L 14 AL 123/15

Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
14
1. Instanz
SG Frankfurt (Oder) (BRB)
Aktenzeichen
S 12 AL 209/11
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 14 AL 123/15
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Zeigt ein Empfänger von Arbeitslosengeld und aufstockendem Ar-beitslosengeld II die Aufnahme einer mehr als 15 Stunden wöchent-lich umfassenden Beschäftigung der Bundesagentur für Arbeit an und zahlt diese gleichwohl Arbeitslosengeld weiter, steht einer späteren Aufhebung und Erstattung von Arbeitslosengeld für die Zeit ab Be-schäftigungsaufnahme nicht entgegen, dass dem Leistungsempfän-ger rückwirkend für die Zeit ab Beschäftigungsaufnahme kein höheres Arbeitslosengeld II zusteht. Dies gilt auch dann, wenn die Bunde-sagentur für Arbeit die Weiterzahlung von Arbeitslosengeld für die Zeit ab Beschäftigungsaufnahme bei pflichtgemäßem Verhalten hätte ver-hindern können. 2. In einem solchen Fall wird die Bundesagentur für Arbeit die Erstat-tungsforderung zur Vermeidung unbilliger Härten regelmäßig zu erlas-sen haben.

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 20. Mai 2015 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.

 

Außergerichtliche Kosten sind für das gesamte Verfahren nicht zu erstatten.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

 

 

Die Beteiligten streiten um die Aufhebung und Erstattung von Arbeitslosengeld für die Zeit vom 3. bis 30. Juni 2011.

 

Die 1959 geborene Klägerin stand im Laufe ihres Erwerbslebens wiederholt bei der Beklagten im Leistungsbezug. U.a. im Zusammenhang mit ihren Anträgen auf Arbeitslosengeld/-hilfe vom 25. Oktober 2001, 15. April 2002, 2. Dezember 2003, Februar/März 2004, Mai/Juni 2004 und 6. Januar 2011 erklärte sie, das Merkblatt 1 für Arbeitslose erhalten und von seinem Inhalt Kenntnis genommen zu haben. Für die Zeit ab dem 11. Januar 2011 bewilligte die Beklagte ihr Arbeitslosengeld für 180 Kalendertage mit einem täglichen Leistungssatz von 19,24 € (Bescheid vom 4. Februar 2011). Das Arbeitslosengeld der Klägerin wies die Beklagte für Mai 2011 am 25. Mai 2011 und für Juni 2011 am 24. Juni 2011 an.

 

Der Beigeladene bewilligte der Klägerin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit vom 1. März bis 30. Juni 2011 i.H.v. monatlich 158,30 € (Bescheid vom 2. März 2011) bzw. 163,30 € (Bescheid vom 26. März 2011) und berücksichtigte hierbei als Einkommen der Klägerin Arbeitslosengeld i.H.v. 577,20 € monatlich, bereinigt um einen Betrag von 30 €.

 

Am 3. Juni 2011 teilte die Klägerin der Beklagten anlässlich einer persönlichen Vorsprache mit, dass sie an diesem Tage eine Beschäftigung im Umfang von 20 Wochenstunden bei einem monatlichen Arbeitsentgelt von 400 € aufnehme. Daraufhin hob die Beklagte mit Bescheid vom 27. Juni 2011 die Bewilligung von Arbeitslosengeld ab dem 3. Juni 2011 auf („Grund: Aufnahme einer Beschäftigung“). Mit weiterem Bescheid vom 1. Juli 2011 hob die Beklagte die Bewilligung von Arbeitslosengeld für die Zeit vom 3. bis 30. Juni 2011 auf, weil die Klägerin nicht mehr arbeitslos sei, und forderte die Erstattung von 538,72 €. Den hiergegen gerichteten Widerspruch wies sie unter Berufung auf § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 und 4 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) in Verbindung mit (i.V.m.) § 330 Abs. 3 S. 1 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) mit Widerspruchsbescheid vom 29. Juli 2011 zurück.

