L 25 AS 43/21

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
25
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 173 AS 7557/19 WA
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 25 AS 43/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Zur Prüfung der Frage, ob der Betroffene Arbeitnehmer ist, sind bei der Gesamtbewertung des Arbeitsverhältnisses nicht nur Gesichtspunkte wie die Arbeitszeit und die Höhe der Vergütung zu berücksichtigen, sondern auch solche wie der Anspruch auf bezahlten Urlaub, die Geltung von Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die Anwendung des Tarifvertrags in der jeweils gültigen Fassung auf den Arbeitsvertrag sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses. 2. Starre Lohn- und Arbeitszeitstunden können für die Beurteilung der Arbeitnehmereigenschaft nicht herangezogen werden. Die Annahme, die Grenze der Unwesentlichkeit sei bei einer Wochenarbeitszeit von sechs Stunden erreicht, findet demnach in der höchstrichterlichen Rechtsprechung keine Stütze und sie erscheint auch nicht sachgerecht.

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 1. Dezember 2020 wird zurückgewiesen.

 

Der Beklagte hat der Klägerin deren außergerichtliche Kosten auch für das Berufungsverfahren zu erstatten. Im Übrigen findet keine Kostenerstattung statt.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

 

Tatbestand

 

Streitig ist Arbeitslosengeld II (Alg II) für den Zeitraum März bis Juni 2014.

 

Die 1983 geborene Kläger ist portugiesische Staatsangehörige, lebt seit Juli 2013 in Deutschland, wohnte zur Untermiete für 280,- Euro monatlich und nahm am 17. März 2014 eine geringfügige Beschäftigung als Haushaltshilfe zu 100,- Euro im Monat bei einer monatlichen Arbeitszeit von zwölf Stunden auf. Ihren Antrag auf Alg II lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 27. Mai 2014 ab, weil die Klägerin nur ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche habe. Namentlich sei sie aufgrund der Geringfügigkeit der in Rede stehenden Tätigkeit keine Arbeitnehmerin. Zum 17. Juni 2014 endete das hier in Rede stehende Beschäftigungsverhältnis. Ab 1. Juli 2014 nahm die Klägerin eine neue Beschäftigung zu einem monatlichen Bruttolohn von 451,- Euro auf. In Umsetzung eines entsprechenden Beschlusses zum Erlass einer einstweiligen Anordnung bewilligte der Beklagte der Klägerin unter anderem für die Zeit vom 18. Juni bis 30. Juni 2014 247,43 Euro. Den Widerspruch der Klägerin wies der Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 8. August 2014 zurück.

 

Hiergegen hat die Klägerin am 25. August 2014 Klage erhoben, mit der sie zunächst auch Leistungen für die Monate Juli bis August 2014 geltend gemacht, ihr Begehren nach Bewilligung für diesen Zeitraum aber auf den eingangs genannten Zeitraum beschränkt hat.

 

Das Sozialgericht hat den Sozialhilfeträger zum Rechtsstreit beigeladen und die ehemalige Arbeitgeberin der Klägerin sowie die Minijob-Zentrale bei der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See schriftlich befragt. Anschließend hat es den Beklagten mit Urteil vom 1. Dezember 2020 zur Gewährung von Alg II in Höhe von 179,- Euro für März 2014 und in Höhe von monatlich 671,- Euro für den Zeitraum April bis Juni 2014 unter Anrechnung bereits vorläufig erhaltener Leistungen verurteilt. Die Voraussetzungen für den Bezug von Alg II bestünden. Insbesondere greife nicht der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (SGB II) a. F., wonach ausgeschlossen seien Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergebe. Die Klägerin habe im streitigen Zeitraum ein Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmerin gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 des Freizügigkeitsgesetzes/EU gehabt. Der Arbeitnehmerbegriff sei weit auszulegen. Ausgeschlossen seien Tätigkeiten, die sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellten. Dies sei hier nicht der Fall. Die monatliche Vergütung habe 100,- Euro bei einer Arbeitszeit von zwölf Stunden im Monat betragen. Dies sei in der Gesamtschau nicht als völlig untergeordnet und unwesentlich anzusehen. Insoweit sei hier ein schriftlicher Arbeitsvertrag geschlossen worden, die Arbeitgeberin habe die Klägerin bei der Minijob-Zentrale gemeldet, die auch dem gesetzlichen Unfallversicherungsschutz unterlegen habe. Die Tätigkeit sei jede Woche im selben Umfang ausgeübt worden, sie habe auch einen wirtschaftlichen Wert gehabt, weil die Arbeitgeberin sich eigene Haushaltstätigkeiten erspart habe, die Klägerin sich mit der Arbeit schnell vertraut gemacht und sie drei Monate ausgeübt habe.

 

Gegen das ihr am 21. Dezember 2020 zugestellte Urteil hat der Beklagte Berufung eingelegt. Er meint, die von der Klägerin ausgeübte Tätigkeit sei völlig untergeordnet und unwesentlich.

 

Der Beklagte beantragt,

 

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 1. Dezember 2020 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

 

Die Klägerin beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Der Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie die die Klägerin betreffenden Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen. 

 

 

Entscheidungsgründe

 

Der Senat kann ohne mündliche Verhandlung durch den Berichterstatter entscheiden, weil die Beteiligten zu dieser Entscheidungsform ihr Einverständnis erklärt haben, § 124 Abs. 2 SGG i. V. m. § 155 Abs. 4 und Abs. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).

 

Die zulässige Berufung des Beklagten ist nicht begründet. Das Urteil des Sozialgerichts ist zutreffend. Die zulässige Klage ist begründet. Der Bescheid des Beklagten vom 27. Mai 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. August 2014 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Ihr steht Alg II für den streitigen Zeitraum zu.

