1. Verfahrensverlängerungen, die darauf zurückzuführen sind, dass das Ver-fahren (weiterhin) geruht hat, obwohl objektiv kein Ruhensgrund (mehr) vor-lag, fallen zumindest auch in den Verantwortungsbereich des Gerichts und sind somit dem Staat zuzurechnen. 2. Das Verhalten der Beteiligten, das ggf. darin besteht, weder einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens zu stellen noch von sich aus das Gericht überhaupt über den Wegfall des Ruhensgrundes zu benachrichtigen, ent-bindet das Gericht nicht von der rechtsstaatlichen Plicht, ein zügiges Verfah-ren sicherzustellen (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 05.08.2013 – 1 BvR 2965/10 – juris Rn. 25; EGMR, Urteil vom 11.01.2007 – 20027/02 – juris Rn. 78). 3. Die dem Staat zurechenbare gerichtliche Untätigkeit beginnt jedenfalls dann, wenn das Ausgangsgericht keine Kontrollmechanismen wie etwa regelmäßi-ge Wiedervorlagen eingerichtet hat, die es ihm ermöglichen, den Wegfall des Ruhensgrundes in angemessener Zeit zu bemerken, mit dem auf den Weg-fall folgenden Monat. 4. Der Umstand, dass die Beteiligten erheblich zur Verlängerung des Verfah-rens beigetragen haben, weil sie – obwohl ihnen der Wegfall des Ruhens-grundes bekannt war – das Gericht hierüber nicht informiert haben, kann bei der Frage zu berücksichtigen sein, ob die Wiedergutmachung des eingetre-tenen immateriellen Nachteils auf andere Weise im Sinne von § 198 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 4 GVG in Betracht kommt.
Es wird festgestellt, dass das vor dem Sozialgericht P zunächst unter dem Aktenzeichen S 41 AS 1837/14 und zuletzt unter dem Aktenenzeichen S 24 AS 1294/19 WA geführte Klageverfahren eine unangemessene Dauer aufgewiesen hat. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Der Beklagte trägt ein Drittel, der Kläger zwei Drittel der Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt Entschädigung wegen überlanger Dauer des vor dem Sozialgericht (SG) P zunächst unter dem Aktenzeichen S 41 AS 1837/14 und zuletzt unter dem Aktenenzeichen S 24 AS 1294/19 WA geführten Verfahrens.
Der Kläger ist Volljurist und bezog Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II). Zwischen 2009 und 2019 führte er eine Vielzahl von sozialgerichtlichen Verfahren gegen das Jobcenter (JC) Landeshauptstadt Potsdam.
In dem Ausgangsverfahren wurde über die Höhe der Leistungen nach dem SGB II für die Zeiträume von Februar bis Juli 2012, August 2012 bis Januar 2013, Februar bis Juli 2013, August 2013 bis Januar 2014 sowie August 2014 bis Januar 2015 gestritten, u. a. im Hinblick auf die Berücksichtigung von Einnahmen aus Untermietverhältnissen als Einkommen.
Dem Ausgangsverfahren lag folgender Sachverhalt zugrunde:
30.07.2014 |
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04.08.2014 |
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29.09.2014 |
WV des Verfahrens bei der Kammervorsitzenden, Verfristung um 1 Monat |
03.11.2014 |
Erinnerung des JC an Klageerwiderung und Aktenübersendung, Frist: 2 Wochen |
04.11.2014 |
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07.11.2014 (ab: 24.11.2014) |
Hinweis an JC, dass sich der Verwaltungsvorgang dort befinden müsste |
08.12.2014 |
WV des Verfahrens bei der Kammervorsitzenden; Verfügung: „z. F. von S 41 AS 422/14“ |
29.12.2014 |
Eingang der Klageerwiderung des JC vom 23.12.2014 mit Bezugnahme auf den Inhalt des Verwaltungsvorgangs und die Ausführungen in den Widerspruchsbescheiden; beigefügt als Anlage: 5 Bände Verwaltungsakten |
02.01.2015 |
Weiterleitung an Kläger zur Kenntnisnahme |
01/2015 |
Abgabe des Verfahrens an die 24. Kammer gemäß Präsidiumsbeschluss 01/2015; neues Aktenzeichen S 24 AS 1837/14 |
19.01.2015 |
Mitteilung des neuen Aktenzeichens an Beteiligte |
09.04.2015 |
Ladung zur mündlichen Verhandlung am 13.05.2015 |
13.05.2015 |
Mündliche Verhandlung
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09.08.2019 |
Eingang des Schriftsatzes des Klägers vom selben Tag:
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19.08.2019 |
Verfügung: Wiederaufnahme des Verfahrens unter neuem Aktenzeichen S 24 AS 1294/19 WA |
26.08.2019 |
Eingang des Schriftsatzes des Klägers vom 25.08.2019 mit Auflistung der Aktenzeichen von diversen Klageverfahren aus den Jahren 2010 bis 2019, u. a. auch von dem Ausgangsverfahren; Vortrag: Er könne nicht ausmachen, welche der genannten Verfahren erledigt seien, und bitte um Sachstandsmitteilung; in Ergänzung seiner Verzögerungsrüge vom 09.08.2019 weise er nun ausdrücklich auf die genannten Verfahren hin |
27.08.2019 |
|
30.08.2019 |
Ladung zur mündlichen Verhandlung am 01.10.2019 |
03.09.2019 |
Mitteilung an Kläger, welche der von ihm bei Gericht anhängigen Verfahren erledigt seien. |
30.09.2019 |
Verlegung des Termins zur mündlichen Verhandlung auf den 16.10.2019 |
15.10.2019 |
Beschluss: Trennung der Streitsachen; Fortführung des Verfahrens unter dem hiesigen Aktenzeichen (S 24 AS 1224/19 WA) nur noch bezogen auf den Bewilligungszeitraum von Februar bis Juli 2012; für die weiteren 4 Bewilligungszeiträume Fortführung unter neuen Aktenzeichen (S 24 AS 1621/19 WA, S 24 AS 1622/19 WA, S 24 AS 1623/19 WA und S 24 AS 1624/19 WA) |
16.10.2019 |
Durchführung der mündlichen Verhandlung: Beendigung des Verfahrens durch Vergleich |
Am 03.12.2019 hat der Kläger beim LSG Berlin-Brandenburg Prozesskostenhilfe in Vorbereitung einer Entschädigungsklage wegen überlanger Dauer des Ausgangsverfahrens beantragt. Der Senat hat dem Kläger Prozesskostenhilfe hinsichtlich eines Entschädigungsanspruchs in Höhe von 2.100,- € bewilligt (Beschluss vom 01.03.2021, dem Kläger zugestellt am 09.03.2021).
