Ist der Kläger für das Gericht postalisch nicht (mehr) erreichbar, fehlt grundsätzlich das Rechtsschutzbedürfnis für sein geltend gemachtes Begehren (Anschluss an BSG, Beschluss vom 18. November 2003 – B 1 KR 1/02 S).
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 21. Juli 2017 wird als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten sind für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Aufhebung und Erstattung von Leistungen zur Grundsicherung nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit vom 1. Januar 2005 bis zum 31. Januar 2006.
Die 1963 geborene Klägerin beantragte erstmals im November 2004 für sich Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Die Rechtsvorgängerin des Beklagten (im Folgenden einheitlich: der Beklagte) bewilligte ihr daraufhin und aufgrund von Folgeanträgen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II wie folgt (Geldbeträge jeweils in Euro):
Bescheid |
Bewilligungszeitraum |
Gesamt-leistung |
Regel-leistung |
Kosten für Unterkunft und Heizung (KdU) |
8.12.2004 |
1.1. bis 30.4.2005 |
353,46 |
314,26 |
39,20 |
22.4.2005 |
1.5. bis 31.10.2005 |
353,46 |
314,26 |
39,20 |
24.10.2005 |
1.11.2005 bis 31.1.2006 |
407,85 |
331.- |
76,85 |
Nachdem eine ebenso wie die Klägerin in L wohnende Person im November 2005 gegenüber dem Beklagten angegeben hatte, die Klägerin lebe in eheähnlicher Gemeinschaft mit ihrem heutigen Ehemann (T S), führte der Beklagte hierzu Ermittlungen durch. Außerdem leiteten die Strafermittlungsbehörden – als Folge einer am 2. Oktober 2007 gestellten Strafanzeige durch den Beklagten – ein Ermittlungsverfahren gegen die Klägerin ein. In diesem Zusammenhang erfolgte am 17. Mai 2010 eine richterlich angeordnete Hausdurchsuchung.
Die die Klägerin und ihren Ehemann betreffende Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Cottbus vom 12. September 2011 erhielt der Beklagte gemeinsam mit weiteren Unterlagen aus der Ermittlungsakte (spätestens) am 3. November 2011.
Nach erneuter Anhörung der Klägerin (Schreiben vom 30. Dezember 2011) nahm der Beklagte die Leistungsbewilligungen in den Bescheiden vom 8. Dezember 2004, 22. April 2005 und 24. Oktober 2005 „ganz“ zurück und forderte erbrachte Leistungen i.H.v. 4.758,15 € sowie Beiträge zur Kranken-und Pflegeversicherung i.H.v. 1.818,31 € zurück (Bescheid vom 19. Januar 2012, Widerspruchsbescheid vom 11. Juli 2012), weil die Klägerin in ihren Anträgen vom 8. November 2004, 14. April 2005 und 13. Oktober 2005 zumindest grob fahrlässig falsche oder unvollständige Angaben im Hinblick auf eine Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft mit Herrn S gemacht habe.
Mit Urteil vom 21. Juli 2017 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und zur Begründung u.a. ausgeführt: Rechtsgrundlage für die angefochtenen Bescheide des Beklagten seien § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 und 3 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) i.V.m. § 40 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 1 SGB II, § 330 Abs. 2 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) sowie § 50 SGB X. Zu Recht sei der Beklagte davon ausgegangen, dass die Klägerin und ihr heutiger Ehemann im streitigen Zeitraum in einer eheähnlichen Gemeinschaft gelebt hätten.
Gegen dieses ihr am 7. August 2017 zugestellte Urteil richtet sich die am 4. September 2017 eingegangene Berufung der Klägerin, zu deren Begründung sie das Vorliegen einer eheähnlichen Gemeinschaft für den hier betroffenen Zeitraum bestreitet.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 21. Juli 2017 und den Bescheid des Beklagten vom 19. Januar 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Juli 2012 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend und erklärt, den Bescheid vom 19. Januar 2012 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 11. Juli 2012 für den Monat Juli 2005 teilweise i.H.v. 150,18 € Regelleistung, 39,10 € KdU, 125,01 € Beiträge zur Krankenversicherung und 14,86 € Beiträge zur Pflegeversicherung aufzuheben, sodass für diesen Monat nur noch 164,08 € (= 353,46 € bewilligte Leistung - 189,38 € Leistungsanspruch) zu erstatten seien (Schriftsatz vom 16. Juli 2020).