 

Nach Beiladung des für die Klägerin zuständigen Jobcenters (Beschluss vom 16. De­zember 2014) hat das Sozialgericht mit Urteil vom 20. Mai 2015 die Bescheide der Beklagten vom 27. Juni und 1. Juli 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom „29. Juni 2011“ (gemeint offensichtlich: 29. Juli 2011) aufgehoben und die Berufung zugelassen. Zur Begründung hat das Sozialgericht ausgeführt: Die Voraussetzungen für die Rücknahme des Bescheids der Beklagten vom 4. Februar 2011 lägen zwar dem Grunde nach vor. Dennoch sei die Beklagte nach Überzeugung der Kammer nicht berechtigt gewesen, nachträglich die Leistungsbewilligung aufzuheben. Vielmehr sei ein Erstattungsanspruch der Beklagten gegenüber dem Beigeladenen gemäß § 103 Abs. 1 SGB X entstanden. Der Anspruch der Klägerin auf Arbeitslosengeld sei nachträglich entfallen. Diese Leistung entspreche auch den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Der Beigeladene habe in Höhe des Erstattungsbetrages auch noch nicht selbst an die Klägerin geleistet, sondern rechtmäßig das der Klägerin zugeflossene Arbeitslosengeld in voller Höhe als Einkommen berücksichtigt. Eine Rücknahme der bewilligten SGB II-Leistungen sei daher nach §§ 44 ff. SGB X ausgeschlossen. Durch den Erstattungsanspruch der Beklagten gegenüber dem Beigeladenen und die damit verbundene Erfüllungsfiktion nach § 107 SGB X werde die Klägerin nachträglich so gestellt, als hätte sie i.H.d. nachträglich entfallenden Arbeitslosengeldes die ihr zustehenden höheren Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts erhalten. Die Beklagte sei nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) auch verpflichtet gewesen, diesen Erstattungsanspruch gegenüber dem Beigeladenen geltend zu machen.

 

Gegen dieses ihr am 12. Juni 2015 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung der Beklagten vom 9. Juli 2015, zu deren Begründung sie vorträgt: Zwar sei nach höchstrichterlicher Rechtsprechung für die rückwirkende Aufhebung eines Bewilligungsbescheides kein Raum, wenn der beklagte Sozialleistungsträger gegenüber einem vorrangigen Leistungsträger einen Erstattungsanspruch nach §§ 103, 104 SGB X habe. Die Erfüllungsfiktion nach § 107 Abs. 1 SGB X setze jedoch voraus, dass der Sozialleistungsempfänger noch einen entsprechenden Anspruch auf Gewährung von (höheren) Sozialleistungen gegenüber dem vorrangigen Leistungsträger habe. Hieran fehle es im vorliegenden Fall, weil der Beigeladene das der Klägerin gezahlte Arbeitslosengeld für den Zuflussmonat als Einkommen habe berücksichtigen müssen und die Leistungsbewilligung nicht nachträglich zugunsten der Klägerin habe korrigieren können.

 

Die Beklagte beantragt,

 

das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 20. Mai 2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

 

Die Klägerin beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend und bringt ergänzend vor: Es sei sachdienlich und angemessen, dass etwaig zu Unrecht gezahlte Leistungen behördenintern zu verrechnen seien. Dies sei hier auch deshalb angezeigt, weil die beteiligten Behörden es versäumt hätten, die ihr – der Klägerin – zustehenden Leistungen richtig zu berechnen. Für Zahlungen aufgrund eines Organisationsversagens der beteiligten Behörden oder wegen individueller Fehler der beteiligten Mitarbeiter habe sie nicht einzustehen.

 

Der Beigeladene stellt keinen Antrag und verweist auf seine früheren, den Standpunkt der Beklagten unterstützenden Ausführungen.

 

Wegen des Sach- und Streitstandes im Einzelnen sowie wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung war, verwiesen.

 

 

Entscheidungsgründe

 

 

Die Berufung ist zulässig und begründet. Das Sozialgericht hätte der Klage nicht stattgeben dürfen. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind nicht zu beanstanden.