Am 12.03.2021 hat der Kläger die Entschädigungsklage beim LSG „in dem von der Prozesskostenhilfebewilligung abgedeckten Umfang“ eingereicht. Die Klage ist dem Beklagten am 24.03.2021 zugestellt worden.
Der Kläger meint, die Zeit des Ruhens des Ausgangsverfahrens sei als entschädigungspflichtige Verzögerung zu werten. Zur Begründung dieser Auffassung trägt er vor:
Der Ruhensbeschluss des SG vom 13.05.2015 sei rechtswidrig gewesen. Das Ausgangsverfahren sei zum Zeitpunkt des Erlasses dieses Beschlusses dem Grunde nach entscheidungsreif gewesen. Das SG sei nicht gezwungen gewesen, die Entscheidung des LSG abzuwarten. In den seinerzeit beim LSG anhängigen Verfahren (Aktenzeichen u. a. L 18 AS 724/13) seien andere Bewilligungszeiträume streitig gewesen, sodass die dort noch ausstehenden Entscheidungen keine unmittelbare Wirkung für die vom SG zu treffende Entscheidung gehabt hätten. Das SG hätte die Entscheidung des LSG auch nicht abwarten dürfen. In Deutschland seien Richter an die Rechtsprechung der Gerichte höherer Instanzen nicht gebunden, weshalb das SG selbst im Falle einer Entscheidung des LSG nicht umhingekommen wäre, über den Ausgangsrechtsstreit einzig und allein nach seiner eigenen Auffassung zu entscheiden. Einen Grund, weshalb es am 13.05.2015 nicht habe entscheiden können und weshalb das Verfahren ruhen solle, habe das SG nicht genannt. Außerdem fehle dem Beschluss die vom Gesetz geforderte Abwägung. Bevor das Gericht das Ruhen des Verfahrens anordne, müsse es nach § 251 Zivilprozessordnung (ZPO) prüfen, ob ein „wichtiger“ Grund vorliege und ob die Anordnung „zweckmäßig“ sei. Hierbei komme dem Ausgangsgericht zwar ein – vom Entschädigungsgericht zu respektierender – Beurteilungs- bzw. Ermessensspielraum zu; im vorliegenden Fall sei dem Ruhensbeschluss jedoch nicht zu entnehmen, dass das SG die Tatbestandsmerkmale des § 251 ZPO überhaupt geprüft habe, weshalb von einem Beurteilungs- / Ermessensfehler auszugehen sei, der dazu führe, dass die Phase des Ruhens des Ausgangsverfahrens eine entschädigungspflichtige Verzögerung darstelle. Auch wenn das Ruhen des Ausgangsverfahrens dem Sitzungsprotokoll zufolge von den Beteiligten übereinstimmend beantragt worden sei, so sei dieser Antrag nicht wirklich freiwillig gewesen. Der Ruhensantrag sei vielmehr auf „Anregung“ des SG gestellt worden, da dieses deutlich gemacht habe, dass es ohnehin die Entscheidung des LSG abwarten würde. Unabhängig hiervon habe das SG seine prozessuale Fürsorgepflicht verletzt, weil es das Ruhen des Verfahrens angeordnet habe, ohne das tatsächliche Begehren der Beteiligten zu ermitteln. Auch wenn er (der Kläger) schon seinerzeit über eine juristische Ausbildung verfügt habe, sei dem SG bekannt gewesen, dass er über keine einschlägige Berufs- und keine Prozesserfahrung verfügt habe. Deshalb habe das SG nicht erwarten können, dass er in der mündlichen Verhandlung spontan den Unterschied zwischen einer Aussetzung und einem Ruhen des Verfahrens kenne und überblicken könne, was es bedeute, wenn das Ruhen des Verfahrens angeordnet werde, und ob dies tatsächlich notwendig sei. Hätte das SG das den Ruhensanträgen zugrunde liegende Begehren ermittelt, so hätte es erfahren, dass jedenfalls er davon ausgegangen sei, dass das LSG in angemessener Zeit entscheiden würde. Insofern sei zu beachten, dass er zwar dem Ruhen des Verfahrens zugestimmt habe, nicht aber einem „ewigen Ruhen“.
Selbst wenn man von der anfänglichen Rechtmäßigkeit des Ruhensbeschlusses ausgehen wollte, habe das SG jedenfalls dadurch rechtswidrig gehandelt, dass es kein einziges Mal geprüft habe, ob das Verfahren fortzusetzen sei. Insbesondere habe es niemals geprüft, ob es in Anbetracht der Verzögerungen noch „wichtig“ und „zweckmäßig“ sein könne, das Verfahren mit Blick auf den Beschleunigungsgrundsatz weiter ruhen zu lassen. Je länger das Verfahren ruhe, desto wahrscheinlicher werde es, dass die Beteiligten nicht mehr an das Verfahren dächten und sich ihr ursprünglich erklärtes Einverständnis überholt habe. Je länger das Verfahren insgesamt dauere, desto mehr verdichte sich die Pflicht des Gerichts, sich nachhaltig um eine Beschleunigung des Verfahrens und dessen Beendigung zu bemühen. Bei der von Amts wegen vorzunehmenden Prüfung, ob das Verfahren weiter ruhen solle, komme dem Ausgangsgericht zwar wiederum ein Beurteilungs- bzw. Ermessenspielraum zu. Wenn es – wie hier – eine solche Prüfung aber gar nicht vornehme, liege ein Beurteilungs- und
Ermessensausfall vor, der dazu führe, dass die Ruhensphase entschädigt werden müsse.
