L 14 AL 201/16

Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
14
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 58 AL 55/16
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 14 AL 201/16
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Unechter Grenzgänger kann auch sein, wer seinen Wohnort inner-halb eines inaktiven Zeitraums (z.B. aufgrund von Krankheit) bereits längere Zeit vor Beendigung seines rechtlich noch fortbestehenden Arbeitsverhältnisses in einen anderen Mitgliedstaat verlegt und da-nach nicht mehr an seinen Beschäftigungsort zurückkehrt. 2. Im Hinblick auf das Erfordernis der Anwartschaftszeit genügt es nach Art. 67 VO (EWG) 1408/71 bzw. Art. 61 VO (EG) 883/2004, dass die betreffende Person in irgendeinem System der sozialen Sicherheit versichert war; eine Versicherungspflicht gerade in einem speziellen System der Arbeitslosenversicherung ist nicht erforderlich.

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 4. November 2016 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass dem Kläger Arbeitslosengeld für die Zeit vom 17. August 2015 bis 31. Oktober 2015 zu gewähren ist.

 

Die Beklagte hat dem Kläger seine außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

 

 

 

Tatbestand

 

Streitig ist ein Anspruch auf Arbeitslosengeld (Alg) für die Zeit vom 17. August 2015 bis 31. Oktober 2015.

 

Der 1969 geborene Kläger war seit 23. April 2013 als Fernfahrer bei der Firma A in S (Norwegen) beschäftigt, hatte dort nach seinen Angaben eine 3-Zimmer Wohnung und erzielte ein Bruttoarbeitsentgelt von umgerechnet täglich 162,07 Euro.

 

Seit 27. Februar 2014 war der Kläger arbeitsunfähig erkrankt. Nach dem Ende der Lohnfortzahlung durch den norwegischen Arbeitgeber bezog er ab 1. April 2014 (norwegisches) Krankengeld. Am 3. Juni 2014 gab er – seinen Angaben zufolge – die Wohnung in Norwegen auf und zog am 4. Juni 2014 nach Berlin und wohnte dort zunächst (bei C) in der P Straße  und danach zur Untermiete in der P Straße . Dort war er auch jeweils mit Hauptwohnsitz polizeilich gemeldet. Ferner ließ er sich mit Schreiben vom 17. Juni 2014 eine SIM-Karte eines deutschen Mobilfunk-Anbieters an seine Anschrift in der P Straße  schicken. Mit Schreiben vom 27. November 2014 kündigte der Arbeitgeber des Klägers das Arbeitsverhältnis zum 28. Februar 2015. Das Kündigungsschreiben wurde nach Berlin gesandt. Als Anschrift des Klägers war in dem Kündigungschreiben die PStraße  angegeben. Der Krankengeldbezug des Klägers endete am 9. Februar 2015.

 

In der Zeit vom 10. Februar bis 28. Februar 2015 war der Kläger nicht mehr in Norwegen für die Firma A tätig; er war von seinem Arbeitgeber freigestellt worden. Am 28. Februar 2015 endete das Beschäftigungsverhältnis in Norwegen. Vom 1. März 2015 bis 16. August 2015 bezog der Kläger Arbeitslosengeld II.

 

Am 17. August 2015 meldete sich der Kläger bei der Beklagten arbeitslos und beantragte Alg. Mit Bescheid vom 20. August 2015 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers ab. Er habe die Anwartschaftszeit nicht erfüllt. Die Zeiten, die von einem anderen Träger aus einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union bescheinigt worden seien, könnten nicht zur Erfüllung der Anwartschaftszeit herangezogen werden, da der Kläger nicht unmittelbar vor Eintritt der Arbeitslosigkeit versicherungspflichtig in der Bundesrepublik bzw. als echter oder unechter Grenzgänger beschäftigt gewesen sei. Den hiergegen gerichteten Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 9. Dezember 2015 zurück.

 

Am 1. November 2015 nahm der Kläger eine neue Beschäftigung auf.