 

I. Streitgegenstand sind neben dem Urteil des Sozialgerichts die Bescheide der Beklagten vom 27. Juni und 1. Juli 2011, beide in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Juli 2011, durch die die Bewilligung von Arbeitslosengeld für den Zeitraum 3. bis 30. Juni 2011 aufgehoben und die von der Beklagten am 24. Juni 2011 angewiesenen Leistungen für diesen Monat weitgehend zurückgefordert werden. Dass die Beklagte mit dem Bescheid vom 27. Juni 2011 zunächst die Bewilligung von Arbeitslosengeld ab dem 3. Juni 2011 auf unbestimmte Zeit aufgehoben hat, ist unbeachtlich. Denn mit dem folgenden Bescheid vom 1. Juli 2011 hat sie den Bescheid vom 27. Juni 2011 konkludent zugunsten der Klägerin geändert und die zeitliche Dauer der Aufhebung auf die Zeit bis zum 30. Juni 2011 begrenzt.

 

II. Die o.g. Bescheide sind rechtmäßig. Zu Recht hat die Beklagte die Bewilligung von Arbeitslosengeld für die Zeit vom 3. bis 30. Juni 2011 wegen der von der Klägerin ab dem 3. Juni 2011 ausgeübten Beschäftigung mit einem wöchentlichen Umfang von 20 Stunden aufgehoben.

 

1. Dass die Beklagte die Voraussetzungen von § 48 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 4 SGB X im vorliegenden Fall bejaht hat, ist nicht zu beanstanden. Nach diesen Vorschriften ist, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Der Verwaltungsakt soll mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist.

 

Im vorliegenden Fall ist der Anspruch der Klägerin auf Arbeitslosengeld für die Zeit ab dem 3. Juni 2011 entfallen, weil sie ab diesem Tag eine mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende Beschäftigung ausübte und es daher an der Anspruchsvoraussetzung der Arbeitslosigkeit fehlte (§ 117 Abs. 1, § 118 Abs. 1 und 2 SGB III in der bis zum 31. März 2012 geltenden, hier anzuwendenden Fassung a. F.). Weil die Beklagte hierauf in ihrem Merkblatt 1 für Arbeitslose stets hingewiesen hat, musste der Klägerin bekannt sein, dass die Beschäftigungsaufnahme am 3. Juni 2011 ihren Anspruch auf Arbeitslosengeld entfallen lässt. Auf eine entsprechende Unkenntnis hat sie sich auch zu keinem Zeitpunkt berufen. Die Beklagte war daher nach § 330 Abs. 3 Satz 1 SGB III verpflichtet, die Bewilligung von Arbeitslosengeld für die Zeit ab dem 3. Juni 2011 aufzuheben und den überzahlten Betrag nach § 50 Abs. 1 SGB X zurückzufordern.

 

2. Zu Unrecht ist das Sozialgericht indes zum Ergebnis gelangt, der Aufhebungsentscheidung der Beklagten stehe deren Erstattungsanspruch nach §§ 102 ff. SGB X gegenüber dem Beigeladenen entgegen.

 

Zutreffend ist zwar zunächst die Prämisse des Sozialgerichts, dass Sozialleistungsträgern wie der Beklagten bei Bestehen eines Erstattungsanspruchs nach §§ 102 ff. SGB X kein Wahlrecht zwischen dessen Geltendmachung einerseits und der Aufhebung und Erstattung von Leistungen gegenüber dem Berechtigten zusteht. Die Voraussetzungen für einen Erstattungsanspruch der Beklagten gegen den Beigeladenen lagen allerdings unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt vor.

 

a. Ein Erstattungsanspruch der Beklagten gegen den Beigeladenen aus § 102 oder § 105 SGB X kommt nicht in Betracht, weil die Beklagte weder vorläufig geleistet hat noch für die erbrachte Leistungen (Arbeitslosengeld) unzuständig war.

