1. Nach der gesetzlichen Konzeption sind in Werkstätten beschäftigte behinderte Menschen zwar nicht gleichsam automatisch als voll erwerbsgemindert anzusehen (vgl. § 43 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 SGB VI). Aus dem Auftrag der Werkstätten ergibt sich jedoch, dass die Menschen, die dort arbeiten, in aller Regel voll erwerbsgemindert sind. Dieser richtet sich nämlich gerade an behinderte Menschen, die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht, noch nicht oder nicht wieder auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt beschäftigt werden können (vgl. § 136 Abs. 1 Satz 2 SGB IX in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung bzw. § 219 Abs. 1 Satz 2 SGB IX in der seit dem 1. Januar 2018 geltenden Fassung). 2. Ohne eine tatsächliche Beitragsentrichtung kommt die Anerkennung von Beitragszeiten – abgesehen von den Fällen einer vermuteten oder fingierten Beitragszahlung – nicht in Betracht (vgl. BSG, Urteil vom 21. Oktober 2021 – B 5 R 23/21 R –, juris Rn. 17 m. w. N.).
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 31. Oktober 2018 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander auch für das Berufungsverfahren keine Kosten zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Im Streit steht ein Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung.
Der 1975 geborene Kläger leidet an den Folgen eines frühkindlichen Hirnschadens (postpartale Meningitis und Hydrocephalus, Zustand nach Shunt-Operation). Im Jahr 1980 stellte das Versorgungsamt bei ihm einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 fest. Bis zum 23. Juni 1993 besuchte der Kläger eine Schule mit dem Förderschwerpunkt „Geistige Entwicklung“.
Vom 9. August 1993 bis 30. Juni 1997 befand sich der Kläger im Jugendwerkheim W und vom 1. Juli 1997 bis 31. Juli 1999 im Förderbereich der B Werkstätten für Menschen mit Behinderung (BWB) GmbH. Das Jugendwerkheim W war in der Rstraße , B, unter der Trägerschaft des Landes B betrieben worden. Nach einer „Betriebsübernahme“ durch die BWB GmbH war die Einrichtung unter derselben Anschrift ab dem 1. Juli 1997 als Förderbereich der BWB GmbH fortgeführt worden. Wegen der Einzelheiten wird auf den Vertrag zwischen dem Land B und der BWB GmbH vom 27. / 30. Juni 1997 zur Betriebsübernahme des Jugendwerkheims W Bezug genommen.
Ab dem 4. Oktober 1999 war der Kläger sodann in einer von der BWB GmbH betriebenen Werkstatt für behinderte Menschen tätig, zunächst im Berufsbildungsbereich (4. Oktober 1999 bis 30. September 2001), anschließend im Arbeitsbereich (1. Oktober 2001 bis 30. September 2016). Seit dem 1. Oktober 2016 geht der Kläger keiner Tätigkeit mehr nach. Er bezieht Leistungen der Grundsicherung nach dem Vierten Kapitel des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch (SGB XII).
Im Versicherungskonto sind die Zeiten vom 4. Oktober 1999 bis zum Ausscheiden des Klägers aus der Werkstatt am 30. September 2016 – abgesehen lediglich von einer „Lücke“ von Januar bis August 2016 – als Beitragszeiten festgestellt. Vor dem 4. Oktober 1999 sind demgegenüber – mit Ausnahme der Zeiten der Schulausbildung nach vollendetem 17. Lebensjahr (25. August 1992 bis 23. Juni 1993) – keine rentenrechtlichen Zeiten vermerkt. Wegen der Einzelheiten wird auf den von der Beklagten vorgelegten Versicherungsverlauf (Stand: 11. September 2020) Bezug genommen.
Bereits im Oktober 2015 hatte der Kläger, vertreten durch seine zur Betreuerin bestellte Mutter, bei der Beklagten einen Antrag auf Rente wegen Erwerbsminderung gestellt.