Spätestens im Februar 2017 hätte das SG das Verfahren fortsetzen müssen. Zu diesem Zeitpunkt habe der Ruhensbeschluss seine Wirkung verloren, da alle beim LSG anhängigen Verfahren von ihm im Januar 2017 abgeschlossen worden seien.
Schließlich sei zu beachten, dass die beim LSG anhängigen Verfahren ihrerseits spätestens ab Januar 2015 verzögert gewesen seien, wodurch es zu einer entschädigungspflichtigen Verzögerung auch im Ausgangsverfahren gekommen sei. Zwar habe er für die unangemessene Dauer des zuletzt beim LSG geführten Rechtsstreits bereits eine Entschädigung erhalten, diese sei aber für die Überlänge eben dieses Verfahrens gezahlt worden und nicht für Verzögerungen im – eigenständig zu entschädigenden – streitgegenständlichen Ausgangsverfahren.
Der Kläger beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, ihm wegen unangemessener Dauer des vor dem Sozialgericht P zunächst unter dem Aktenzeichen S 41 AS 1837/14 und zuletzt unter dem Aktenenzeichen S 24 AS 1294/19 WA geführten Klageverfahrens eine Entschädigung zu zahlen, deren Höhe in das Ermessen des Gerichts gelegt wird, die aber nicht weniger als 2.099,- € betragen soll, zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er ist der Auffassung, dass dem Kläger kein Anspruch auf Entschädigung zustehe. Im Ausgangsverfahren sei lediglich eine geringe Dauer gerichtlicher Inaktivität festzustellen, und zwar von Januar bis März 2015, insgesamt also 3 Kalendermonate. Unter Berücksichtigung der den Gerichten regelmäßig je Instanz zustehenden Vorbereitungs- und Bedenkzeit von 12 Monaten werde durch diese Verzögerung kein Entschädigungsanspruch begründet. Die Zeit des förmlichen Ruhens des Ausgangsverfahrens sei keine Zeit einer entschädigungspflichtigen gerichtlichen Inaktivität. Der Kläger habe bewusst und ausdrücklich das Ruhen des Ausgangsverfahrens beantragt. Als Volljurist, der eine Vielzahl von Gerichtsverfahren führe, sei dem Kläger auch ohne besonderen richterlichen Hinweis bekannt gewesen, dass er das Ruhen des Verfahrens mit einer einfachen Mitteilung gegenüber dem Gericht hätte beenden können. Dies habe er jedoch unterlassen, sodass die Zeit des Ruhens ausschließlich ihm zuzurechnen sei. Ein „Dulde und Liquidiere“ solle nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers durch die Entschädigungsregelungen gerade nicht ermöglicht werden.
Die Beteiligten haben sich unter dem 06.01.2022 (Beklagter) bzw. dem 08.01.2022 (Kläger) mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen, den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte und auf die Akten des Ausgangsverfahrens verwiesen, die dem Senat vorgelegen haben und Gegenstand der Beratung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Der nach § 201 Abs. 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) sowie § 202 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), jeweils in der Fassung des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (GRüGV) vom 24.11.2011 (BGBl. I, S. 2302) und des Gesetzes über die Besetzung der großen Straf- und Jugendkammern in der Hauptverhandlung und zur Änderung weiterer gerichtsverfassungsrechtlicher Vorschriften sowie des Bundesdisziplinargesetzes vom 06.12.2011 (BGBl. I, S. 2554) für die Entscheidung über die Entschädigungsklage zuständige Senat konnte über diese nach § 201 Abs. 2 Satz 1 GVG i. V. m. §§ 202 Satz 2, 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, nachdem die Beteiligten hierzu unter dem 06. bzw. 08.01.2022 ihr Einverständnis erteilt hatten.
Die Klage ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang auch begründet.
I. Die Entschädigungsklage ist als allgemeine Leistungsklage (§ 54 Abs. 5 SGG) statthaft und auch im Übrigen zulässig. Dass der Kläger die Klagefrist des § 198 Abs. 5 Satz 2 GVG nicht eingehalten hat, kann ihm nicht entgegengehalten werden. Zwar bestimmt § 198 Abs. 5 Satz 2 GVG ausdrücklich, dass die Klage spätestens sechs Monate nach Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung, die das Ausgangsverfahren beendet, oder einer anderen Erledigung des Ausgangsverfahrens erhoben werden muss. Die Versäumung dieser Frist ist jedoch unbeachtlich, wenn der Kläger – wie hier – noch vor Ablauf der Klagefrist einen Prozesskostenhilfeantrag gestellt hat und sodann – ebenfalls wie hier – unmittelbar nach der Bewilligung von Prozesskostenhilfe Klage erhebt. Einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bedarf es in diesen Fällen nicht (vgl. zum Ganzen BSG, Urteil vom 10.07.2014 – B 10 ÜG 8/13 R – juris Rn. 12).
II. In der Sache hat die Klage nur teilweise Erfolg. Der Kläger hat gegen den Beklagten keinen Anspruch auf Entschädigung in Geld wegen des erlittenen immateriellen Nachteils. Ausreichend ist vielmehr eine Wiedergutmachung auf andere Weise, nämlich durch die Feststellung des Senats, dass die Verfahrensdauer unangemessen war.
Nach § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG wird angemessen entschädigt, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet. Ein Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, wird gemäß § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG vermutet, wenn ein Gerichtsverfahren unangemessen lange gedauert hat. Hierfür kann Entschädigung nur beansprucht werden, soweit nicht nach den Umständen des Einzelfalls Wiedergutmachung auf andere Weise ausreichend ist (§ 198 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 4 SGG). Eine Entschädigung erhält ein Verfahrensbeteiligter gemäß § 198 Abs. 3 Satz 1 GVG nur dann, wenn er bei dem mit der Sache befassten Gericht die Dauer des Verfahrens gerügt hat (Verzögerungsrüge).
1. Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 09.08.2019, ergänzt durch Schriftsatz vom 25.08.2019, eine ordnungsgemäße Verzögerungsrüge in Bezug auf das Ausgangsverfahren erhoben. Jedenfalls durch den letztgenannten Schriftsatz wird hinreichend deutlich, dass sich die Verzögerungsrüge auf das streitgegenständliche Ausgangsverfahren bezieht.
2. Die Dauer des Ausgangsverfahrens war im Umfang von 21 Monaten unangemessen.
Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich gemäß § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens sowie nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter.
a) Den Ausgangspunkt der Angemessenheitsprüfung bildet die in § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG definierte Gesamtdauer des Gerichtsverfahrens von seiner Einleitung bis zu seinem rechtskräftigen Abschluss. Das streitgegenständliche Ausgangsverfahren wurde mit Erhebung der Klage am 30.07.2014 eingeleitet und fand seine Erledigung durch den Abschluss eines Vergleichs am 16.10.2019. Es erstreckte sich mithin über 5 Jahre und rund 3 Monate.
b) Das Verfahren wies eine leicht überdurchschnittliche Bedeutung sowie eine durchschnittliche Schwierigkeit auf. Zugleich war es überdurchschnittlich komplex.
Die Bedeutung des Verfahrens ergibt sich zum einen aus der allgemeinen Tragweite der Entscheidung für die materiellen und ideellen Interessen der Beteiligten. Entscheidend ist zudem, ob und wie sich der Zeitablauf nachteilig auf die Verfahrensposition eines Klägers und das geltend gemachte materielle Recht sowie möglicherweise auf seine weiteren geschützten Interessen auswirkt (BSG, Urteil vom 03.09.2014 – B 10 ÜG 2/13 R – juris Rn. 29). Der Kläger begehrte höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II, wobei – bis zum Trennungsbeschluss vom 15.10.2019 – ein mehrere Bewilligungsabschnitte umfassender und demnach vergleichsweise langer Zeitraum im Streit stand. Letztlich war aber auch dieses Verfahren nur eines von vielen, die der Kläger gegen das JC führte. Durch den Zeitablauf drohten ihm keine weitergehenden Nachteile. Eine mehr als leicht überdurchschnittliche Bedeutung kann dem Ausgangsverfahren bei einer solchen Sachlage nicht beigemessen werden.
Das Verfahren war durchschnittlich schwierig. Angesichts der Vielzahl der weiteren vom Kläger geführten Rechtsstreitigkeiten und der damit einhergehenden Probleme, insbesondere die einzelnen Verfahren in sinnvollen Zusammenhängen zu verhandeln und zu entscheiden, war die Verfahrensführung jedoch erheblich erschwert und hatte eine überdurchschnittliche Komplexität des Verfahrens zur Folge.
c) Über die in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG ausdrücklich genannten Kriterien hinaus hängt die Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer wesentlich davon ab, ob dem Staat zurechenbare Verhaltensweisen des Gerichts zur Überlänge des Verfahrens geführt haben. Maßgeblich sind Verzögerungen, also sachlich nicht gerechtfertigte Zeiten des Verfahrens, insbesondere aufgrund von Untätigkeit des Gerichts (ständige Rechtsprechung, siehe z. B. BSG, Urteile vom 03.09.2014 – B 10 ÜG 2/13 R und B 10 ÜG 12/13 R – Rn. 34 bzw. Rn. 41, vom 12.02.2015 – B 10 ÜG 7/14 R – Rn. 35 und vom 07.09.2017 – B 10 ÜG 1/16 R – Rn. 38, jeweils zitiert nach juris).
Für die Beurteilung, ob eine überlange Verfahrensdauer vorliegt, sind aktive und inaktive Zeiten der Bearbeitung gegenüberzustellen, wobei kleinste relevante Zeiteinheit zur Berechnung der Überlänge stets der Monat im Sinne des Kalendermonats ist (BSG, Urteile vom 12.02.2015 – B 10 ÜG 11/13 R – Rn. 34 und 07.09.2017 – B 10 ÜG 3/16 R – Rn. 24, jeweils zitiert nach juris). Dabei sind dem Ausgangsgericht gewisse Vorbereitungs- und Bedenkzeiten, die regelmäßig je Instanz 12 Monate betragen, als angemessen zuzugestehen, selbst wenn sie nicht durch konkrete Verfahrensförderungsschritte als begründet und gerechtfertigt angesehen werden können (BSG, Urteil vom 03.09.2014 – B 10 ÜG 2/13 R – juris Rn. 46). Angemessen bleibt die Gesamtverfahrensdauer in Hauptsacheverfahren regelmäßig zudem dann, wenn sie den genannten Zeitraum überschreitet, aber insoweit auf vertretbarer aktiver Verfahrensgestaltung des Gerichts beruht oder durch Verhalten des Klägers oder Dritter verursacht wird, die das Gericht nicht zu vertreten hat (BSG, Urteil vom 03.09.2014 – B 10 ÜG 2/13 R – juris Rn. 27 und 47). Dabei ist zu beachten, dass eingereichte Schriftsätze, die einen gewissen Umfang haben und sich inhaltlich mit Fragen des Verfahrens befassen, generell eine Überlegungs- und Bearbeitungszeit beim Gericht auslösen, die mit einem Monat zu Buche schlägt (BSG, Urteil vom 03.09.2014 – B 10 ÜG 12/13 R – juris Rn. 57). Weiter ist zu berücksichtigen, dass die Übersendung eines Schriftsatzes, z. B. eines Gutachtens, einer gutachtlichen Stellungnahme oder auch der Berufungserwiderung an die Beteiligten zur Kenntnis stets die Möglichkeit zur Stellungnahme beinhaltet. Die Entscheidung des Gerichts, im Hinblick auf eine mögliche Stellungnahme zunächst nicht weitere Maßnahmen zur Verfahrensförderung zu ergreifen, unterliegt grundsätzlich noch seiner Entscheidungsprärogative und ist – mit Ausnahme unvertretbarer oder schlechthin unverständlicher Wartezeiten – durch das Entschädigungsgericht nicht als Verfahrensverzögerung zu bewerten (BSG, Urteil vom 07.09.2017 – B 10 ÜG 1/16 R – juris Rn. 43).