 

b. Die Voraussetzungen von § 103 SGB X sind – entgegen der Auffassung des Sozialgerichts – nicht erfüllt. Nach Abs. 1 dieser Vorschrift, ist, wenn ein Leistungsträger Sozialleistungen erbracht hat und der Anspruch auf diese nachträglich ganz oder teilweise entfallen ist, der für die entsprechende Leistung zuständige Leistungsträger erstattungspflichtig, soweit dieser nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat. Maßgeblich für die Anwendbarkeit der Vorschrift ist, dass ein Sozialleistungsanspruch nur dann i.S.v. § 103 Abs. 1 Halbs. 1 SGB X entfällt, wenn durch die Erfüllung des (zweiten) Leistungsanspruchs der von einem zuständigen Leistungsträger erbrachte (erste) Leistungsanspruch (durch eine "Wegfallregelung" oder "-bestimmung") zum Wegfall kommt (BSG, Urteil vom 31. Oktober 2012 – B 13 R 11/11 R –, juris, Rn. 32, m.w.N.). Der Erstattungsanspruch hängt somit von einer Kausalität (Beck’scher Onlinekommentar Sozialrecht/‌Weber, Stand: 1.12.2020, SGB X § 103 Rn. 12; Lehr- und Praxiskommentar SGB X/‌‌‌Böttiger, 5.A., § 103 Rn. 13; Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht/‌Kater, Stand: Dezember 2020, SGB X § 103 Rn. 20; offener Becker, in: Hauck/Noftz, SGB, 04/19, § 103 SGB X, Rn. 31, der einen „gewissen Zusammenhang“ ausreichen lässt) zwischen dem Entstehen bzw. der rechtlich-verbindlichen Feststellung des zweiten Leistungsanspruchs einerseits und dem Wegfall des ersten Leistungsanspruchs andererseits ab. Führen andere Umstände zum Wegfall der ursprünglichen Sozialleistungspflicht, greift § 103 Abs. 1 SGB X nicht ein (Böttiger a.a.O.).

 

An dieser Kausalität mangelt es im vorliegenden Fall. Für die Zeit ab dem 3. Juni 2011 ist der Anspruch der Klägerin auf Arbeitslosengeld nicht wegen eines höheren Anspruchs nach dem SGB II entfallen, sondern weil sie eine Beschäftigung in einem Umfang (20 Wochenstunden) aufgenommen hat, der ihre Beschäftigungslosigkeit (§ 119 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. Abs. 3 SGB III a. F., heute: § 138 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. Abs. 3 SGB III) und somit den Anspruch auf Arbeitslosengeld ausschließt.

 

d. Einem Erstattungsanspruch der Beklagten nach § 104 SGB X steht entgegen, dass sie im Verhältnis zum Beigeladenen nicht nachrangig verpflichtet i.S.v. Abs. 1 Satz 2 der Vorschrift war.

 

III. Billigkeitserwägungen oder eine für die Klägerin sich ergebende Härte machen die angefochtene Aufhebungs- und Erstattungsentscheidung der Beklagten nicht rechtswidrig. Billigkeitserwägungen drängen sich im vorliegenden Fall auf. Es ist nach Lage des Falles nicht ersichtlich, weshalb die Beklagte, der die fehlende Beschäftigungslosigkeit der Klägerin seit dem 3. Juni 2011 bekannt war, nicht umgehend – insbesondere vor der Auszahlung des für Juni 2011 bestimmten Arbeitslosengeldes am 24. Juni 2011 – diese Leistung für die Zeit ab dem 3. Juni 2011 eingestellt hat. § 331 Abs. 1 Satz 1 SGB III bietet die Rechtsgrundlage für ein solches Vorgehen. Die Beklagte könnte insoweit nicht einwenden, sie habe zunächst abwarten wollen, bis die Klägerin – wie ihr aufgetragen (s. den Verbis-Vermerk vom 3. Juni 2011) – den Arbeitsvertrag eingereicht habe. Denn dieser Vertrag wurde auch bis zu den Aufhebungsbescheiden vom 27. Juni und 1. Juli 2011 nicht eingereicht, war also offenkundig für die Aufhebungsentscheidung der Beklagten nicht von Bedeutung. Bei rechtzeitiger, d.h. vor Auszahlung am 24. Juni 2011 erfolgter Einstellung des Arbeitslosengelds hätte der Klägerin gegenüber dem Beigeladenen ein höherer Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II zugestanden, weil ihr Arbeitslosengeld in wesentlich geringerem Umfang als zuvor – nämlich nur für den 1. und 2. Juni 2011 – zugeflossen wäre. Dies geltend zu machen, war ihr nach dem (rechtswidrigen) Zufluss von Arbeitslosengeld im Juni 2011 nicht mehr möglich, weil im Hinblick auf die im SGB II geltenden Grundsätze – hier: das Monats- und das Zuflussprinzip – sich die insoweit maßgeblichen Verhältnisse (Bedarfe und Einkommen der Klägerin) in diesem Monat durch die rückwirkende Leistungsaufhebung nicht geändert haben. Die insoweit entstehenden Härten, die (allein) durch eine fehlerhafte Arbeitsweise eines Sozialleistungsträgers bedingt sind und in der Folge zum rechtswidrigen Zufluss von als Einkommen i.S.v. § 11 SGB II zu wertenden Sozialleistungen führen, können im Verhältnis zum Leistungsempfänger ausschließlich bei einer Entscheidung über den Erlass der Erstattungsforderung Berücksichtigung finden (BSG, Urteil vom 23. August 2011 – B 14 AS 165/10 R –, juris Rn. 26)

