L 18 AS 132/21

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
18.
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 37 AS 1580/20
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 18 AS 132/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Ein Antrag auf Arbeitslosengeld nach dem SGB III umfasst nicht grundsätzlich einen Antrag auf Arbeitslosengeld nach dem SGB II (Anschluss an BSG, Urteil vom 2. April 2014 – B 4 AS 29/13 R).

Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 4. Dezember 2020 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

 

Außergerichtliche Kosten sind im gesamten Verfahren nicht zu erstatten.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

 

 

 

Tatbestand

 

Im Streit steht die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für den Zeitraum vom 1. Oktober 2019 bis 30. November 2019.

 

Die Klägerin war bis zum 30. September 2019 als Bauzeichnerin bei der S  GmbH sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Nach einer Kündigung durch ihren Arbeitgeber am 26. August 2019 meldete sich sie sich am 27. August 2019 bei der zuständigen Arbeitsagentur zum 1. Oktober 2019 arbeitslos und beantragte Arbeitslosengeld (Alg), das ihr mit Bescheid vom 29. Oktober 2019 für 360 Kalendertage ab dem 1. Oktober 2019 bewilligt wurde (täglicher Leistungsbetrag i.H.v. 27,43 €). Ausweislich eines Vermerks der Bundesagentur für Arbeit (BA) wurde der Klägerin bei ihrer persönlichen Vorsprache am 27. August 2019 das Merkblatt 1 ausgehändigt. Der nächste Kontakt mit der BA fand im Mai 2020 statt. Am 6. November 2019 beantragte die Klägerin Wohngeld, das ihr rückwirkend für den Monat November 2019 i.H.v. 95,- € ausgezahlt wurde. Am 16. Dezember 2019 stellte sie zudem einen Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) bei dem Beklagten mit der Begründung, das Alg reiche nicht aus.

 

Mit Bescheid vom 23. Dezember 2019 bewilligte der Beklagte der Klägerin Alg II-Leistungen für den Zeitraum vom 1. Dezember 2019 bis zum 30. November 2020 ausgehend von einem Regelbedarf i.H.v. 424,- € und Kosten der Unterkunft und Heizung (KdUH) i.H.v. 531,42 €, mithin insgesamt 955,42 €. Als monatliches Einkommen berücksichtigte der Beklagte einen Betrag i.H.v. 792,90 € (= Alg i.H.v. 822,90 € abzügl. Absetzbetrag i.H.v. 30,- €). Mit ihrem Widerspruch beantragte die Klägerin die rückwirkende Leistungsbewilligung ab Oktober 2019 mit der Begründung, sie sei weder von der BA noch von dem Beklagten über die Möglichkeit informiert worden, dass sie neben dem Antrag auf Alg vorsorglich auch einen Antrag auf Alg II hätte stellen können. Das Merkblatt Alg II / Sozialgeld enthalte keine Aussagen hierzu. Den Alg-Bescheid habe sie im November erhalten. Erst dann habe sie feststellen können, dass das ihr bewilligte Alg zum Leben nicht ausreiche. Der Beklagte wies den Widerspruch zurück (Widerspruchsbescheid vom 31. Januar 2020). Zur Begründung führte er an, Leistungen würden nicht für die Zeit vor der Antragstellung erbracht. Ein Beratungsfehler liege nicht vor. Bei der persönlichen Arbeitslosmeldung bei der BA sei der Klägerin das Merkblatt 1 ausgehändigt worden. In Ziffer 4 werde auf die Möglichkeit einer Berechnung der Höhe des Alg-Anspruchs hingewiesen. Aus Ziffer 4.4 ergebe sich, dass bei geringem Alg-Anspruch Leistungen nach dem SGB II beantragt werden könnten. Im Übrigen habe die Klägerin den Alg-Bewilligungsbescheid bereits Anfang November 2019 erhalten. Von daher sei nicht nachvollziehbar, weshalb sie erst Mitte Dezember Alg II beantragt habe.