 

Am 11. Januar 2016 hat der Kläger Klage erhoben. Er habe aufgrund der in Norwegen zurückgelegten Beschäftigungszeiten die Anwartschaftszeit erfüllt. Er sei während seiner gesamten Zeit in Norwegen, jedenfalls aber seit dem 4. Juni 2014 unechter Grenzgänger gewesen.

 

Mit Urteil vom 4. November 2016 hat das Sozialgericht den Bescheid vom 20. August 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Dezember 2015 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 17. August 2015 dem Grunde nach Alg zu gewähren. Der Kläger sei jedenfalls seit Juni 2014 unechter Grenzgänger gewesen. Zu diesem Zeitpunkt habe er nach seinem glaubhaften Vorbringen eine Rückkehr ins Bundesgebiet beschlossen. Ob die unter Beweis gestellte Pflege seiner freundschaftlichen Kontakte den Mittelpunkt seines Interesses wertungsmäßig schon vor Juni 2014 nach Deutschland verlegt habe, könne offenbleiben, weil die Grenzgänger-Eigenschaft auch während der Ausübung der Auslandsbeschäftigung begründet werden könne und dann die volle Berücksichtigung der anwartschaftsrelevanten Versicherungszeiten zur Folge habe.

 

Gegen dieses ihr am 15. November 2016 zugegangene Urteil richtet sich die am 2. Dezember 2016 eingegangene Berufung der Beklagten. Der Kläger habe durch nichts dargelegt oder nachgewiesen, dass er die strengen Kriterien, die die Anerkennung einer unechten Grenzgängereigenschaft erforderten, erfülle. Selbst wenn eine (unechte) Grenzgängereigenschaft auch während eines bestehenden Beschäftigungsverhältnisses durch grenzüberschreitenden Wohnortwechsel begründet werden könnte, könne sie aber nicht durch einen Umzug nach Deutschland während der letzten Beschäftigung im Ausland begründet werden, wenn – wie hier – danach im Beschäftigungsstaat keine Tätigkeit mehr ausgeübt werde.

 

Die Beklagte beantragt,

 

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 4. November 2016 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

 

Der Kläger beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Er hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze der Beteiligten nebst Anlagen und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsvorgänge der Beklagten.

 

 

 

Entscheidungsgründe

 

Die Berufung hat keinen Erfolg.

 

Sie ist zulässig. Insbesondere übersteigt der Wert des Beschwerdegegenstandes – ausgehend von einem streitigen Zeitraum vom 17. August bis 31. Oktober 2015 (75 Leistungstage) und von einem in Norwegen erzielten täglichen Bruttoarbeitsentgelt von umgerechnet 162,07 Euro, woraus sich unter Zugrundelegung von Steuerklasse I ein tägliches Alg von 54,36 Euro ergäbe – den nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hier maßgebenden Wert von 750 Euro deutlich.

 

Die Berufung ist jedoch unbegründet. Das angefochtene Urteil ist rechtmäßig. Zu Recht hat das Sozialgericht den Bescheid der Beklagten vom 20. August 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Dezember 2015 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 17. August 2015 dem Grunde nach Alg zu gewähren. Denn der angefochtene Bescheid ist rechtwidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat Anspruch auf Alg für die Zeit ab 17. August 2015 und zwar – insofern war der Tenor des angefochtenen Urteils zu präzisieren – für die Zeit vom 17. August 2015 bis 31. Oktober 2015.

 

Ein Anspruch des Klägers auf Alg ergibt sich nicht allein aus dem SGB III, sondern nur unter zusätzlicher Berücksichtigung unionsrechtlicher Grundsätze.

