1. § 7 Abs. 1 Sätz 4 und 5 SGB II setzten nicht voraus, dass der Betreffende fünf Jahre ununterbrochen nach dem BMG im Bundesgebiet gemeldet ist 2. Tatbestandlich erforderlich ist lediglich ein fünfjähriger gewöhnlicher Aufenthalt im Bundesgebiet seit (erster) Anmeldung.
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Sachausspruch des Beschlusses des Sozialgerichtes Berlin vom 3. August 2021 – S 37 AS 4793/21 ER – neu gefasst. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller für den Zeitraum vom 29. Juli 2021 bis zum 31. Juli 2021 99,60 Euro sowie für die Monate August bis Dezember 2021 monatlich jeweils 446,00 Euro zu gewähren. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die Hälfte der außergerichtlichen Kosten beider Verfahrenszüge zu erstatten.
G r ü n d e :
Die Beschwerde des Antragsgegners vom 4. August 2021 gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 3. August 2021 wird aus den zutreffenden Gründen der angefochtenen Entscheidung zurückgewiesen, § 142 Abs. 2 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Das Sozialgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass nach der Anmeldung des Antragstellers, eines französischen Staatsbürgers, bei der zuständigen Meldebehörde im April 2013, also vor über fünf Jahren, eine ununterbrochene Meldung nach dem Bundesmeldegesetz (BMG) nicht erforderlich ist, um Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) Zweites Buch (II) zu erhalten.
Ergänzend ist lediglich Folgendes anzumerken:
1. Nach § 7 Abs. 1 Sätze 4 und 5 SGB II erhalten Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen (unter weiteren Voraussetzungen) Leistungen nach diesem Buch, wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben; dies gilt nicht, wenn der Verlust des Rechts nach § 2 Absatz 1 des Freizügigkeitsgesetzes/EU festgestellt wurde. Die Frist nach Satz 4 beginnt mit der Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde.
Soweit die Auffassung vertreten wird, es komme in § 7 Abs. 1 Satz 5 SGB II auf eine durchgängige Meldung bei der Meldebehörde im 5-Jahres-Zeitraum an, vermag dies nicht zu überzeugen (wie hier etwa Landessozialgerichts [LSG] Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11. Mai 2020 – L 18 AS 1812/19 –; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 3. Juli 2020 – L 8 SO 73/20 B ER –; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 23. April 2018 – L 7 AS 2162/17 B ER –; jeweils Juris; Geiger, in: Münder/Geiger, SGB II, 7. Aufl. 2021, § 7 Rn. 42; a. A. etwa LSG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 31. Mai 2021 – L 5 AS 457/21 B ER – und vom 4. Mai 2020, L 31 AS 602/20 B ER; jeweils Juris).
Nach § 7 Abs. 1 Satz 5 SGB II beginnt die 5-Jahres-Frist mit der Anmeldung. Eine Frist wird durch ein einmaliges Ereignis ausgelöst. Dass die fristauslösende Bedingung während des gesamten Laufs der Frist (ausnahmsweise) dauerhaft vorliegen muss, lässt sich dem Wortlaut der Bestimmung nicht entnehmen. Für eine wortlauterweiternde Auslegung besteht kein Anlass. Aus der Systematik des Gesetzes folgt, dass in § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II geregelt wird, welche gesetzlichen Voraussetzungen während der fünf Jahre stets gegeben sein müssen. Es hätte nahe gelegen, das vermeintliche Erfordernis einer melderechtlichen Kontinuität hier mitaufzunehmen. Dies ist aber gerade nicht geschehen. Statt dessen regelt Satz 5 allein, wann der fünfjährige Zeitraum für die gesetzlichen Voraussetzungen des Satzes 4, der seinerseits zum Melderecht schweigt, beginnt. Zudem wäre es schwer zu erklären, dass § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II tatbestandlich einen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet verlangt, wenn es gleichzeitig und zusätzlich Tatbestandsmerkmal wäre, dass der Betreffende sich während der gesamten fünf Jahre melderechtskonform und kontinuierlich gemeldet im Bundesgebiet aufgehalten hat, weil ein solches kontinuierliches, rechtmäßiges Gemeldetsein im Bundesgebiet mit einem gewöhnlichem Aufenthalt im Bundesgebiet regelmäßig einhergeht.