 

Ihre Klage hat die Klägerin im Wesentlichen damit begründet, das Merkblatt 1 nicht erhalten zu haben. In der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht (SG) Berlin hat sie vorgetragen: Sie habe wegen eines früheren Bezuges von Alg II noch in Erinnerung gehabt, dass erst vorrangige Leistungen beansprucht werden müssten, bevor es Alg II gebe. Daher habe sie erst Alg und dann Wohngeld beantragt. Vor Erlass des Wohngeldbescheides sei ihre finanzielle Situation aber so schlecht gewesen, dass sie zum Beklagten habe gehen müssen. Das SG hat der Klage stattgegeben und den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 23. Dezember 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Januar 2020 verurteilt, der Klägerin „mit Wirkung ab“ 1. Oktober 2019 „Leistungen nach dem SGB II zu gewähren“ (Urteil vom 4. Dezember 2020). Zur Begründung hat das SG im Wesentlichen ausgeführt: Die Klägerin sei nach ihrem glaubhaften Vortrag davon ausgegangen, dass möglichst die vorrangigen Leistungen in Anspruch genommen werden müssten. Gleichzeitig habe sie alle Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts in Anspruch nehmen wollen. Ihr Antrag auf Alg könne im konkreten Fall unter Berücksichtigung des Meistbegünstigungsgrundsatzes als Antrag auf Alg II ausgelegt werden. Für den Monat Oktober 2019 sei der Klägerin daher ein Anspruch auf „volle Leistungen“ i.H.v. 955,42 €, für den Monat November 2019 auf Leistungen i.H.v 162,52 € (955,42 € - 792,90 € Alg) zuzuerkennen.

 

Mit der Berufung wendet sich der Beklagte gegen dieses Urteil. Er trägt vor: Der Antrag auf Alg II könne im vorliegenden Fall nicht unter Berufung auf § 28 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – Verwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) auf den Tag der Alg-Antragstellung zurückwirken, da die Klägerin nicht – wie § 28 SGB X voraussetze – erfolglos eine andere Sozialleistung beantragt habe; vielmehr sei ihr Alg bewilligt worden. Es erschließe sich nicht, warum die Klägerin, die bewusst auf die rechtzeitige Beantragung des Alg II verzichtet habe, vom Meistbegünstigungsgrundsatz profitieren solle. Die rückwirkende Auslegung ihres Antrages auf Alg als Antrag auf Alg II führe dazu, dass dem Beklagten die Geltendmachung eines Erstattungsanspruchs gegenüber dem vorrangig verpflichteten Leistungsträger nicht möglich sei.

 

Der Beklagte beantragt,

 

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 4. Dezember 2020 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

 

Die Klägerin beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf deren vorbereitende Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

 

Die Verwaltungsakte des Beklagten und die Gerichtsakte haben vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.

 

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (vgl. §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG -).

 

Entscheidungsgründe

 

Die Berufung des Beklagten ist begründet.

 

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts vor dem 1. Dezember 2019, so dass das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen war. Der ausschließlich auf die Gewährung von Alg nach dem SGB III gerichtete Antrag der Klägerin, den sie bei der Arbeitsagentur gestellt hat, umfasst nicht zugleich einen Antrag auf Alg II. Ebenso wenig bewirkt der am 16. Dezember 2019 bei dem Beklagten gestellte Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II eine Rückwirkung auf den Zeitpunkt der Beantragung von Alg bei der Arbeitsagentur als nachgeholter Antrag i.S. des § 28 SGB X. Die Klägerin kann ihr Begehren auch nicht auf den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch stützen.

 

Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für den Zeitraum vom 1. Oktober bis 30. November 2019, die der Beklagte durch Bescheid vom 23. Dezember 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Januar 2020 abgelehnt hat. Die Klägerin verfolgt ihren Anspruch zutreffend mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 4 SGG).

 

Die Klägerin hat vor dem 1. Dezember 2019 keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Sie hat vor dem 16. Dezember 2019 keinen Antrag auf Leistungen nach dem SGB II bei dem Beklagten gestellt.

 

Für Zeiten vor der Antragstellung sind nach § 37 Abs. 2 S. 1 SGB II keine Leistungen zu erbringen. Dem Antrag kommt im SGB II zwar keine Bedeutung als materiell-rechtliche Anspruchsvoraussetzung zu. Hilfebedürftigkeit als Leistungsvoraussetzung i.S. von § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 i.V.m. § 9 SGB II kann schon vor der Antragstellung und unabhängig von einer Antragstellung vorliegen (vgl. Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 30. September 2008 - B 4 AS 29/07 R -, juris). Anders als im Sozialhilferecht (§ 18 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch – Sozialhilfe –) ist für den Zeitpunkt des Leistungsbeginns im SGB II jedoch nicht die Kenntnis der Hilfebedürftigkeit durch die Leistungsträger ausreichend, sondern es bedarf des konstitutiven Akts des Antrags desjenigen, der Leistungen nach dem SGB II begehrt (BT-Drucks 15/1516, S. 62). Der Antrag hat insoweit "Türöffnerfunktion" (vgl. BSG, Urteil vom 2. April 2014 – B 4 AS 29/13 R -, juris, Rn. 12). Mit dem konstitutiven Akt der Antragstellung wird das Verwaltungsverfahren in Gang gesetzt; ab diesem Zeitpunkt hat der Leistungsträger die Verpflichtung, das Bestehen des Leistungsanspruchs zu prüfen und zu bescheiden (vgl. BSG im o.a. Urteil vom 2. April 2014, a.a.O. m.w.N.).