 

Nach § 137 Abs. 1 SGB III setzt ein Anspruch auf Alg voraus, dass ein Arbeitnehmer arbeitslos ist, sich bei der Agentur für Arbeit arbeitslos meldet und die Anwartschaft erfüllt hat. Der Kläger hat sich arbeitslos gemeldet und war in der Zeit vom 17. August 2015 bis 31. Oktober 2015 arbeitslos. Der Kläger hat auch die erforderliche Anwartschaftszeit erfüllt. Die Anwartschaftszweit hat erfüllt, wer in der Rahmenfrist (§ 143 SGB III) mindestens zwölf Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden hat (§ 142 Abs. 1 Satz 1 SGB III). Die rückwärts zu berechnende (vgl. Öndül, in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB III, 2. Aufl. 2019, § 143 [Stand: 27.01.2020] Rn. 23) Rahmenfrist beträgt nach § 143 Abs. 1 SGB III in der vorliegend maßgebenden Fassung vom 20. Dezember 2011 zwei Jahre und beginnt mit dem Tag vor der Erfüllung aller sonstigen Voraussetzungen für den Anspruch auf Alg. Hier verläuft die Rahmenfrist – ausgehend von einer Arbeitslosmeldung des Klägers zum 17. August 2015 – vom 17. August 2013 bis 16. August 2015. Innerhalb dieses Zeitraums hat der Kläger jedoch die Voraussetzungen für ein Versicherungsverhältnis nach den §§ 24 ff. SGB III nicht durch Beschäftigungen oder sonstige Tatbestände eines Versicherungspflichtverhältnisses im Inland erfüllt, weil er allein in Norwegen beschäftigt war und ausschließlich dort Versicherungszeiten zurückgelegt hat.

 

Der Kläger hat jedoch nach den Regelungen der VO (EG) 883/2004 und unter Einbeziehung der norwegischen Versicherungs- bzw. Beschäftigungszeit die Anwartschaftszeit für einen Anspruch auf Alg erfüllt.

 

Die VO (EG) 883/2004 findet vorliegend Anwendung, obwohl Norwegen nicht Mitglied der Europäischen Union ist. Denn seit 1. Juni 2012 ist die VO (EG) 883/2004 auch im Verhältnis zu den Staaten des Europäischen Wirtschaftsraums – EWR – (Island, Liechtenstein und Norwegen) anwendbar (Beschluss Nr. 76/2011 des Gemeinsamen EWR-Ausschusses, ABl. L 262 vom 6. Oktober 2011, S. 33 ff.; vgl. Kahil-Wolff, in Fuchs, Europäisches Sozialrecht, 7. Aufl. 2018, VO [EG] Nr. 883/2004, Vorbem. Rn. 6).

 

Gemäß Art. 61 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 muss die Beklagte grundsätzlich auch Versicherungs- bzw. Beschäftigungszeiten berücksichtigen, die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaates begründet wurden. Das Gebot der Zusammenrechnung relevanter Zeiten gehört zu den elementaren Prinzipien des Koordinierungsrechts und ist deshalb primärrechtlich in Art. 48 Abs. 1 lit. a Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) geregelt.

 

Nach Art. 61 Abs. 2 VO (EG) 883/2004 gilt das Gebot der Zusammenrechnung bei denjenigen, die nicht Grenzgänger im Sinne von Art. 65 Abs. 5 lit. a VO 883/2004 sind, nur unter der Voraussetzung, dass die betreffende Person unmittelbar zuvor nach den Rechtsvorschriften, nach denen die Leistungen beantragt werden, Versicherungs- bzw. Beschäftigungszeiten zurückgelegt haben. Art. 61 Abs. 2 VO (EG) 883/2004 beinhaltet eine Einschränkung des Prinzips der Zusammenrechnung relevanter Zeiten (vgl. Fuchs, in Fuchs, Europäisches Sozialrecht, 7. Auflage 2018, Teil 2, Art. 61 Rn. 3). Diese Regelung hat nach der Rechtsprechung des EuGH zum Ziel, die Arbeitssuche in dem Mitgliedstaat zu fördern, in dem der Betreffende unmittelbar zuvor Beiträge zur Arbeitslosenversicherung gezahlt hat, und diesen Staat die Leistungen bei Arbeitslosigkeit tragen zu lassen (EuGH, Urteil vom 8. April 1992 – C-62/91 –, juris; Dern, in Schreiber/Wunder/Dern, VO [EG] Nr. 883/2004, 2012, Art. 61 Rn. 14). Nichtgrenzgänger, also Personen, die ihren Lebensmittelpunkt an den Arbeitsort beziehungsweise in den Beschäftigungsstaat verlagert hatten, müssen bei Rückumzug in den früheren Staat vor Anerkennung der im Beschäftigungsstaat zurückgelegten Versicherungs- bzw. Beschäftigungszeiten zunächst eine Versicherungspflichtzeit erfüllen (vgl. Geiger, info also, 2013, S. 147). Insoweit ist eine Versicherungszeit in Deutschland von einem Tag ausreichend (vgl. Bayerisches LSG, Beschluss vom 11. Dezember 2013 – L 9 AL 198/13 B PKH –, juris Rn. 12). Allerdings ist eine Beschäftigung, die von vornherein auf einen Tag befristet ist, in der Regel nicht geeignet, die Voraussetzung des Art. 61 Abs. 2 VO (EG) 883/2004 zu erfüllen (Kador, in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 3. Aufl. 2018, Art. 61 VO [EG] 883/2004 Rn. 35).