Die Beklagte zog diverse medizinische Unterlagen bei und holte eine prüfärztliche Stellungnahme ein. Zwecks Klärung des Versicherungskontos im Zeitraum vom 9. August 1993 bis 31. Juli 1999 schrieb die Beklagte zudem die AOK an. Diese teilte unter dem 9. Dezember 2015 mit, dass sich eine Meldung des Klägers für diesen Zeitraum bei ihr nicht feststellen lasse.
Mit Bescheid vom 28. April 2016 lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab. Zur Begründung führte sie aus, dass der Kläger die Mindestversicherungszeit für eine Rente wegen Erwerbsminderung nicht erfülle. Der Kläger sei seit dem 24. August 1992 (Vollendung des 17. Lebensjahrs) voll erwerbsgemindert. Die allgemeine Wartezeit betrage 60 Monate. Sie müsse gemäß § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) vor Eintritt der Erwerbsminderung erfüllt sein, was hier aber nicht der Fall sei, weil das Versicherungskonto bis zum 24. August 1992 keinen Wartezeitmonat aufweise. Da der Kläger bereits vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit voll erwerbsgemindert gewesen sei, bestehe noch eine weitere Möglichkeit, den Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung zu erwerben, nämlich durch Zurücklegen einer Wartezeit von 240 Monaten (§ 43 Abs. 6 SGB VI i. V. m. § 50 Abs. 2 SGB VI). Das Versicherungskonto des Klägers enthalte bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt statt der erforderlichen 240 Monate jedoch nur 195 Wartezeitmonate; es fehlten also noch 45 Monate.
Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch. Er legte eine Bescheinigung der BWB GmbH vom 9. Mai 2016 vor. Darin heißt es, dass vom 9. August 1993 bis 31. Juli 1999 kein versicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis bestanden habe.
Mit Widerspruchsbescheid vom 5. August 2016 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Sie begründete ihre Entscheidung damit, dass der Kläger – wie sich aus der von ihm selbst vorgelegten Bescheinigung der BWB GmbH ergebe – im Zeitraum vom 9. August 1993 bis 31. Juli 1999 keine Beitragszeit zurückgelegt habe.
Ende August 2016 hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Berlin erhoben. Er hat geltend gemacht, dass sich sein Gesundheitszustand erst kurz vor der Rentenantragstellung verschlechtert habe. Zumindest bei der seit 1999 absolvierten Tätigkeit in einer Werkstatt für behinderte Menschen habe es sich um eine Erwerbstätigkeit mit einem wirtschaftlichen Mehrwert gehandelt. Eine volle Erwerbsminderung habe somit nicht vorgelegen. Insofern seien die Mindestversicherungszeiten erfüllt.
Das Sozialgericht hat die Schwerbehindertenakte beigezogen und hieraus gefertigte Kopien zur Gerichtsakte genommen. Außerdem hat das Sozialgericht Befundberichte von den behandelnden Ärzten des Klägers eingeholt und einen Entlassungsbericht des V Klinikums N vom 25. November 2016 beigezogen. Schließlich hat das Sozialgericht über den Gesundheitszustand und das Leistungsvermögen des Klägers Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des zum Sachverständigen bestellten Facharztes für Neurologie Dr. M. Dieser hat in seinem Gutachten vom 5. April 2018, ergänzt durch eine Stellungnahme vom 25. Mai 2018, ausgeführt, dass beim Kläger als Folge des frühkindlichen Hirnschadens eine geistige Retardierung, eine Halbseitenlähmung rechts sowie eine Epilepsie bestünden. Der Kläger sei außerstande, eine Tätigkeit von wirtschaftlichem Wert zu verrichten. Eine Leistungsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt habe aufgrund der schweren mentalen Retardierung zu keiner Zeit bestanden. Zu einer weiteren Verschlechterung des Gesundheitszustands sei es Ende Dezember 2014 gekommen. Bis dahin sei der Kläger leistungsfähig lediglich für Arbeiten unter geschützten Bedingungen gewesen. Auch dieses Leistungsvermögen sei nunmehr aufgehoben.