 

Die Klägerin kann auch nicht unter Berufung auf § 37 Abs. 2 S. 2 SGB II für den Zeitraum vom 1. Oktober bis 30. November 2019 Alg II beanspruchen. Danach wirkt der Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts auf den Ersten des Antragsmonats zurück. Dieser Regelung hat der Beklagte Rechnung getragen, indem er auf den von der Klägerin am 16. Dezember 2019 gestellten Antrag Leistungen nach dem SGB II bereits vom 1. Dezember 2019 an gewährt hat. Eine (weitergehende) Rückwirkung des Antrages auf Vormonate sieht § 37 Abs. 2 S. 2 SGB II nicht vor.

 

Der Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts gilt auch nicht nach § 16 Abs. 2 S. 2 SGB I als zu dem Zeitpunkt gestellt, in dem der Antrag auf Alg bei der Arbeitsagentur einging (27. August 2019). Dieser bei der Arbeitsagentur gestellte Antrag der Klägerin umfasste nicht zugleich einen solchen auf Leistungen nach dem SGB II. Der Alg-Antrag vom 27. August 2019 war im konkreten Fall ausschließlich auf das Alg nach dem SGB III gerichtet.

 

Bei dem Antrag handelt es sich um eine einseitige, empfangsbedürftige, öffentlich-rechtliche Willenserklärung, auf die – sofern das Sozialrecht keine speziellen Regelungen trifft – die Vorschriften des BGB, insbesondere des § 133 BGB, Anwendung finden (BSG, Urteil vom 17. Juli 1990 - 12 RK 10/89 -, juris Rn. 20). Maßgebend für die Auslegung eines Antrags ist daher – unter Berücksichtigung aller Umstände – der erkennbare wirkliche Willen des Antragstellers (BSG, Urteil vom 23. Februar 1973 - 3 RK 44/71 -, juris Rn. 18). Die Auslegung hat nach dem Grundsatz der Meistbegünstigung zu erfolgen (vgl. BSG Urteil vom 6. Mai 2010 - B 14 AS 3/09 R , juris Rn. 14). Danach ist, sofern eine ausdrückliche Beschränkung auf eine bestimmte Leistung nicht vorliegt, davon auszugehen, dass der Antragsteller die nach der Lage des Falls ernsthaft in Betracht kommenden Leistungen begehrt, unabhängig davon, welchen Antragsvordruck er hierfür benutzt oder welchen Ausdruck er gewählt hat (BSG, Urteil vom 11. September 2001 - B 2 U 41/00 R -, juris Rn. 24).

 

Eine Berufung auf den Meistbegünstigungsgrundsatz kann jedoch in einer Konstellation wie der hier vorliegenden – also der ausdrücklichen Beantragung einer Sozialleistung (Alg nach dem SGB III) bei dem für die weitere Leistung (Alg II) unzuständigen Träger – allenfalls dann angenommen werden, wenn der Antragsteller einen für den unzuständigen Leistungsträger erkennbaren Willen zum Ausdruck bringt, neben der beantragten Leistung noch weitere Sozialleistungen zu begehren. Zumindest bedarf es dann im Verhältnis von Alg zu Alg II tatsächlicher Angaben – unter Berücksichtigung der Laiensicht –, aus denen insbesondere auf die Hilfebedürftigkeit, aber ggf. auch das Vorliegen anderer Anspruchsvoraussetzungen der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zu schließen ist. Dies kann etwa dadurch geschehen, dass der Antragsteller zu erkennen gibt, ihm fehle es an hinreichenden finanziellen Mitteln, um den Lebensunterhalt zu bestreiten, weshalb er auf weitere Sozialleistungen als die ausdrücklich beantragten angewiesen sei (vgl. BSG im o.a. Urteil vom 2. April 2014, a.a.O., dort Rn. 16). Nur so kann im Übrigen ausgeschlossen werden, dass ein hilfebedürftiger Leistungsberechtigter, der keine Grundsicherungsleistungen in Anspruch nehmen möchte, gleichwohl in die Situation gelangt, als Antragsteller auf diese Leistungen behandelt zu werden, verbunden damit, dass für ihn das System des Forderns und Förderns gilt (s. zur Vermeidung des Grundsicherungsleistungsbezugs durch die Leistung des Kinderzuschlags nach § 6a BKGG: BT-Drucks 15/1516, S 83). Einen Willen, Leistungen nach dem SGB II zu beantragen, hat die Klägerin gegenüber der BA jedoch gerade nicht bekundet, da sie – wie sie in der mündlichen Verhandlung vor dem SG ausführt hat – davon ausging, erst die vorrangigen Leistungen beanspruchen zu müssen und im Übrigen auch noch keine Kenntnis von der Höhe des Alg-Anspruchs hatte.