Das Entschädigungsverfahren eröffnet keine weitere Instanz, um das Handeln des Ausgangsgerichts einer rechtlichen Vollkontrolle zu unterziehen. Bei der Beurteilung der Prozessleitung des Ausgangsgerichts hat das Entschädigungsgericht vielmehr die materiell-rechtlichen Annahmen, die das Ausgangsgericht seiner Verfahrensleitung und -gestaltung zugrunde legt, nicht infrage zu stellen, soweit sie nicht geradezu willkürlich erscheinen. Zudem räumt die Prozessordnung dem Ausgangsgericht ein weites Ermessen bei seiner Entscheidung darüber ein, wie es das Verfahren gestaltet und leitet. Die richtige Ausübung dieses Ermessens ist vom Entschädigungsgericht allein unter dem Gesichtspunkt zu prüfen, ob das Ausgangsgericht bei seiner Prozessleitung Bedeutung und Tragweite des Menschenrechts aus Art 6 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) bzw. des Grundrechts Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) in der konkreten prozessualen Situation hinreichend beachtet und fehlerfrei gegen das Ziel einer möglichst richtigen Entscheidung abgewogen hat (BSG, Urteil vom 03.09.2014 – B 10 ÜG 2/13 R – Rn. 36).
Mit Blick auf den Ablauf des streitgegenständlichen Ausgangsverfahrens ist festzustellen, dass – nachdem im Juli 2014 die Klage eingegangen war – eine erste Verzögerung im Oktober 2014 (1 Kalendermonat) eingetreten ist. In diesem Monat ist keinerlei gerichtliche Aktivität zu verzeichnen, insbesondere hat das SG das JC nicht an die Klageerwiderung erinnert, obwohl die von ihm hierfür gesetzte Frist bereits im September 2014 abgelaufen und ein weiteres Zuwarten nicht mehr vertretbar war. Von November 2014 bis einschließlich Januar 2015 hat das SG dem Verfahren demgegenüber wieder Fortgang gegeben. Es hat das JC nunmehr an die Klageerwiderung erinnert (November 2014), diese ist schließlich eingegangen (Ende Dezember 2014) und wurde kurz danach an den Kläger zur Kenntnisnahme weitergeleitet (Anfang Januar 2015). Zu einer erneuten Verzögerung ist es im Februar und März 2015 (2 Kalendermonate) gekommen. Das SG durfte in diesen Monaten nicht davon absehen, weitere Verfahrensförderungsschritte in die Wege zu leiten. Es war nicht damit zu rechnen, dass der Kläger von der Möglichkeit Gebrauch machen würde, zu der Klageerwiderung Stellung zu nehmen, da in dieser lediglich auf den Inhalt der Verwaltungsvorgänge und die Ausführungen in den Widerspruchsbescheiden Bezug genommen worden war.
Anschließend hat das SG das Verfahren wieder aktiv gefördert, indem es im April 2015 einen Termin zur mündlichen Verhandlung für den 13.05.2015 bestimmt und diesen sodann auch durchgeführt hat.
In dem Termin zur mündlichen Verhandlung am 13.05.2015 hat das SG das Ruhen des Ausgangsverfahrens angeordnet, worauf das Verfahren von Juni 2015 bis einschließlich Juli 2019 nicht bearbeitet wurde, bis es im August 2019 wieder aufgenommen wurde. Diese Verfahrensruhe ist teilweise, nämlich in Bezug auf die Phase von Juni 2015 bis Januar 2017, als sachlich gerechtfertigt anzusehen. Demgegenüber ist die Phase von Februar 2017 bis Juli 2019 (30 Kalendermonate) als dem Staat zurechenbare Untätigkeit des Gerichts zu werten.
Grundsätzlich stellen Zeiten, in denen das Ausgangsverfahren förmlich ruht, keine entschädigungsrelevanten Verzögerungen dar, unabhängig davon, ob der Ruhensantrag auf eine gerichtliche Anregung oder auf die Initiative der Beteiligten zurückgeht (Senatsurteil vom 06.12.2013 – L 37 SF 69/12 EK KA – juris Rn. 76; ebenso LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 15.05.2013 – L 2 SF 1534/12 EK – juris Rn. 59 sowie LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 19.09.2018 – L 11 SF 362/17 EK KR – juris Rn. 40). Gemäß § 202 Satz 1 SGG i. V. m. § 251 Satz 1 ZPO ist die Anordnung des Ruhens nur auf Antrag der Beteiligten möglich. Derartige Anträge haben die Beteiligten des Ausgangsverfahrens in der mündlichen Verhandlung vor dem SG am 13.05.2015 gestellt. Durch die notwendigen Anträge der Beteiligten wird klargestellt, dass der Stillstand des Verfahrens – im Gegensatz zum Falle des bloßen „Liegenlassens der Akten“ durch das Gericht – vom Willen der Beteiligten getragen wird.