 

Vorliegend fehlt es an der nach Art. 61 Abs. 2 VO (EG) 883/2004 erforderlichen Versicherungs- bzw. Beschäftigungszeit in Deutschland. Der Kläger war unmittelbar vor Beantragung des Alg nicht in Deutschland beschäftigt.

 

Der Kläger ist jedoch als Grenzgänger vom Anwendungsbereich des Art. 61 Abs. 2 VO (EG) 883/2004 ausgenommen.

 

Der Kläger war kein echter Grenzgänger. Nach der Legaldefinition des Art. 1 lit. f VO (EG) 883/2004 ist (echter) Grenzgänger eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübt und in einem anderen Mitgliedstaat wohnt, in den sie in der Regel täglich, mindestens jedoch einmal wöchentlich zurückkehrt. Der Kläger ist während der Zeit seiner Beschäftigung in Norwegen unstreitig nicht mindestens einmal wöchentlich nach Deutschland zurückgekehrt.

 

Der Kläger ist indes dem Personenkreis der sogenannten unechten Grenzgänger im Sinne von Art. 65 Abs. 2 Satz 3 und Art. 65 Abs. 5 lit. b VO (EG) 883/2004 zuzurechnen. Unechte Grenzgänger sind Personen, die während ihrer letzten Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit ihren Wohnort in einem Mitgliedstaat hatten und nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaates beschäftigt oder selbständig erwerbstätig waren, ohne echte Grenzgänger gewesen zu sein. Unechte Grenzgänger sind Personen, die überwiegend im Beschäftigungsstaat leben und nur gelegentlich an ihren Wohnsitz zurückkehren (vgl. EuGH, Urteil vom 12. Juni 1986 – 1/86 –, juris; Dern, in Schreiber/Wunder/Dern, VO [EG] Nr. 883/2004, 2012, Art. 65 Rn. 3; Kador, in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 3. Aufl. 2018, Art. 65 VO [EG] Rn. 22 m.w.N.).

 

Beim Bezug von Leistungen hat der unechte Grenzgänger zum einen das Wahlrecht, ob er im Beschäftigungsland verbleibt oder in seinen Wohnmitgliedstaat zurückkehrt. Zum anderen hat er gemäß Art. 65 Abs. 5 lit. b VO (EG) 883/2004 das Wahlrecht, die Rechte aus dem Leistungsexport (d.h. Leistungsansprüche gegen den Beschäftigungsstaat) oder die Ansprüche nach Art. 65 Abs. 5 lit. a VO (EG) 883/2004 (gegen den Wohnmitgliedstaat) geltend zu machen, wobei der Wohnmitgliedstaat diese Leistungen zu seinen Lasten erbringt, Art. 65 Abs. 6 Satz 1 VO (EG) 883/2004 (Kador, in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 3. Aufl. 2018, Art. 65 VO [EG] Rn. 44 m.w.N.).