 

Danach war der Arbeitsagentur nichts zur finanziellen Situation der Klägerin bekannt. Diese hat gegenüber der Arbeitsagentur nur die Angaben gemacht, die erforderlich waren, um den Anspruch auf Alg nach dem SGB III prüfen zu können. Unabhängig davon, ob hierin bereits eine Beschränkung des Antrags auf Leistungen nach dem SGB III erblickt werden kann, hat die Klägerin ihre finanziell prekäre Situation auch nie gegenüber der Arbeitsagentur thematisiert.

 

Wie das BSG in seinem o.a. Urteil vom 2. April 2014 klargestellt hat, kann auch nicht – wie es offenbar das SG angenommen hat – aus grundsätzlichen Erwägungen abgeleitet werden, aus dem Meistbegünstigungsgrundsatz folge, dass ein bei der Arbeitsagentur gestellter Antrag auf Alg nach dem SGB III immer auch einen solchen auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II beinhalte. Alg und Alg II unterscheiden sich im Hinblick auf Anspruchsvoraussetzungen, Leistungssystem und -verantwortung grundlegend, sodass der Antrag auf die eine Leistung nicht zugleich grundsätzlich als ein Antrag auf die andere Leistung angesehen werden kann (vgl. BSG im o.a. Urteil vom 2. April 2014, a.a.O., dort Rn. 19). Während ein Anspruch auf Alg nach § 136 SGB III das Bestehen von Arbeitslosigkeit erfordert, ist dies nicht Voraussetzung für einen Anspruch auf Alg II, der vielmehr u.a. Hilfebedürftigkeit (§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB II) voraussetzt, ohne dass diese durch Arbeitslosigkeit i.S. des § 138 SGB III hervorgerufen worden sein müsste. Wie das BSG in der vorgenannten Entscheidung unter Begründung im Einzelnen klargestellt hat, kommt wegen dieser mangelnden Anknüpfung des Alg II an die Arbeitslosigkeit auch eine Übertragung der Rechtsprechung des BSG zu dem Verhältnis von Alg-Antrag zu Alhi-Antrag auf das Verhältnis von Alg-Antrag zu Alg II-Antrag nicht in Betracht (a.a.O., dort Rn. 19 f.). Dieser überzeugend begründeten Auffassung schließt sich der Senat an, zumal im Unterschied zur Rechtslage vor dem 1. Januar 2005 nun nicht mehr ein und derselbe Leistungsträger für die Gewährung von Alg und Alg II Verantwortung trägt.

 

Wie der Beklagte in der Berufung zu Recht vorgetragen hat, kann sich die Klägerin auch nicht mit Erfolg darauf stützen, ihr Antrag auf Leistungen nach dem SGB II wirke nach § 28 SGB X auf den Tag der Alg-Antragstellung zurück, um für den Zeitraum vom 1. Oktober bis zum 30. November 2019 zu einer Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts durch den Beklagten zu gelangen. Nach § 28 Satz 1 SGB X wirkt ein nachgeholter Antrag bis zu einem Jahr zurück, wenn ein Leistungsberechtigter von der Stellung eines Antrages auf eine Sozialleistung abgesehen hat, weil ein Anspruch auf eine andere Sozialleistung geltend gemacht worden ist, und diese Leistung versagt wird oder zu erstatten ist, wenn der nunmehr nachgeholte Antrag innerhalb von sechs Monaten nach Ablauf des Monats gestellt ist, in dem die Ablehnung oder Erstattung der anderen Leistung bindend geworden ist. Nach Satz 2 gilt dies auch dann, wenn der rechtzeitige Antrag auf eine andere Leistung aus Unkenntnis über deren Anspruchsvoraussetzung unterlassen wurde und die zweite Leistung gegenüber der ersten Leistung, wäre diese erbracht worden, nachrangig gewesen wäre. Die hier vorliegende Fallkonstellation, dass die andere Sozialleistung – das Alg nach dem SGB III –- nicht versagt worden ist, sondern bewilligt wurde und nur nicht ausreicht, um den Lebensunterhalt der Klägerin sicherzustellen, unterfällt dieser Regelung nicht. Dies ergibt sich eindeutig aus dem Wortlaut der Vorschrift. Der Gesetzeswortlaut spricht in Satz 1 des § 28 SGB X von "versagen", also dem erfolglosen Beantragen einer anderen Sozialleistung und ihrer "Ablehnung" durch eine negative Verwaltungsentscheidung. Nichts Anderes gilt für Satz 2 des § 28 SGB X, der davon ausgeht, dass die vorrangige Leistung tatsächlich nicht erbracht worden ist. In der hier vorliegenden Fallkonstellation ist das Gegenteil dessen erfolgt. Die "andere Sozialleistung", also das Alg nach dem SGB III, ist antragsgemäß von der Arbeitsagentur bewilligt worden.