Mit Urteil vom 31. Oktober 2018 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Es hat ausgeführt, dass die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen des Anspruchs auf Rente wegen Erwerbsminderung nach § 43 SGB VI nicht gegeben seien. Der Kläger habe in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung nicht drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit zurückgelegt und nicht die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren erfüllt. Er sei – das Gericht stütze sich insoweit auf das sorgfältig und nachvollziehbar begründete Gutachten des Sachverständigen Dr. M – wegen eines frühkindlichen Hirnschadens und der dadurch bedingten Folgen zu keiner Zeit in der Lage gewesen, Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts wettbewerbsfähig zu verrichten. Aus der Tatsache, dass der Kläger in einer Werkstatt für behinderte Menschen beschäftigt gewesen sei und dort Pflichtbeitragszeiten zurückgelegt habe, ergebe sich nicht, dass er dort eine Tätigkeit von wirtschaftlichem Wert erbracht habe, denn gemäß § 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a SGB VI seien behinderte Menschen, die in anerkannten Werkstätten arbeiteten, zwar versicherungspflichtig in der gesetzlichen Rentenversicherung; gemäß § 1 Satz 4 der genannten Vorschrift gehörten sie jedoch nicht zu den Arbeitnehmern und Auszubildenden im eigentlichen Sinne, sondern würden als Beschäftigte „gelten“. Der Kläger erfülle auch nicht die Wartezeit von 20 Jahren (= 240 Monaten) nach § 43 Abs. 6 SGB VI. Statt der erforderlichen 240 Kalendermonate mit Beitragszeiten (§ 51 Abs. 1 SGB VI) habe er nur 195 Kalendermonate zurückgelegt.
Gegen das ihm am 14. November 2018 zugestellte Urteil hat der Kläger am 12. Dezember 2018 Berufung eingelegt, mit der er sein Begehren weiterverfolgt. Er trägt vor, dass sich den Akten nicht entnehmen lasse, um was für eine Art von Beschäftigung es sich bei der von ihm in der Zeit vom 9. August 1993 bis 31. Juli 1999 ausgeübten Tätigkeit gehandelt habe. Diese Zeit sei ebenfalls zu berücksichtigen bzw. seien zumindest weitere Ermittlungen nötig. Es sei kein Unterschied in der Beschäftigung vor und nach 1999 zu sehen. Er sei stets in der „Behindertenwerkstatt“ tätig gewesen. Selbst die Räumlichkeiten seien dieselben gewesen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 31. Oktober 2018 sowie den Bescheid der Beklagten vom 28. April 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 5. August 2016 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm ab 1. November 2015 Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie trägt vor, dass der Kläger während der Betreuung im Jugendwerkheim bzw. im Förderbereich der BWB GmbH vom 9. August 1993 bis 31. Juli 1999 nicht in einem Arbeitsverhältnis gestanden habe. Der Förderbereich der BWB GmbH stelle gewissermaßen die Vorstufe für die Mitarbeit in der Werkstatt dar. Hier würden die behinderten Menschen für ein mögliches Arbeitsverhältnis stabilisiert und vorbereitet. Sie erhielten während dieser Phase kein Entgelt. Beiträge würden ebenfalls nicht abgeführt. Vielmehr werde stattdessen eine Aufwandsentschädigung (Taschengeld) gezahlt.