 

Zur Begründung nimmt der Senat auf die zutreffenden Gründe der angefochtenen Entscheidung Bezug, § 153 Abs. 2 SGG, und weist nur ergänzend auf Folgendes hin:

 

Die Klägerin ist in der Gesamtschau aller Umstände im vorliegenden Einzelfall Arbeitnehmerin im streitigen Zeitraum gewesen. Dabei darf der Begriff des Arbeitnehmers nicht eng ausgelegt werden (vgl. zu Folgendem Europäischer Gerichtshof <EuGH>, Urteil vom 4. Februar 2010 - C-14/09 Hava Genc/Land Berlin - NVwZ 2010, 367). Als „Arbeitnehmer” ist jeder anzusehen, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen. Das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht nach der Rechtsprechung des EuGH darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält. Weder die begrenzte Höhe der Vergütung noch die Herkunft der Mittel für diese Vergütung oder der Umstand, dass der Betreffende die Vergütung durch andere Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts wie eine aus öffentlichen Mitteln des Wohnmitgliedstaats gezahlte finanzielle Unterstützung zu ergänzen sucht, kann irgendeine Auswirkung auf die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des Unionsrechts haben. Die Tatsache, dass das Einkommen des Arbeitnehmers nicht seinen ganzen Lebensunterhalt deckt, nimmt ihm nicht die Eigenschaft eines Erwerbstätigen. Der Umstand, dass die Bezahlung einer Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis unter dem Existenzminimum liegt oder die normale Arbeitszeit selbst zehn Stunden pro Woche nicht übersteigt, hindert nicht daran, die Person, die diese Tätigkeit ausübt, als Arbeitnehmer anzusehen. Zwar kann der Umstand, dass im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses nur sehr wenige Arbeitsstunden geleistet werden, ein Anhaltspunkt dafür sein, dass die ausgeübten Tätigkeiten nur untergeordnet und unwesentlich sind, doch lässt es sich unabhängig von der begrenzten Höhe des aus einer Berufstätigkeit bezogenen Entgelts und des begrenzten Umfangs der insoweit aufgewendeten Arbeitszeit nicht ausschließen, dass die Tätigkeit aufgrund einer Gesamtbewertung des betreffenden Arbeitsverhältnisses von den nationalen Stellen als tatsächlich und echt angesehen werden kann und es somit ermöglicht, dem Beschäftigten die Arbeitnehmereigenschaft zuzuerkennen. Bei der Gesamtbewertung des Arbeitsverhältnisses sind nicht nur Gesichtspunkte wie die Arbeitszeit und die Höhe der Vergütung zu berücksichtigen, sondern auch solche wie der Anspruch auf bezahlten Urlaub, die Geltung von Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die Anwendung des Tarifvertrags in der jeweils gültigen Fassung auf den Arbeitsvertrag sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses.

 

Vorstehende Ausführungen erhellen, dass starre Lohn- und Arbeitszeitstunden für die Beurteilung der Arbeitnehmereigenschaft nicht herangezogen werden können. Die Annahme, die Grenze der Unwesentlichkeit sei bei einer Wochenarbeitszeit von sechs Stunden erreicht (Dienelt in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Auflage 2020, § 2 FreizügG/EU, Rn. 49), findet demnach in der höchstrichterlichen Rechtsprechung keine Stütze und sie erscheint auch nicht sachgerecht (warum sechs Stunden und nicht fünf oder sieben?). Die Argumente für eine Arbeitnehmereigenschaft der Klägerin hat das Sozialgericht bereits genannt. Sie seien hier nochmals in Kurzform wiederholt:

 

  1. Die Klägerin hat eine Tätigkeit von wirtschaftlichem Wert ausgeübt.
  2. Sie ist dafür bezahlt worden.
  3. Sie und ihre Arbeitgeberin haben einen schriftlichen Arbeitsvertrag geschlossen.
  4. Die Tätigkeit ist nachweislich bei der Minijob-Zentrale angemeldet worden.

 

Dass eine Entgeltfortzahlung und Urlaubsansprüche nicht ausdrücklich im Arbeitsvertrag geregelt worden sind, spricht nicht gegen die Arbeitnehmereigenschaft, weil insoweit gesetzliche Ansprüche nach Maßgabe des Entgeltfortzahlungsgesetzes und des Bundesurlaubsgesetzes bestehen. Auch der Umstand, dass die Klägerin nur drei Monate beschäftigt gewesen ist, spricht nicht gegen eine Arbeitnehmereigenschaft, zumal der Arbeitsvertrag nicht befristet gewesen ist (vgl. zur Dauer des Arbeitsverhältnisses Brinkmann in Huber, Aufenthaltsgesetz, 2. Auflage 2016, § 2 FreizügG/EU, Rn. 10).

 

Der monatliche Anspruch beträgt 671,- Euro (391,- Euro Regelbedarf zuzüglich 280,- Euro Kosten der Unterkunft und Heizung). Das Einkommen von 100,- Euro monatlich übersteigt den Freibetrag nach § 11b Abs. 2 Satz 1 SGB II a. F. hier nicht und mindert demnach auch nicht den Anspruch. Zutreffend hat das Sozialgericht angedeutet, dass der Klägerin für März 2014 möglicherweise auch höhere Leistungen zugestanden hätten, insoweit aber eine Bindung an den klägerischen Antrag bestanden hat. Der Senat könnte bei Berufung nur des Beklagten ohnehin keine höheren Leistungen zusprechen.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Eine Kostenbeteiligung des Beigeladenen kommt hier nicht in Betracht.

 

Die Revision war nicht zuzulassen, weil ein Grund hierfür gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG nicht vorliegt.

 

Rechtskraft
Aus
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