelfall unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann und eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht. Ist die Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes im Wesentlichen auf die Wiedergabe des Gesetzeswortlautes beschränkt, liegt eine begründete ärztliche Einschätzung gemäß § 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 SGB V nicht vor. Dies gilt auch dann, wenn der Arzt den Versicherten erst seit kurzer Zeit behandelt und seine Einschätzung sich lediglich auf Angaben des Versicherten sowie ärztliche Befundberichte über bereits Jahre zurückliegende Behandlungen stützt (zu den Anforderungen an die ärztlichen Darlegungen s.a. SG Düsseldorf, Beschluss vom 8. August 2017, S 27 K 698/17 ER, juris). 

Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts ist nicht dargetan, dass eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann, § 31 Abs. 6 Satz 1 b) SGB V.

Dr. C., der den Antragsteller erst seit dem 6. April 2017 behandelt, hat diesem keine anderen Vertragsleistungen angeboten. Er bezieht sich in seiner Einschätzung lediglich auf die Angaben des Antragstellers sowie auf Befundberichte von Ärzten, die den Antragsteller in den Jahren 2009 bis 2010 (Dr. H., Facharzt für Psychiatrie) bzw. 2010 bis 2012 (Allgemeinmediziner G.) behandelt haben. Eine stationäre Behandlung der Alkoholerkrankung des Antragstellers ist letztmalig im Jahr 2002 in der Vitos Klinik in E-Stadt erfolgt. Unterlagen hierzu hat der Antragsteller nicht vorgelegt und sind bei der Klinik nicht mehr vorhanden.

Weder die Alkoholerkrankung des Antragstellers noch dessen Abhängigkeit von Cannabis ist nach dem 7. März 2012 (letzter Behandlungstermin durch den Allgemeinmediziner G.) ärztlich behandelt worden. Erst unter dem 6. April 2017 hat sich der Antragsteller in die Behandlung von Dr. C. begeben. Hinsichtlich der zuvor erfolgten Behandlungen mit Medikamenten liegen nur wenige Angaben der behandelnden Ärzte vor. Nach dem Bericht des Mediziners G. hat der Antragsteller Amitriptylin im Jahr 2010 wegen Nebenwirkungen nicht toleriert. Dr. H. hat dies für das Jahr 2010 hinsichtlich Citalopram angegeben. Dr. C. hat die Angaben des Antragstellers hinsichtlich der Nebenwirkungen übernommen und keine weiteren in Betracht kommenden Medikamente (s. S3-Leitlinie „Sreening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen“, Stand: 28. Februar 2016) aufgeführt. Darüber hinaus hat Dr. C. hinsichtlich der dem Antragsteller empfohlenen Entgiftungstherapie (G.) bzw. der stationären Behandlung der Suchterkrankung (Dr. H.) lediglich angegeben, dass die Rückfallgefahr bei alternativen Behandlungsmethoden enorm sei.

Damit liegt keine begründete Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes Dr. C. dafür vor, dass eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Antragstellers nicht zur Anwendung kommen kann.

Wie die Antragsgegnerin unter Bezugnahme auf die Stellungnahmen des MDK zu Recht vorträgt, liegen damit die Voraussetzungen gemäß § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V nicht vor. Somit kann vorliegend dahinstehen, ob aus § 31 Abs. 6 Satz 2 SGB V, wonach die Leistung bei der ersten Verordnung der nur in begründeten Ausnahmefällen abzulehnenden Genehmigung bedarf, folgt, dass die Krankenkasse bei Vorliegen einer Verordnung darlegen und beweisen muss, dass eine Standardbehandlung gemäß § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V existiert bzw. geeignet ist (so Beck/Pitz in: jurisPK § 31 SGB V, Rn. 97.2).“