Das Gericht hat Auskünfte von der BWB GmbH zur Tätigkeit des Klägers in den Zeiten vom 9. August 1993 bis 31. Juli 1999 (Jugendwerkheim W bzw. Förderbereich der BWB GmbH) und vom 4. Oktober 1999 bis 30. September 2016 (Werkstatt für behinderte Menschen) eingeholt. Wegen der Einzelheiten wird Bezug genommen auf den Inhalt der Schreiben der BWB GmbH vom 31. Juli, 14. August und 29. Oktober 2019 sowie vom 10. Dezember 2020 und 1. April 2021.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie den weiteren Inhalt der Gerichtsakte und auf die Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen, die dem Senat vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist zulässig, insbesondere ist sie statthaft (vgl. § 143 Sozialgerichtsgesetz – SGG) sowie nach § 151 SGG form- und fristgerecht eingelegt worden. Die Berufung ist jedoch unbegründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 28. April 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 5. August 2016 ist nicht zu beanstanden. Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung.
I. Grundlage eines Anspruchs auf Rente wegen Erwerbsminderung ist § 43 SGB VI. Danach haben Versicherte Anspruch auf Rente wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie voll bzw. teilweise erwerbsgemindert sind (§ 43 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bzw. Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI), in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (§ 43 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 bzw. Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI; sog. Drei-Fünftel-Belegung) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (§ 43 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 bzw. Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VI).
§ 43 Abs. 6 SGB VI eröffnet darüber hinaus Versicherten, die bereits vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit voll erwerbsgemindert waren und seitdem ununterbrochen voll erwerbsgemindert sind, den Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie die Wartezeit von 20 Jahren erfüllt haben.
Die Voraussetzungen des geltend gemachten Rentenanspruchs nach § 43 SGB VI sind hier jedoch nicht gegeben. Der Kläger hat weder vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt (dazu unter 1.) noch hat er die Wartezeit von 20 Jahren erfüllt (dazu unter 2.).
1. Die allgemeine Wartezeit beträgt gemäß § 50 Abs. 1 SGB VI fünf Jahre. Nach § 51 Abs. 1 SGB VI werden auf die allgemeine Wartezeit – abgesehen von den hier ersichtlich nicht vorhandenen Ersatzzeiten (§ 51 Abs. 4 SGB VI) – nur Kalendermonate mit Beitragszeiten angerechnet. Damit die Voraussetzungen des Rentenanspruchs verwirklicht sind, muss die allgemeine Wartezeit nach dem eindeutigen Wortlaut des § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI vor Eintritt der Erwerbsminderung erfüllt sein. Daran fehlt es hier. Beim Kläger liegt ein sog. eingebrachtes Leiden vor, weil er bereits seit dem Säuglingsalter an schwerwiegenden Gesundheitsschäden leidet. Er ist zeitlebens und ununterbrochen voll erwerbsgemindert und konnte somit die allgemeine Wartezeit vor Eintritt der Erwerbsminderung nicht erfüllen.
Voll erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Voll erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs. 2 Satz 3 SGB VI auch Versicherte nach § 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI, die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können (Nr. 1) sowie Versicherte, die bereits vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit voll erwerbsgemindert waren, in der Zeit einer nicht erfolgreichen Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt (Nr. 2). Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI). Erwerbsgemindert ist hingegen nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI).
Beim Kläger ist ununterbrochen der Tatbestand der vollen Erwerbsminderung erfüllt. Er war zu keinem Zeitpunkt in der Lage, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Dies ergibt sich zur Überzeugung des Senats aus der Gesamtheit der vorliegenden medizinischen Unterlagen, insbesondere auch aus dem Gutachten des Sachverständigen Dr. M vom 5. April 2018 (nebst ergänzender Stellungnahme vom 25. Mai 2018). Danach liegen beim Kläger als Folge der frühkindlichen Hirnschädigung eine geistige Retardierung, eine Halbseitenlähmung sowie eine Epilepsie vor. Den Ausführungen des Sachverständigen zufolge ist der Kläger schon bei einfachen Alltagstätigkeiten auf die Unterstützung von Bezugspersonen angewiesen. Eine verbale Kommunikation ist nur auf einfachstem Niveau möglich. Bereits nach minimalen Anforderungen und nach kurzer Zeitspanne kommt es zu einer Überforderung. Der rechte Arm des Klägers ist gebrauchsunfähig. Es besteht eine erhebliche Gehbehinderung. Nur kurze bis mittlere Strecken können langsam ohne Hilfsmittel bewältigt werden. Aufgrund von Orientierungsstörungen ist der Kläger auf Begleitung angewiesen. Wegen der epileptischen Anfälle gelten auch unter Medikation die epilepsietypischen Einschränkungen. Der Kläger ist laut Dr. M zu keiner Tätigkeit von wirtschaftlichem Wert imstande. Eine Leistungsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bestand aufgrund der schweren mentalen Retardierung zu keiner Zeit.