 

Die Vorschriften über den unechten Grenzgänger sind nach der Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 17. Februar 1977 – 76/76 –, juris), der auch der Senat folgt, als Ausnahmevorschriften grundsätzlich eng auszulegen. Nicht jeder Arbeitnehmer, der in einem anderen Mitgliedstaat eine Beschäftigung aufnimmt und seine Bindungen zu seinem bisherigen Wohnort aufrecht erhält, ist danach ein unechter Grenzgänger. Im Hinblick darauf, dass die Kostenlast ohne entsprechende Beitragsleistung vom Wohnmitgliedstaat zu tragen wäre, ist es nicht gerechtfertigt, den Wohnmitgliedstaat durch allzu großzügige Auslegung in großem Umfang zur Leistungsgewährung zu verpflichten. Die Zuständigkeit des Wohnlandes bleibt nur dort erhalten, wo die Zuwendung zum ausländischen Arbeitsmarkt, die sich nach ihrem Zweck und ihrer Dauer bestimmt, durch entsprechend stärkere Bindung an den inländischen Arbeitsmarkt ausgeglichen wird. Mit anderen Worten steigen die Anforderungen an die Inlandsbindung, je stärker sich der Arbeitnehmer einem ausländischen Arbeitsmarkt zuwendet (vgl. zur Vorgängerregelung in Art. 71 VO [EWG] 1408/71: BSG, Urteil vom 12. Dezember 1990‍ – 11 RAr 141/90 –, juris Rn. 29; LSG Hamburg, Urteil vom 15. Februar 2012 – L 2 AL 31/10 –, juris Rn. 22). Deshalb ist zu vermuten, dass ein Arbeitnehmer, der in einem Mitgliedstaat über einen festen Arbeitsplatz verfügt, dort auch wohnt. Dies gilt grundsätzlich auch dann, wenn er seine Familie in einem anderen Staat zurückgelassen hat.

 

Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt für die Frage, welcher Staat als Wohnmitgliedstaat anzusehen ist, ist der Zeitpunkt der Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses (vgl. BSG, Urteil vom 3. Juli 2003 – B 7 AL 42/02 R –, juris Rn. 17). Dementsprechend kann unechter Grenzgänger grundsätzlich auch sein, wer seinen Wohnort innerhalb eines inaktiven Zeitraums (z.B. aufgrund von Krankheit) vor Beendigung seines rechtlich noch fortbestehenden Arbeitsverhältnisses in einen anderen Mitgliedstaat verlegt und danach nicht mehr an seinen Beschäftigungsort zurückkehrt (vgl. EuGH, Urteil vom 22. September 1988 – 236/87 „Bergemann“ –, juris). Dies muss jedenfalls dann gelten, wenn die Verlegung des Wohnortes bereits längere Zeit vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses erfolgt.  

 

Hieran gemessen war der Kläger zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt (am 28. Februar 2015, am letzten Tag seines Beschäftigungsverhältnisses) unechter Grenzgänger. Denn der Kläger hatte seinen Wohnsitz bereits am 4. Juni 2014 von Norwegen nach Berlin verlegt und seitdem – bis zum Ende des Beschäftigungsverhältnisses am 28. Februar 2015 – beibehalten. Hierfür spricht zum einen, dass der Kläger ab 4. Juni 2014 in Berlin mit Hauptwohnsitz gemeldet war. Zum anderen hatte er für die Zeit ab 18. Juni 2014 einen Untermietvertrag für eine Wohnung in der PStraße  in Berlin abgeschlossen. Ferner hat er einen Vertrag mit einem deutschen Mobilfunkunternehmen vorgelegt. Auch der Umstand, dass das Kündigungsschreiben des (norwegischen) Arbeitgebers vom 27. November 2014 an die Berliner Adresse des Klägers in der P Straße  geschickt wurde, spricht dafür, dass der Kläger spätestens ab Juni 2014 seinen Lebensmittelpunkt in Berlin hatte.