Diesen überzeugenden Ausführungen schließt sich die Kammer unter Aufgabe der im gerichtlichen Eilverfahren vertretenen Ansicht an. Hier ist inzwischen durch die Rechtsprechung (wie beispielsweise durch die oben genannte Entscheidung des Hessischen Landessozialgerichts) sowie die Gesetzeskommentierung genauer konkretisiert, welche Anforderungen an die begründete Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes zu stellen sind. Insbesondere ist erforderlich, dass der behandelnde Vertragsarzt im Rahmen eines Abwägungsprozesses, der nachvollziehbar darzulegen ist und auch die Nebenwirkungen des Cannabisarzneimittels einfließen lassen muss, zu dem Ergebnis kommt, dass die Standardtherapie nicht zur Anwendung kommen kann. Zusätzlich ist in diesen Fällen erforderlich, dass eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht. Es reicht hierbei nicht aus, die Annahme einer positiven Einwirkung nur auf Vermutungen zu stützen. Vielmehr sind Indizien im Sinne einer Minimalevidenz erforderlich (vgl. Pitz in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl., § 31 SGB V [Stand: 15.06.2020], Rn. 126, m.w.N.). Diesen Anforderungen wird die Einschätzung des Vertragsarztes Dr. C. nicht gerecht. Insbesondere thematisiert dieser mögliche Nebenwirkungen der Cannabis-Medikation und insbesondere das bei dem Kläger durch Dr. H. diagnostizierte Abhängigkeitssyndrom bei Gebrauch von Cannabis nicht. Alternative Therapieversuche wurden durch Dr. C. nicht unternommen. Die Einschätzung zu deren Unwirksamkeit stützt Dr. C. im Wesentlichen auf die Angaben des Klägers. Seine Annahme einer enormen Rückfallgefahr bei alternativen Behandlungsmethoden ist allgemein und nicht auf den speziellen Fall des Klägers bezogen. Dies ist nicht ausreichend. Im Übrigen wird auf die obigen Ausführungen des Hessischen Landessozialgerichts verwiesen.

Hinsichtlich der Einschätzung des Vertragsarztes wird jedoch diskutiert, ob diese bereits im Verwaltungsverfahren vorliegen muss (so das LSG NRW, Beschluss vom 25. Februar 2019 - L 11 KR 240/18 B ER -, Rn. 74, juris), ob diese im gerichtlichen Verfahren nachgeholt werden kann (so das SG Berlin, Urteil vom 4. Dezember 2019 - S 211 KR 1405/18 -, Rn. 22, juris) oder ob diese im gerichtlichen Verfahren durch die Einschätzung eines Sachverständigen in einem gerichtlichen Sachverständigengutachten ersetzt werden kann (ablehnend beispielsweise Schleswig-Holsteinisches LSG, Beschluss vom 26. Juni 2019 - L 5 KR 71/19 B ER -, Rn. 17, juris, m.w.N.). Dies kann jedoch vorliegend dahingestellt bleiben. Denn Dr. C. hat auch im Klageverfahren keine den oben genannten Anforderungen entsprechende Einschätzung abgegeben, noch könnte er eine solche abgeben. Denn der Kläger hat angegeben, seit der Entscheidung des Hessischen Landessozialgerichts im Jahr 2017 nicht mehr in ärztlicher Behandlung gewesen zu sein. Die oben genannten Defizite der Einschätzung von Dr. C. könnte dieser also gar nicht beheben. Denn auch weiterhin hätte dieser keine anderweitigen Therapieversuche unternommen und müsste seine Einschätzung weiterhin im Wesentlichen auf die Angaben des Klägers sowie die nur wenigen vorhandenen weiteren medizinischen Unterlagen aus den Jahren 2009 und 2010 stützen. Eine konkrete Einschätzung zu alternativen Behandlungsmethoden dürfte ihm ebenso wenig möglich sein. Gleiches gilt für ein gerichtliches Sachverständigengutachten. Auch ein Sachverständiger hätte lediglich die Angaben des Klägers sowie die oben aufgeführten medizinischen Unterlagen zur Verfügung, die als Grundlage für eine ärztliche Einschätzung nach den obigen Ausführungen nicht ausreichend wären. Weitere Erkenntnismöglichkeiten existieren nicht. 

Die Klage ist daher abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt das Unterliegen des Klägers.

Rechtskraft
Aus
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