Neben entsprechenden Anträgen der Beteiligten setzt die Anordnung des Ruhens des Verfahrens gemäß § 202 Satz 1 SGG i. V. m. § 251 Satz 1 ZPO allerdings voraus, dass diese Anordnung wegen des Schwebens von Vergleichsverhandlungen oder aus sonstigen wichtigen Gründen zweckmäßig ist. Insofern steht es nicht alleine zur Disposition der Beteiligten, das Verfahren zum Ruhen zu bringen. Vielmehr hat das Gericht die Zweckmäßigkeit der Verfahrensruhe im Hinblick auf den jeweiligen Ruhensgrund zu prüfen. Liegen die Voraussetzungen für eine Ruhensanordnung vor, steht diese nicht im Ermessen des Gerichts. Das Gericht „hat“ das Ruhen des Verfahrens anzuordnen, wenn es zweckmäßig und übereinstimmend beantragt worden ist, sodass es sich hierbei um eine gebundene Entscheidung handelt (OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 08.03.2011 – OVG 2 L 7.11 – juris Rn. 7). Lediglich die Prüfung der Zweckmäßigkeit eröffnet einen Einschätzungsspielraum (BSG, Beschluss vom 17.12.2015 – B 2 U 132/15 B – juris Rn. 9). Das Gericht kann in Konsequenz das Verfahren jederzeit von Amts wegen fortsetzen; dies geschieht, wenn die Fortdauer des Ruhens nicht mehr zweckmäßig ist (Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, Vor § 114 Rn. 4).
Aus dem zuvor Gesagten folgt zugleich, dass Verfahrensverlängerungen, die darauf zurückzuführen sind, dass das Verfahren (weiterhin) geruht hat, obwohl objektiv kein Ruhensgrund (mehr) vorlag, zumindest auch in den Verantwortungsbereich des Gerichts fallen und somit dem Staat zuzurechnen sind (vgl. zu Verzögerungen infolge von Aussetzungsentscheidungen BSG, Urteil vom 03.09.2014 – B 10 ÜG 2/13 R – juris Rn. 40 ff.). Das Verhalten der Beteiligten, das ggf. darin besteht, weder einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens zu stellen noch von sich aus das Gericht überhaupt über den Wegfall des Ruhensgrundes zu benachrichtigen, entbindet das Gericht nicht von der rechtsstaatlichen Plicht, ein zügiges Verfahren sicherzustellen (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 05.08.2013 – 1 BvR 2965/10 – juris Rn. 25; EGMR, Urteil vom 11.01.2007 – 20027/02 – juris Rn. 78). Wohl aber kann der Umstand, dass die Beteiligten erheblich zur Verlängerung des Verfahrens beigetragen haben, weil sie – obwohl ihnen der Wegfall des Ruhensgrundes bekannt war – das Gericht hierüber nicht informiert haben, bei der Frage zu berücksichtigen sein, ob die Wiedergutmachung des eingetretenen immateriellen Nachteils auf andere Weise im Sinne von § 198 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 4 GVG in Betracht kommt (dazu weiter unten).
Angesichts des aufgezeigten weiten prozessualen Gestaltungsspielraums des Ausgangsgerichts ist der Zeitraum des Ruhens des Verfahrens, soweit es um die Phase von Juni 2015 bis einschließlich Januar 2017 geht, als sachlich gerechtfertigt anzusehen. Der vom SG beschlossenen Verfahrensruhe lag die Überlegung zugrunde, dass die Ergebnisse der seinerzeit beim LSG Berlin-Brandenburg anhängigen, vom Kläger geführten Parallelverfahren nach deren Abschluss für das streitgegenständliche Ausgangsverfahren fruchtbar gemacht werden können. Gestützt auf diese prozessökonomische Erwägung durfte das SG den Ausgang der anderen Verfahren abwarten. Selbst in Fällen, in denen eine förmliche Ruhensanordnung nicht ergeht, kann ein Zuwarten auf Ergebnisse oder Ermittlungen in einem parallelen Verfahren als Zeit der aktiven Bearbeitung anzusehen sein, wenn zu erwarten ist, dass in einem solchen Verfahren Erkenntnisse gewonnen werden, die auch für das Ausgangsverfahren relevant sind, oder wenn die Beteiligten diesem Vorgehen ausdrücklich zustimmen (BSG, Urteil vom 03.09.2014 – B 10 ÜG 12/13 R –, juris Rn. 47; Senatsurteil vom 25.02.2016 – L 37 SF 128/14 EK AL – juris Rn. 44). Erst recht muss dies gelten, wenn das Ausgangsgericht auf Antrag der Beteiligten das Ruhen des Verfahrens nach § 202 Satz 1 SGG i. V. m. § 251 Satz 1 ZPO beschließt und damit eine rechtliche Basis dafür schafft, dass es zunächst nicht weiter tätig wird.
Der Senat hat nicht zu prüfen, ob der Ruhensbeschluss rechtswidrig war. Die Beteiligten des Ausgangsverfahrens haben von der seinerzeit bestehenden Möglichkeit, gegen den Beschluss Beschwerde einzulegen oder sofort die Wiederaufnahme des Verfahrens zu beantragen, keinen Gebrauch gemacht. Wie bereits ausgeführt, ist es nicht Aufgabe des Entschädigungsgerichts, das Handeln des Ausgangsgerichts einer rechtlichen Vollkontrolle zu unterziehen. Dem Beschluss vom 13.05.2015 ist eindeutig zu entnehmen, welcher Grund der Anordnung des Ruhens des Verfahrens zugrunde lag. Allein dies ist maßgebend, weil der Senat hierdurch in die Lage versetzt wird, den Ablauf des Ausgangsverfahrens in entschädigungsrechtlicher Hinsicht zu würdigen.
Die Anordnung des Ruhens des Verfahrens war nicht willkürlich. Der Senat teilt insoweit nicht die Befürchtung des Klägers, dass das SG das Ruhen des Verfahrens angeordnet haben könnte, ohne die Tatbestandsmerkmale des § 251 Satz 1 ZPO zu prüfen. Aus dem Ruhensbeschluss vom 13.05.2015 ergibt sich, aus welchem Grund das SG die Zweckmäßigkeit der Verfahrensruhe bejaht hat. Es obliegt auch nicht dem Senat, aufgrund einer eigenen materiell-rechtlichen Prüfung zu bewerten, ob das Ausgangsverfahren bereits im Mai 2015 entscheidungsreif war.
