L 9 KR 262/20

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 208 KR 565/19
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 9 KR 262/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 9. Juni 2020 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Gründe

 

I.

 

Der Kläger begehrt im Berufungsverfahren die Kostenübernahme für Cannabis in Gestalt von sativa oder indigo 5 g pro Woche.

 

Der 1968 geborene Kläger bezieht existenzsichernde Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) vom Bezirksamt Charlottenburg von Berlin. Die Beklagte übernimmt im Rahmen des Auftragsverhältnisses die Krankenbehandlung des Klägers (§ 264 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch – SGB V).

 

Der Kläger beantragte unter Übersendung eines ärztlichen Attestes des Facharztes für Innere Medizin F vom 15. Mai 2018 bei der Beklagten die Kostenübernahme für die Versorgung mit Cannabis. Gemäß dem ärztlichen Attest bestehe ein Diabetes mellitus und ein somatoformes Schmerzsyndrom bei bestehender Angsterkrankung. Da viele Analgetika bisher nicht den gewünschten Erfolg erbracht hätten und teilweise auch nicht vertragen worden seien, halte der Arzt eine Therapie mit Cannabis für erforderlich. Die Beklagte lehnte die Kostenübernahme ab, da die tatbestandlichen Voraussetzungen nicht erfüllt seien (Bescheid vom 28. Mai 2018). Mit seinem Widerspruch machte der Kläger geltend, dass therapeutische Alternativen nicht mehr verfügbar seien, die Begründung seines behandelnden Arztes in dem Attest erscheine konkret genug, um einen begründeten Ausnahmefall im Sinne des Gesetzes zu belegen. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 13. Februar 2019 als unbegründet zurück. Eine leitlinien-gerecht ausgeschöpfte Behandlung der Schmerzen gemäß dem WHO-Stufenschema könne nicht nachvollzogen werden. Es bestünden sowohl medikamentöse als auch nicht medikamentöse alternative Behandlungsformen; eine ärztliche Begründung, warum diese nicht zum Einsatz kämen, liege nicht vor.

 

Der Kläger hat am 15. März 2019 Klage zum Sozialgericht Berlin erhoben und die Kostenübernahme für Cannabis sativa beantragt. Das Cannabis werde benötigt, um Schmerzen entgegenzuwirken und dem Grauen Star vorzubeugen, welcher durch die Nebenwirkungen des täglich wegen des Diabetes mellitus konsumierten Medikaments Metformin 1000 mg verursacht werde. Die gesundheitlichen Risiken der verschreibungspflichtigen Analgetika stünden in keinem Verhältnis zu dem möglichen Nutzen. Zu den Nebenwirkungen zählten Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Leberschäden, Nierenversagen etc., außerdem erfordere ein Gewöhnungseffekt die Einnahme immer höherer Dosen.

 

Das Sozialgericht einen Befundbericht des Arztes F eingeholt. Wegen der Einzelheiten wird auf den Befundbericht des Arztes vom 1. September 2019 Bezug genommen. Das Sozialgericht hat den Kläger bereits am 24. Oktober 2019 darauf hingewiesen, dass eine ärztliche Verordnung für das begehrte Cannabis nicht vorliege. Der Kläger hat auf das ärztliche Attest von Herrn F verwiesen, aus diesem gehe eindeutig hervor, dass die Notwendigkeit und die Indikationsvoraussetzungen für das begehrte Medizinalcannabis in vollem Umfange erfüllt seien.

 