 

Ein solcher (von der Klägerin zu beantragender) Erlass nach § 76 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV)liegt hier unter dem Gesichtspunkt der Unbilligkeit nahe. Der Begriff der Unbilligkeit kann nicht losgelöst vom Ermessen der Behörde gewürdigt werden. Die unlösbare Verzahnung zwingt dazu, nur eine einheitlich zu treffende Ermessensentscheidung anzunehmen. Der Begriff "unbillig" ragt in den Ermessensbereich hinein und bestimmt zugleich Inhalt und Grenzen der pflichtmäßigen Ermessensausübung (Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes, Beschluss vom 19. Oktober 1971 – GmS-OGB 3/70 –; BSG, Urteil vom 04. März 1999 – B 11/10 AL 5/98 R –; jeweils juris; skeptisch Becker, SGb 2018, 129). Unter Anwendung der vorgenannten Grundsätze ist die Vollstreckung bzw. Einziehung einer Erstattungsforderung aus sachlichen Gründen unbillig, wenn sie im Einzelfall insbesondere mit Rücksicht auf den Zweck der Regelung nicht zu rechtfertigen ist, obwohl der Sachverhalt zwar den gesetzlichen Tatbestand erfüllt, die Erhebung der Einnahmen aber den Wertungen des Gesetzgebers zuwiderläuft. Umstände, die der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des gesetzlichen Tatbestandes einer Vorschrift bewusst in Kauf genommen hat, sollen dagegen keinen Erlass aus Billigkeitsgründen rechtfertigen (Bundesfinanzhof, Urteil vom 05. Juni 1996 – X R 234/93 –; Landessozialgericht [LSG] Berlin-Branden­burg, Urteil vom 12. November 2008 – L 30 AL 18/07 –‍; vgl. auch Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 5. April 1978 – 1 BvR 117/73; jeweils juris; Becker, SGb 2018, 129; Brandt, in: Kreikebohm SGB IV, 3.A., § 76 Rn. 22; von Boetticher, in: Schlegel/Voelzke, juris Praxiskommentar SGB IV, 3.A. (Stand: 01.03.2016), § 76 Rn. 36). Ein Fall der sog. sachlichen Unbilligkeit liegt z.B. dann vor, wenn der Leistungsträger den Erstattungsanspruch mitverschuldet hat (Becker a.a.O. m.w.N.).

 

Im vorliegenden Fall ist aus Sicht des Senats der der Beklagten im Rahmen von § 76 Abs. 2 SGB IV eingeräumte Ermessensspielraum zur Vermeidung unbilliger Härten auf Null reduziert. Der Senat darf jedoch über einen Erlass der Forderung in diesem Rechtsstreit nicht entscheiden, weil das Verfahren nach § 76 Abs. 2 Nr. 3 SGB IV dem Aufhebungs- und Erstattungsverfahren nachgelagert ist – bevor über einen Erlassantrag entschieden werden kann, muss feststehen, dass eine erlassfähige Forderung überhaupt besteht – und es insoweit an überprüfbaren Verwaltungsentscheidungen der Beklagten fehlt.

 

IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits.

 

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) bestehen nicht.

 

 

Rechtskraft
Aus
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