Anders als der Kläger meint, steht der Vertretbarkeit der Ruhensanordnung nicht entgegen, dass in den beim LSG anhängigen Verfahren andere Bewilligungszeiträume als im Ausgangsverfahren im Streit standen. Im Gegenteil wären Zweifel an der Zweckmäßigkeit einer Verfahrensruhe gerade bei identischen Bewilligungszeiträumen angebracht, weil in solchen Fällen regelmäßig eine doppelte Rechtshängigkeit in Betracht zu ziehen ist, weshalb es geboten sein kann, die Klage sogleich als unzulässig abzuweisen.
Die Ruhensanordnung bewegte sich auch nicht deshalb außerhalb des prozessualen Gestaltungsspielraums das SG, weil von den in den Parallelverfahren zu erwartenden Entscheidungen keine rechtliche Bindungswirkung für das Ausgangsverfahren ausging. Die Verfahrensruhe nach § 202 Satz 1 SGG i. V. m. § 251 Satz 1 ZPO setzt Derartiges nicht voraus. Anders als bei der Aussetzung (§ 114 SGG) muss auch keine Vorgreiflichkeit vorliegen.
Keine andere Bewertung lässt die Behauptung des Klägers zu, er habe den Antrag auf Ruhen des Verfahrens im Mai 2015 „nicht wirklich freiwillig“ gestellt. Etwaige Willensmängel wären entschädigungsrechtlich allenfalls dann beachtlich, wenn sie zur Unwirksamkeit bzw. Anfechtbarkeit der in Frage stehenden Prozesshandlung führen würden. Hierfür ist jedoch nichts ersichtlich. Ebenso wenig bestehen Anhaltspunkte dafür, dass das SG den Ruhensantrag des Klägers falsch ausgelegt oder die prozessuale Fürsorgepflicht verletzt haben könnte. Es besteht überhaupt kein Zweifel daran, dass der Kläger, der schon damals über eine abgeschlossene juristische Ausbildung verfügte, Bedeutung und Tragweite der von ihm im Ausgangsverfahren gestellten Anträge erfasst hat.
Auch unter dem Gesichtspunkt, dass sich mit zunehmender Dauer des Verfahrens die aus dem Justizgewährleistungsanspruch resultierende Pflicht des Ausgangsgerichts, sich nachhaltig um eine Beschleunigung des Verfahrens und dessen Beendigung zu bemühen, verdichtet (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 03.09.2014 – B 10 ÜG 2/13 R – juris Rn. 37 m. w. N.), war die fortdauernde Verfahrensruhe in Bezug auf die Phase von Juni 2015 bis einschließlich Januar 2017 noch von dem prozessualen Gestaltungsspielraum des Ausgangsgerichts gedeckt. Das streitgegenständliche Ausgangsverfahren wies im Januar 2017 eine Dauer von rund zweieinhalb Jahren auf. Das SG hatte bereits beachtliche Anstrengungen unternommen, um das Verfahren zum Abschluss zu bringen, u. a. hatte es im Mai 2015 eine mündliche Verhandlungen durchgeführt. Dass die beim LSG anhängigen Parallelverfahren, deren Ausgang das SG abgewartet hat, ihrerseits eine überlange Dauer aufwiesen, ändert nichts daran, dass das SG die Verfahrensruhe im Ausgangsverfahren anordnen und aufrechterhalten durfte. Das Ausgangsverfahren ist entschädigungsrechtlich eigenständig zu bewerten. Im Übrigen kann gerade die fortgeschrittene Verfahrensdauer eines Parallelverfahrens Grund für die Annahme bieten, dass dieses bald abgeschlossen sein werde.
Für die von Februar 2017 bis Juli 2019 andauernde Ruhensphase ist demgegenüber keine sachliche Rechtfertigung mehr gegeben, weshalb insoweit eine entschädigungsrelevante gerichtliche Untätigkeit festzustellen ist. Nachdem durch Beschluss vom 03.01.2017 das unter dem Aktenzeichen L 18 AS 676/13 NZB vom Kläger geführte Beschwerdeverfahren und durch einen weiteren Beschluss vom 16.01.2017 das unter dem Aktenzeichen L 18 AS 724/13 vom Kläger geführte Berufungsverfahren beendet worden waren, waren beim LSG keine Parallelverfahren mehr anhängig. Mit Erlass dieser Entscheidungen konnte das SG nicht mehr vertretbar von der Zweckmäßigkeit des Ruhens nach § 202 Satz 1 SGG i. V. m. § 251 Satz 1 SGG ausgehen. Die dem Staat zurechenbare gerichtliche Untätigkeit beginnt nach Auffassung des Senats jedenfalls dann, wenn das Ausgangsgericht – wie hier – keine Kontrollmechanismen wie etwa regelmäßige Wiedervorlagen eingerichtet hat, die es ihm ermöglichen, den Wegfall des Ruhensgrundes in angemessener Zeit zu bemerken, mit dem auf den Wegfall folgenden Monat, hier also im Februar 2017.
Nach der Wiederaufnahme des Verfahrens durch das SG im August 2019 bis zum Abschluss des verfahrensbeendenden Vergleichs in der mündlichen Verhandlung im Oktober 2019 ist keine weitere Verzögerung zu verzeichnen.
Mithin ist es im Ausgangsverfahren zu Zeiten einer gerichtlichen Inaktivität im Umfang von insgesamt 33 Kalendermonaten gekommen.
d) Dies bedeutet indes nicht, dass von einer Unangemessenheit der Verfahrensdauer im Umfang von 33 Kalendermonaten auszugehen ist. Denn erst die wertende Gesamtbetrachtung und Abwägung aller Einzelfallumstände ergibt, ob die Verfahrensdauer die äußerste Grenze des Angemessenen deutlich überschritten und deshalb das Recht auf Rechtsschutz in angemessener Zeit verletzt hat (BSG, Urteil vom 07.09.2017 – B 10 ÜG 1/16 R – juris Rn. 33). Dabei ist zu beachten, dass den Gerichten – über die Phasen der aktiven Verfahrensförderung hinaus – Vorbereitungs- und Bedenkzeiten von in der Regel 12 Monaten je Instanz als angemessen zuzugestehen sind, falls sich nicht aus dem Vortrag eines Klägers oder aus den Akten besondere Umstände ergeben, die vor allem mit Blick auf die Kriterien des § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG im Einzelfall zu einer anderen Bewertung führen (BSG, Urteil vom 03.09.2014 – B 10 ÜG 2/13 R – juris Rn. 48).