Mit Urteil vom 9. Juni 2020 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Die gesetzlichen Voraussetzungen für einen Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon gemäß §  31 Abs. 6 Satz 1 SGB V seien nicht erfüllt. Die Kammer könne insbesondere nicht feststellen, dass im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärzte/Vertragsärztinnen unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Versicherten eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung für ihn nicht zur Anwendung kommen könne. Der Kläger klage über krampfartige Schmerzen vor allem in Armen und Beinen. Gemäß dem Befundbericht des ihn seit 2014 behandelnden Internisten F lägen Befunde für diese Symptome nicht vor. Es gehe dementsprechend um eine symptomatische Behandlung, für diese stehe jedenfalls eine medikamentöse Schmerztherapie zur Verfügung. Es sei nicht feststellbar, dass der Kläger die entsprechenden schmerzlindernden Arzneimittel in einem solchen Umfang eingenommen habe, der den Schluss erlaube, er vertrage sie nicht oder sie entfalteten keine entsprechende Wirkung. Vielmehr habe der behandelnde Internist angegeben, dem Kläger überhaupt keine Schmerzmittel verordnet zu haben. Die Erkrankungen, wegen derer der Kläger bei ihm in Behandlung sei, bedürften keiner Schmerzmittelgabe. Andere Ärzte, die die Verabreichung von Schmerzmitteln und oder deren Wirkungen bestätigen könnten, habe der Kläger dem Sozialgericht nicht benannt. In den Jahren 2014-2018 sei dem Kläger ausweislich der bei der Beklagten vorhandenen Behandlungsdaten lediglich einmal im Februar 2015 ein Schmerzmittel verordnet worden (Diclofenac ratiopharm 75 mg SL). Die Nutzung verschiedenster Schmerzmittel lasse sich demgemäß für die Kammer nicht feststellen. Gleiches gelte für ihre Wirkungen, insbesondere das Erzeugen von unerwünschten Nebenwirkungen. Ohne solche Nachweise könne ein Bedarf für das begehrte Cannabis nicht erkannt werden. Außerdem kämen andere Möglichkeiten, etwa auch Heilmittel oder zunächst eine die Symptome erklärende Diagnostik, ebenfalls in Betracht. § 31 Abs. 6 SGB V solle nach der Gesetzesbegründung Versicherten ermöglichen, bei Versagen etablierter Behandlungsmöglichkeiten einen Therapieversuch mit cannabishaltigen Arzneimitteln zu unternehmen. Ein solches Versagen sei im Fall des Klägers nicht erkennbar.

 

Gegen dieses ihm am 6. Juli 2020 zugestellte, zuvor am 9. Juni 2020 bereits verkündete Urteil hat der Kläger bereits am 17. Juni 2020 Berufung eingelegt.

 

Der Kläger ist der Auffassung, ohne eine Kostenzusage seitens des Gerichts könne er die vom Senat angeforderte ärztliche Verordnung nicht vorlegen; außerdem könne er nicht vor Ablauf von zwölf Wochen einen ärztlichen Vorstellungstermin erhalten und benötige eine Fristverlängerung von 16 Wochen (Schriftsatz vom 19. September 2020).

 

Der Kläger beantragt sinngemäß,

 

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 9. Juni 2020 sowie den Bescheid der Beklagten vom 28. Mai 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Februar 2019 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Kosten für die Versorgung mit Cannabis sativa oder Cannabis indigo gemäß ärztlicher Verordnung von wöchentlich 5 g zu übernehmen.

 

Die Beklagte beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.

 

Wegen des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird im Übrigen auf den Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten Bezug genommen, der, soweit wesentlich, Gegenstand der Entscheidungsfindung war.

 

II.

 

Der Senat darf über die Berufung nach Anhörung der Beteiligten durch Beschluss entscheiden, weil er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält (§ 153 Abs. 4 Satz 1 und 2 Sozialgerichtsgesetz [SGG]).

 

Die Berufung des Klägers ist zulässig, jedoch unbegründet. Wegen der Einzelheiten nimmt der Senat Bezug auf die zutreffend begründete erstinstanzliche Entscheidung (§ 153 Abs. 2 SGG). Zu ergänzen und zu betonen bleibt unter Berücksichtigung des klägerischen Berufungsvorbringens:

 

Ein Anspruch des Klägers scheitert bereits daran, dass er – auch auf gerichtliche Aufforderung – dem Senat keine ärztliche Verordnung vorgelegt hat. Diese wäre aber Voraussetzung für die Kostenübernahme durch die Beklagte. Nach § 31 Abs. 6 Satz 2 SGB V bedarf die Leistung „bei der ersten Verordnung“ für eine Versicherte oder einen Versicherten der nur in begründeten Ausnahmefällen abzulehnenden Genehmigung der Krankenkasse, die vor Beginn der Leistung zu erteilen ist. Zur Überzeugung des Senates ist die (vertrags-)ärztliche Verordnung tatbestandliche Voraussetzung für die Genehmigung der Beklagten. Dies ergibt sich aus dem Wortlaut des § 31 Abs. 6 Satz 2 SGB V, der sie explizit erwähnt, wie auch dem Sinn und Zweck. Der Anspruch auf Arzneimittel als Sachleistung der gesetzlichen Krankenversicherung bedarf allgemein einer vertragsärztlichen Verordnung (Beschluss des Senats im Beschwerdeverfahren gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Verfahren vom 18. August 2020 – L 9 KR 297/20 B PKH, zur Notwendigkeit der ärztlichen Verordnung vgl. LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 26. November 2018 – L 11 KR 3464/18 ER-B –, Rn. 16, juris; Nolte, in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, 111. EL September 2020, SGB V § 31 Rn. 75g; a.A. LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 6. März 2018 - L 5 KR 16/18 B ER, juris, Überblick zum Streitstand bei: Bischofs, in: BeckOK SozR, 59. Ed. 1.12.2020, SGB V § 31 Rn. 96a).