Der Senat sieht keinen Anlass, an den von Dr. M getroffenen Feststellungen und Schlussfolgerungen zu zweifeln. Der Sachverständige hat den Gesundheitszustand des Klägers aufgrund eigener Untersuchung sowie unter Berücksichtigung der zur Verfügung gestellten Unterlagen und des Beschwerdevortrags umfassend gewürdigt. Er hat auf dieser Grundlage schlüssig und sachgerecht das Leistungsvermögen des Klägers bewertet. Seine Ausführungen stehen im Einklang mit den übrigen medizinischen Unterlagen, und zwar auch insoweit, als es um die rückblickende Bewertung des Leistungsvermögens geht. In der beigezogenen Schwerbehindertenakte befinden sich Gutachten aus den Jahren 1980, 1984, 1988 und 1992 zu verschiedenen Fragestellungen (u. a. Feststellung des GdB sowie Gewährung von Pflegeleistungen). Sie belegen, dass die mit dem frühkindlichen Hirnschaden einhergehenden Funktionseinschränkungen von vornherein derart schwerwiegend waren, dass der Kläger zu keiner Zeit einer Erwerbstätigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts hätte nachgehen können.
Nichts anderes ergibt sich daraus, dass der Kläger von Oktober 1999 bis September 2001 im Berufsbildungsbereich sowie von Oktober 2001 bis September 2016 im Arbeitsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen gearbeitet hat. Ausweislich der Auskunft der BWB GmbH vom 14. August 2019 beteiligte sich der Kläger im Arbeitsbereich der Werkstatt an der Produktion und Verpackung von Schließzylindern. Er führte lediglich einfache Verrichtungen wie zum Beispiel das Abzählen von einzelnen Bestandteilen des Endprodukts aus. Dass es sich hierbei um eine Erwerbstätigkeit „unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts“ gehandelt haben könnte, ist nicht ersichtlich. Nach der gesetzlichen Konzeption sind in Werkstätten beschäftigte behinderte Menschen zwar nicht gleichsam automatisch als voll erwerbsgemindert anzusehen (vgl. § 43 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 SGB VI). Aus dem Auftrag der Werkstätten ergibt sich jedoch, dass die Menschen, die dort arbeiten, in aller Regel voll erwerbsgemindert sind. Dieser richtet sich nämlich gerade an behinderte Menschen, die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht, noch nicht oder nicht wieder auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt beschäftigt werden können (vgl. § 136 Abs. 1 Satz 2 SGB IX in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung bzw. § 219 Abs. 1 Satz 2 SGB IX in der seit dem 1. Januar 2018 geltenden Fassung). Im Falle des Klägers besteht kein ernsthafter Zweifel daran, dass dieser zeitlebens voll erwerbsgemindert war und auch weiterhin ist.
2. War der Kläger somit bereits vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit voll erwerbsgemindert, so kann sich ein Rentenanspruch nur ergeben, wenn er gemäß § 43 Abs. 6 SGB VI die Wartezeit von 20 Jahren (= 240 Monaten) erfüllt hat. Dies ist indes nicht der Fall.