Im vorliegenden Fall besteht zur Überzeugung des Senats kein Anlass, von der im Regelfall anzusetzenden Vorbereitungs- und Bedenkzeit von 12 Monaten abzuweichen, sodass von einer grundsätzlich entschädigungspflichtigen Verzögerung von 21 Kalendermonaten auszugehen ist.
3. Der Kläger hat durch die unangemessene Dauer des Ausgangsverfahrens auch einen Nachteil erlitten. Dies folgt bereits aus § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG, wonach ein Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, vermutet wird, wenn ein Gerichtsverfahren unangemessen lange gedauert hat. Umstände, die diese gesetzliche Vermutung zu widerlegen geeignet wären, sind hier nicht erkennbar und auch von dem Beklagten nicht vorgebracht worden.
4. Gleichwohl steht dem Kläger kein Anspruch auf eine Geldentschädigung zu. Nach den konkreten Umständen des vorliegenden Falls ist zur Überzeugung des Senats eine Wiedergutmachung des erlittenen immateriellen Nachteils auf andere Weise gemäß § 198 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 4 GVG ausreichend, und zwar durch die Feststellung, dass die Verfahrensdauer unangemessen war.
Ob eine solche Feststellung ausreichend im Sinne von § 198 Abs. 2 Satz 2 GVG ist, beurteilt sich auf der Grundlage einer umfassenden Abwägung sämtlicher Umstände des Einzelfalls. In diese ist regelmäßig einzustellen, ob das Ausgangsverfahren für den Verfahrensbeteiligten eine besondere Bedeutung hatte, ob dieser durch sein Verhalten erheblich zur Verzögerung beigetragen hat, ob er weitergehende immaterielle Schäden erlitten hat oder ob die Überlänge den einzigen Nachteil darstellt (BT-Drucks. 17/3802 S. 20; BSG, Urteile vom 12.12.2019 – B 10 ÜG 3/19 R –, juris Rn. 40, vom 05.05.2015 – B 10 ÜG 8/14 R –, juris Rn. 30 und vom 12.02.2015 – B 10 ÜG 11/13 R – juris Rn. 36). Darüber hinaus kann es darauf ankommen, wie lange das Verfahren sich verzögert hat, ob das Ausgangsverfahren für den Verfahrensbeteiligten eine besondere Dringlichkeit aufwies oder ob diese zwischenzeitlich entfallen war (BVerwG, Urteil vom 11.07.2013 – 5 C 23/12 D – juris Rn. 57). Bedeutung erlangen können auch durch die überlange Verfahrensdauer erlangte Vorteile, die das Gewicht der erlittenen Nachteile aufwiegen (BVerwG, Urteil vom 12.07.2018 – 2 WA 1/17 D – juris Rn. 36).
Die Umstände des Einzelfalls sind vorliegend dadurch geprägt, dass das Ausgangsverfahren weder eine besondere Bedeutung hatte noch eine besondere Dringlichkeit aufwies und darüber hinaus für den Kläger selbst eine zügige Verfahrenserledigung lange Zeit nicht im Vordergrund stand. Obwohl der Kläger wusste, dass der Grund, der im Mai 2015 zur Anordnung des Ruhens des Verfahrens geführt hatte, im Januar 2017 weggefallen war, informierte er das SG hierüber zunächst nicht. Dies führte dazu, dass das Verfahren erst mehr als zweieineinhalb Jahre später, nämlich im August 2019, fortgesetzt wurde, nachdem ein entsprechender Wiederaufnahmeantrag vom Kläger endlich gestellt worden war. Durch sein Verhalten, konkret durch sein „Stillhalten“ nach Wegfall des Ruhensgrundes, hat der Kläger ganz erheblich zur Verzögerung des Ausgangsverfahrens beigetragen. Nur hierdurch ist es ihm „gelungen“, Monate gerichtlicher Untätigkeit in entschädigungsrechtlich relevantem Ausmaß zu „sammeln“. Außerhalb der Ruhensphase ist eine Untätigkeit des Ausgangsgerichts – wie bereits dargelegt – lediglich in drei Kalendermonaten zu verzeichnen. Würde man bei einem auf diese Weise in die Länge gezogenen Verfahren einen Anspruch auf eine Geldentschädigung zuerkennen, liefe dies auf die Möglichkeit eines „Dulde und Liquidiere“ hinaus, die nach dem Willen des Gesetzgebers aber gerade ausgeschlossen werden sollte (vgl. BT-Drucks. 17/3802 S. 20). Aufgrund einer Abwägung all dieser Umstände erscheint dem Senat die Feststellung, dass die Verfahrensdauer unangemessen war, anstelle einer Geldentschädigung ausreichend.
III. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183 Satz 6, 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 155 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) und § 201 Abs. 4 GVG. In einem Fall, in dem – wie hier – zwar kein Anspruch auf Entschädigung in Geld besteht, aber die Unangemessenheit der Verfahrensdauer festzustellen ist, entspricht es nach Auffassung des Senats billigem Ermessen im Sinne von § 201 Abs. 4 GVG, den Beklagten mit einem Kostenanteil von einem Drittel und den Kläger mit einem solchen von zwei Dritteln zu belasten.
IV. Die Revision war nicht zuzulassen, weil keine Gründe nach § 160 Abs. 2 SGG (i. V. m. § 202 Satz 2 SGG und § 201 Abs. 2 Satz 3 GVG) vorliegen.