 

Soweit der Kläger sich im Berufungsverfahren außerstande sieht, eine ärztliche Verordnung beizubringen, weil diese ohne vorherige Kostenzusage nicht zu erhalten sei, ist der Vortrag nicht überzeugend. Die Erstellung einer vertragsärztlichen Verordnung gehört zu den Pflichten der Vertragsärzte/-ärztinnen, die aus der vertragsärztlichen Zulassung folgen. Sie gehört zu ihrem Versorgungsauftrag                 (§ 73 Abs. 2 Nr. 7 SGB V). Das gilt auch für die Verordnung von Cannabis-haltigen Arzneimitteln, die erst seit dem 10. März 2017 mit Einfügung von § 31 Abs. 6 SGB V zum Leistungsspektrum der gesetzlichen Krankenkassen gehören. Seither sind die Ärzte nicht mehr darauf beschränkt, eine privatärztlichen Verordnung zu erstellen. Die Vergütung hierfür wird von der Gesamtvergütung, welche an die Kassenärztliche Vereinigung zur Abgeltung aller vertragsärztlichen Leistungen entrichtet wird, erfasst (§ 85 Abs. 1 SGB V). Daraus folgt, dass Vertragsärzte/Vertragsärztinnen von Versicherten wie auch diesen leistungsrechtlich gleichgestellten Personen wie dem Kläger für das Ausstellen einer Verordnung keine (weitere) Gegenleistung verlangen dürfen (Freudenberg, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl. 2020, § 85 SGB V [Stand: 15.06.2020], Rn. 17). Das gilt auch dann, wenn die vertragsärztliche Verordnung in einem laufenden Klage- oder Berufungsverfahren angefordert wird. Die Einhaltung der vertragsärztlichen Pflicht wird abgesichert durch §  128 Abs. 5a, 2. Halbsatz SGB V, wonach Vertragsärzte, die Versicherte zur Inanspruchnahme einer privatärztlichen Versorgung anstelle der ihnen zustehenden Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung beeinflussen, gegen ihre vertragsärztlichen Pflichten verstoßen.

 

Der Kläger hat im Berufungsverfahren ausreichend Zeit erhalten, die vertragsärztliche Verordnung nachzureichen. Die von ihm am 19. September 2020 beantragte Fristverlängerung von 16 Wochen wurde gewährt, ist aber ergebnislos verstrichen.

 

Allein auf das ärztliche Attest des behandelnden Arztes F kann sich der Kläger nicht berufen. Dieses stellt keine Verordnung, aber auch keine „begründete Einschätzung“ i.S. des § 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b SGB V dar. Der behandelnde Arzt hat es laut seinem dem Sozialgericht gegenüber erstatteten Befundbericht abgelehnt, eine vertragsärztliche Verordnung für die Versorgung des Klägers mit Cannabis auszustellen, weil er die nötige Erfahrung für diese Therapie nicht habe. Daraus ergibt sich deutlich, dass er die Verantwortung für diese Therapie gerade nicht übernimmt. §  31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b SGB V stellt aber die Übernahme ärztlicher Verantwortung in den Mittelpunkt, wenn dort einerseits die ärztlich begründete Einschätzung als für den Leistungsanspruch ausreichend betrachtet wird und nach der Intention des Gesetzes dem verordnenden Arzt dabei sogar eine Einschätzungsprärogative zukommt (vgl. näher Beschluss des Senates vom 27. Mai 2019 – L 9 KR 72/19 B ER, Rn. 7, juris). Dies setzt aber andererseits und spiegelbildlich dazu voraus, das aus einer ärztlichen Einschätzung unmissverständlich hervorgeht, dass der Arzt/die Ärztin die ärztliche Verantwortung für die Cannabis-Versorgung auch übernimmt. Es kann angesichts dieses Befundes mangels eines bestehenden Anspruchs offen bleiben, ob die Erweiterung des Klagebegehrens auf die Cannabis-Sorte „indigo“ im Berufungsverfahren zulässig ist.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht (§ 160 Abs. 2 SGG).

 

Rechtskraft
Aus
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