Der Einwand, über den Wortlaut hinaus setze die Bestimmung eine fortwährende Meldung während der gesamten Dauer der Fünfjahresfrist voraus, weil andernfalls eine gesetzliche Regelung zu erwarten gewesen wäre, welche Anmeldung bei mehrfachen Anmeldungen (und zwischenzeitlicher „meldeloser“ Zeit des gewöhnlichen Aufenthalts in Deutschland) für den Beginn der Fünfjahresfrist maßgeblich ist, geht fehl. Es ist nicht ersichtlich, dass insoweit Unklarheit besteht. Zu einer zwischenzeitlichen Abmeldung kann es etwa kommen, wenn der zuvor Meldepflichtige sich aufgrund besonderer persönlicher Beziehungen bei einem Wohnungsinhaber in dessen Wohnung eine vorübergehende Zeit aufhält, ohne hierfür ein Entgelt zu entrichten; eine allgemein anerkannte zeitliche Beschränkung des Besuchsrechts existiert nicht. Ein solcher Besuch löst keine Anmeldepflicht aus. Es liegt auf der Hand, dass bei einer späteren Neuanmeldung auf die älteste Anmeldung abzustellen ist. Nachdem die Frist einmal dokumentiert zu laufen begonnen hat, kommt es allein darauf an, dass die Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen ihren gewöhnlichen Aufenthalt fünf Jahre im Bundesgebiet hatten.
Dass eine melderechtliche Abmeldung die mangelnde Verbindung zu Deutschland dokumentiert (so LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 4. Mai 2020 - L 31 AS 602/20 B ER -, Juris Rn. 5), die ihrerseits Voraussetzung für eine Aufenthaltsverfestigung und den Lauf der 5-Jahres-Frist ist, verfängt ebenfalls nicht. Der die Abmeldepflicht auslösende Tatbestand ist das Ausziehen aus einer Wohnung ohne Bezug einer neuen Wohnung im Inland. Der Auszug aus einer Wohnung kann indes zu einem nachfolgenden gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland ohne Wohnung und ohne Meldepflicht nach dem BMG führen. Dass Personen, die aufgrund besonderer persönlicher Beziehungen bei Freunden wohnen, oder auch Wohnungslose eine mangelnde Verbindung zu Deutschland aufweisen, kann jedoch nicht ernsthaft angenommen werden. Eine Abmeldung in einem solchen Fall belegt vielmehr im Gegenteil, dass der Betreffende sich rechtstreu verhält und seinen gesetzlichen Pflichten nach dem BMG nachkommt. Vorliegend hat der Antragsteller sich seit 2013 sechs Mal bei Berliner Behörden ordnungsrechtlich angemeldet, was erfahrungsgemäß mit besonderem Aufwand und einigen Schwierigkeiten verbunden ist. Diese Meldungen waren teilweise unterbrochen durch Zeiten, in denen der Antragsteller nach summarischer Prüfung bei Freunden gewohnt hat. Für einen derartigen Aufenthalt sieht das BMG eine Anmeldung nicht vor. Es bedarf aber keiner näheren Begründung, dass durch das vorübergehende Wohnen bei Freunden in Berlin der zuvor bereits dokumentiert verfestigte Aufenthalt des französischen Antragstellers in Deutschland sich nicht wieder gewissermaßen „entfestigt“ hat.