 

Dass der Kläger zwischen dem Ende des Krankengeldbezugs und dem (rechtlichen) Ende des Beschäftigungsverhältnisses nicht mehr von Berlin nach Norwegen gependelt ist, da er von seinem norwegischen Arbeitgeber freigestellt war, steht einer Anerkennung als Grenzgänger – entgegen der Auffassung der Beklagten – nicht entgegen. Denn der Europäische Gerichtshof hat in Fällen, in denen „ein Arbeitnehmer, der, nachdem er seinen Wohnort in einen anderen Mitgliedstaat als den Beschäftigungsstaat verlegt hat, nicht mehr diesen letztgenannten aufsucht, um dort seine Tätigkeit auszuüben“, nur die echte, nicht die unechte Grenzgängereigenschaft verneint (EuGH, a.a.O., Leitsatz 1). Art. 1 lit. b der EWGV 1408/71, auf den sich der Europäische Gerichtshof im 1. Leitsatz bezieht, betrifft allein den echten Grenzgänger. Auf einen „Arbeitnehmer, der während der letzten Beschäftigung seinen Wohnort aus familiären Gründen in einen anderen Mitgliedstaat verlegt und nach dieser Verlegung nicht mehr in den Beschäftigungsstaat zurückkehrt, um dort seine Tätigkeit auszuüben“, ist nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs hingegen Art. 71 Abs. 1 lit. b Ziff. ii der erwähnten Verordnung anwendbar (EuGH, a.a.O., Rn. 22). Art. 71 Abs. 1 lit. b Ziff. ii betrifft „Arbeitnehmer, die nicht Grenzgänger sind“, und damit die sog. unechten Grenzgänger. Im zugrunde liegenden Fall des EuGH hatte die Klägerin (Frau Bergemann), die in den Niederlanden gearbeitet und dort gewohnt hatte, einen Tag nach ihrer Heirat mit einem deutschen Staatsangehörigen ihren Wohnort an den Wohnsitz ihres Ehemannes nach Deutschland verlegt. Da diese Verlegung während ihres Urlaubs stattfand, der bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses dauerte, kehrte die Klägerin nicht mehr in die Niederlande zurück, um dort ihre Tätigkeit auszuüben. Der Europäische Gerichtshof (a.a.O.) hat die unechte Grenzgängereigenschaft bejaht, weshalb auch hier davon auszugehen ist, dass der Kläger unechter Grenzgänger war. Zwar hatte der Kläger am Ende seines Beschäftigungsverhältnisses keinen Urlaub. Allerdings hat der Kläger – und insofern ist die Konstellation vergleichbar – nach dem Ende seiner tatsächlichen Tätigkeit bis zum (rechtlichen) Ende des Beschäftigungsverhältnisses Krankengeld bezogen und ist danach nicht mehr nach Norwegen zurückgekehrt, da er von seinem Arbeitgeber freigestellt gewesen war.

 

War der Kläger somit am letzten Tag seiner Beschäftigung (am 28. Februar 2021) unechter Grenzgänger, hat er die gemäß § 142 Abs. 1 SGB III erforderliche Anwartschaftszeit unter Zugrundelegung der norwegischen Versicherungszeiten erfüllt. Denn er stand seit dem 23. April 2013 mindestens zwölf Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis aufgrund seiner Beschäftigung bei der Firma A bzw. aufgrund des Bezugs von (norwegischem) Krankengeld. Auch die Zeit des Bezugs von norwegischem Krankengeld erfüllt die Anwartschaftszeit im Sinne des § 142 Abs. 1 SGB III. Nach der Rechtsprechung des EuGH genügt es für das Erfordernis der Zurücklegung von Versicherungszeiten im Sinne des Art. 67 VO (EWG) 1408/71 (bzw. Art. 61 VO (EG) 883/2004), dass die betreffende Person in irgendeinem System der sozialen Sicherheit versichert war; eine Versicherungspflicht gerade in einem speziellen System der Arbeitslosenversicherung ist nicht erforderlich (EuGH, Urteil vom 12. Mai 1989 – 388/87 „Warmerdam-Steggerda“ –, juris). Der Kläger war ausweislich der Bescheinigung „U1“ während des Bezugs des norwegischen Krankengelds versichert; die Zeit des Krankengeldbezugs ist dort unter „[A]ndre forsikringsperioder“ (andere Versicherungszeiten) aufgeführt.

 

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ergebnis in der Hauptsache.

 

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.

Rechtskraft
Aus
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