 

Eine analoge Anwendung der Vorschrift auf die zuvor dargelegte Fallkonstellation scheidet, wie das BSG im o.a. Urteil vom 2. April 2014 dargelegt hat (a.a.O., Rn. 25), ebenfalls aus. Es mangelt insoweit bereits an einer planwidrigen Lücke. Dies folgt aus der Gesetzesbegründung sowie dem Sinn und Zweck der Norm und systematischen Überlegungen. Auf die überzeugenden Ausführungen im vorgenannten Urteil, denen sich der Senat nach eigener Prüfung anschließt, wird Bezug genommen.

 

Auch der sozialrechtliche Herstellungsanspruch verhilft der Klägerin nicht zum Erfolg. Rechtsgrundlage für die Beratungspflicht in Form einer Hinweispflicht sind die §§ 14, 15 SGB I. Eine umfassende Beratungspflicht des Sozialversicherungsträgers bzw. des Sozialleistungsträgers besteht zunächst regelmäßig bei einem entsprechenden Beratungs- und Auskunftsbegehren des Leistungsberechtigten (vgl. BSG, Urteil vom 17. August 2000 - B 13 RJ 87/98 R -, juris Rn. 38; BSG Urteil vom 14. November 2002 - B 13 RJ 39/01 R -, juris Rn. 43). Ausnahmsweise besteht nach ständiger Rechtsprechung des BSG auch dann eine Hinweis- und Beratungspflicht des Leistungsträgers, wenn anlässlich einer konkreten Sachbearbeitung in einem Sozialrechtsverhältnis dem jeweiligen Mitarbeiter eine naheliegende Gestaltungsmöglichkeit ersichtlich ist, die ein verständiger Versicherter/Leistungsberechtigter wahrnehmen würde, wenn sie ihm bekannt wäre (st. Rspr. des BSG, vgl. nur BSG, Urteil vom 27. Juli .2004 - B 7 SF 1/03 R -, juris Rn. 15 f.). Dabei ist die Frage, ob eine Gestaltungsmöglichkeit klar zu Tage liegt, allein nach objektiven Merkmalen zu beurteilen. Eine derartige Situation lag hier nicht vor.

 

Wie oben bereits dargelegt, hat die Klägerin gegenüber der BA nichts geäußert, was deren Beratungspflicht hätte auslösen können. Sie hat nach eigenem Vorbringen erst am 19. Mai 2020 wieder Kontakt zur Arbeitsagentur gehabt. Kenntnis von der finanziell prekären Situation der Klägerin hat die BA zu keinem Zeitpunkt und insbesondere auch nicht beim Erstkontakt am 27. August 2019 erlangt. Von daher kommt es nicht darauf an, ob die Klägerin – was diese bestreitet – das Merkblatt 1 erhalten hat, aus dem sich sowohl der Hinweis auf eine mögliche Selbstberechnung des Alg-Anspruchs als auch auf die Möglichkeit, sich im Fall eines nur sehr geringen Alg-Anspruchs mit dem zuständigen Jobcenter in Verbindung zu setzen, ergab.

 

Lediglich ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass die Klägerin bereits im Jahr 2018 aufstockende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts bezogen hatte, also mit dem System des SGB II durchaus vertraut war, weshalb aus Sicht des Senats Zweifel an der von ihr geschilderten Unkenntnis der Möglichkeit, Alg II zu beantragen, bestehen. Im Übrigen erscheint nicht nachvollziehbar, warum die Klägerin angesichts ihrer finanziell prekären Situation erst Mitte Dezember Alg II beantragte, obwohl sie den Alg-Bewilligungsbescheid bereits Anfang November 2019 erhalten hatte und damit die Höhe der ihr zur Verfügung stehenden Finanzmittel kannte. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätte eine Beantragung von Alg II-Leistungen nahegelegen, die ihr gem. § 37 Abs. 2 S. 2 SGB II rückwirkend zum Monatsersten (1. November 2019) auch zu gewähren gewesen wären.

 

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.

 

 

Rechtskraft
Aus
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