Ebenso wie bei der allgemeinen Wartezeit werden auf die Wartezeit von 20 Jahren Kalendermonate mit Beitragszeiten angerechnet (§ 51 Abs. 1 SGB VI). Nach dem von der Beklagten vorgelegten Versicherungsverlauf sind lediglich 196 Kalendermonate (statt der erforderlichen 240 Monate) mit Beitragszeiten belegt; es fehlen also 44 Monate.
Neben den bereits im Versicherungskonto erfassten Beitragszeiten sind keine weiteren Beitragszeiten vorhanden, insbesondere kann die Zeit vom 9. August 1993 bis 31. Juli 1999, die der Kläger im Jugendwerkheim W bzw. in der Nachfolgeeinrichtung – dem Förderbereich der BWB GmbH – verbracht hat, nicht als Beitragszeit anerkannt werden.
Beitragszeiten sind gemäß § 55 Abs. 1 Satz 1 SGB VI Zeiten, für die nach Bundesrecht Pflichtbeiträge (Pflichtbeitragszeiten) oder freiwillige Beiträge gezahlt worden sind. Nach § 55 Abs. 1 Satz 2 SGB VI sind Pflichtbeitragszeiten auch Zeiten, für die Pflichtbeiträge nach besonderen Vorschriften als gezahlt gelten.
Sowohl Pflichtbeiträge als auch freiwillige Beiträge müssen materiell und formell wirksam entrichtet werden, damit die Beitragszeiten ihre Wirkung entfalten können (Flecks, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, § 55 Rn. 22). Eine formell und materiell wirksame Beitragszahlung liegt vor, wenn die Beiträge entsprechend ihrer rechtlichen Bestimmung (als freiwillige Beiträge oder Pflichtbeiträge) tatsächlich gezahlt werden (vgl. §§ 197 ff. SGB VI). Dies bedeutet, dass ohne eine tatsächliche Beitragsentrichtung eine Anerkennung von Beitragszeiten – abgesehen von den hier nicht einschlägigen Fällen einer vermuteten oder fingierten Beitragszahlung – nicht in Betracht kommt (vgl. BSG, Urteil vom 21. Oktober 2021 – B 5 R 23/21 R –, juris Rn. 17 m. w. N.).
Ausgehend hiervon ist die Zeit vom 9. August 1993 bis 31. Juli 1999 nicht als Beitragszeit anzuerkennen. In diesem Zeitraum sind tatsächlich keine Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung im Sinne von § 55 Abs. 1 Satz 1 SGB VI gezahlt worden. Dies behauptet letztlich auch der Kläger nicht. Die von der BWB GmbH erteilten Auskünfte bestätigen, dass man dort davon ausging und auch weiterhin ausgeht, dass im fraglichen Zeitraum keine Versicherungspflicht des Klägers bestand. Deshalb wurden auch keine Beiträge gezahlt und sind – folgerichtig – im Versicherungskonto keine Beitragszeiten vermerkt. Hiermit im Einklang steht die Auskunft der AOK (als Einzugsstelle) vom 9. Dezember 2015, wonach sich eine Meldung des Klägers für den in Frage stehenden Zeitraum nicht feststellen lässt.
Ob der Kläger gegen die Einzugsstelle – als Inhaberin einer möglicherweise bestehenden Beitragsforderung – einen Anspruch darauf hat, dass diese von dem ggf. nach § 168 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI zahlungspflichtigen Einrichtungsträger Beiträge für den oben genannten Zeitraum einzieht (vgl. zu den Voraussetzungen eines solchen Anspruchs gegen die Einzugsstelle BSG, Urteil vom 13. August 1996 – 12 RK 76/94 –, SozR 3-2400 § 25 Nr. 6, juris Rn. 28), bedarf hier keiner Klärung, weil dies nicht Streitgegenstand im vorliegenden Verfahren ist.
II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
III. Die Revision war nicht zuzulassen, weil keine Gründe nach § 160 Abs. 2 SGG vorliegen.