Aus dem Charakter als Ausnahmevorschrift, der ebenfalls zur Begründung einer vermeintlichen fünfjährigen melderechtlichen Kontinuitätspflicht herangezogen wird, mag zwar häufig eine enge Auslegung einer Norm folgen, obschon es keineswegs zwingend ist, dass Ausnahmen anders (nämlich enger) ausgelegt werden als die zugrundeliegende Regel. Vorliegend ist jedoch zu berücksichtigen, dass die europarechtlich vorgegebene Regel § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II ist (verkürzt: leistungsberechtigt sind alle erwerbsfähigen Personen mit gewöhnlichem Aufenthalt in Deutschland), der aus § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II folgende Leistungswegfall für bestimmte Ausländergruppen mit allen seinen tatbestandlichen Voraussetzungen die Ausnahme darstellt. Die (vermeintlich) enge Auslegung der hier in Rede stehenden 5-Jahres-Frist führt jedoch im Ergebnis dazu, dass der Anwendungsbereich der Ausnahmevorschrift des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht nur nicht verkleinert, sondern sogar vergrößert wird, so dass die Gegenansicht ihrem eigenen Anspruch, die Ausnahmen eng zu halten, nicht gerecht wird, sondern, folgte man ihr, die Ausnahmevorschrift sogar häufiger angewendet werden müsste.
Dass das Grundgesetz nicht die Gewährung voraussetzungsloser Sozialleistungen gebietet, wie die Gegenansicht zur Begründung weiter ausführt (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 31. Mai 2021 – L 5 AS 457/21 B ER –, Juris Rn. 8), wird wohl niemand bestreiten. Doch damit wird von vornherein überhaupt keine Aussage darüber getroffen, wie die Voraussetzungen des Gesetzes im Einzelnen genau zu verstehen sind. Falls gemeint sein sollte, dass gesetzliche Voraussetzungen von Sozialleistungen stets möglichst eng auszulegen seien, kann dem unter Geltung des Sozialstaatsgebots nach Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz nicht gefolgt werden. Eine entsprechende Auslegungsregel gibt es nicht.
2. Allerdings sind hier die Kosten der Unterkunft ab August 2021 nicht zu erstatten. Der Antragsteller lebt (unstreitig) nicht mehr in der Unterkunft, deren voraussichtliche Kosten er im Rahmen des Leistungsbezuges von dem Antragsgegner erstattet bekommen wollte. Dadurch ist der Bedarf nach § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II für die von dem Antragsteller bewohnte Wohnung entfallen. Denn dieser Bedarf setzt materiell Aufwendungen für die konkrete Unterkunft voraus, das heißt, für die von einem Leistungsempfänger tatsächlich genutzte Wohnung müssen Kosten entstehen. Dies ist hier jedoch, wie dargelegt, nicht der Fall. Der Antragsteller ist aus der Wohnung im A, einem möblierten Wohnwagen, ausgezogen und hat ab August 2021 für diese Unterkunft keine Miete mehr entrichtet, so sein eigener Vortrag. Eine Verpflichtung des Antragsgegners zur Erstattung dieser Miete scheidet naturgemäß aus.
Soweit der Antragsteller vorgetragen hat, ihm seien später Kosten der Unterbringung in einer Notunterkunft für Wohnungslose entstanden, fehlt es jedenfalls an einem Anordnungsgrund. Denn es ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass ihm dort ohne sofortige finanzielle Leistung des Antragsgegners ein Verbleib nicht möglich ist.
3. Von einer Beiladung anderer Jobcenter oder eines oder mehrerer Sozialleistungsträgers nach dem SGB XII hat der Senat abgesehen. Es hätte sich um eine einfache Beiladung nach § 75 Abs. 1 Satz 1 SGG gehandelt, die im Ermessen des Gerichts steht. Eine Beiladung erst in der Beschwerdeinstanz hätte jedoch das einstweilige Rechtsschutzverfahren verzögert, obwohl die Beschwerde entscheidungsreif ist. Eine solche Verzögerung geriete in Spannung mit dem Anspruch auf ein zügiges Verfahren, schon weil nicht klar ist, ob der Antragsteller sich wegen der verfahrensneuen Kosten der Unterkunft bereits an einen der möglichen Beigeladenen gewandt hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar, § 177 SGG.