Die Klägerin ist nach Auskunft der zuständigen Einwohnermeldebehörde (Amt Bad Doberan-Land) am 21. Januar 2020 nach Norwegen verzogen, ohne eine neue Anschrift zu hinterlassen. Sie ist nach einer Auskunft der Königlich Norwegischen Botschaft Berlin vom 30. Oktober 2020 weder im zentralen norwegischen Personenregister noch im dortigen Telefonbuch eingetragen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsakte des Beklagten, die dem Senat vorgelegen hat, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung hat keinen Erfolg. Sie ist unzulässig geworden, nachdem die Klägerin für das Gericht postalisch nicht mehr erreichbar ist.
I. Der Klägerin fehlt das für die Fortführung ihres Berufungsverfahrens erforderliche Rechtsschutzbedürfnis.
1. Art. 19 Abs. 4 Satz 1 Grundgesetz (GG) gewährleistet den Rechtsweg im Rahmen der jeweiligen einfach-gesetzlichen Prozessordnungen. Der Weg zu den Gerichten, insbesondere auch zur inhaltlichen Überprüfung einer Verwaltungsentscheidung, darf von der Erfüllung und dem Fortbestand bestimmter formaler Voraussetzungen abhängig gemacht werden. Im Einklang mit Art. 19 Abs. 4 GG setzt jede an einen Antrag gebundene gerichtliche Entscheidung ein Rechtsschutzbedürfnis voraus. Nur derjenige, der mit dem von ihm angestrengten gerichtlichen Rechtsschutzverfahren ein rechtsschutzwürdiges Interesse verfolgt, kann eine gerichtliche Sachentscheidung beanspruchen; fehlt es daran, so ist das prozessuale Begehren unzulässig. Das erforderliche Rechtsschutzinteresse kann im Laufe eines gerichtlichen Verfahrens entfallen. Vom Wegfall eines ursprünglich gegebenen Rechtsschutzbedürfnisses darf ein Gericht im Einzelfall u.a. dann ausgehen, wenn das Verhalten eines rechtsschutzsuchenden Verfahrensbeteiligten Anlass zur Annahme bietet, dass ihm an einer Sachentscheidung des Gerichts nicht mehr gelegen ist. Eine hierauf gestützte Abweisung eines Rechtsschutzbegehrens mangels Sachbescheidungsinteresses begegnet grundsätzlich keinen verfassungsrechtlichen Bedenken (Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Kammerbeschluss vom 27. Oktober 1998 – 2 BvR 2662/95 –, Rn. 15 ff., juris, m.w.N.).
2. Jedes zulässige Rechtsschutzbegehren setzt mindestens voraus, dass dem Gericht die Anschrift des Rechtsuchenden bekannt ist. Auch in dem sich allgemein durch Bürgerfreundlichkeit und fehlende Formenstrenge auszeichnenden sozialgerichtlichen Verfahren ist es geboten, §§ 90, 92 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nach ihrem Sinn und Zweck so auszulegen, dass sie den Rechtsuchenden zumindest dazu verpflichten, eine Anschrift zu nennen. Ermöglichen es Rechtsschutzsuchende dem Gericht nicht, sie postalisch zu erreichen, z.B. indem sie umziehen, ohne dem Gericht ihre neue Anschrift mitzuteilen, bringen sie damit zum Ausdruck, dass ihnen an einer gerichtlichen Entscheidung nicht mehr gelegen ist. Ihr Rechtsschutzbedürfnis ist dann entfallen.
a. Der Angabe des Wohnsitzes bzw. Aufenthalts- oder Beschäftigungsortes des Rechtsuchenden bedarf es für das erstinstanzliche Verfahren grundsätzlich bereits, um die örtliche Zuständigkeit des Gerichts nach § 57 Abs. 1 bis 3 SGG (bzw. nach Sonderregelungen in den einzelnen Sozialleistungsbereichen) feststellen zu können und damit ein Tätigwerden des zuständigen "gesetzlichen Richters" i.S.v. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zu gewährleisten. Denn im Sozialgerichtsverfahren ist die örtliche Zuständigkeit nicht disponibel (vgl. § 59 SGG).
Das Bedürfnis nach Offenlegung einer Anschrift ist darüber hinaus für Verfahren in allen Instanzen unumgänglich, um die rechtswirksame Zustellung gerichtlicher Anordnungen und Entscheidungen bewirken zu können (vgl. § 63 Abs. 2 SGG i.V.m. §§ 166 ff. Zivilprozessordnung – ZPO). Dass auf das verfahrensrechtliche Mittel einer öffentlichen Zustellung wegen unbekannten Aufenthalts des Betroffenen (§ 185 Nr. 1 ZPO) zurückgegriffen werden könnte, steht dem nicht entgegen. Zum einen kommt diese Zustellungsart nach ihren strengen Voraussetzungen wegen der Gefahr der möglichen Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nur in atypischen Ausnahmefällen in Betracht und ist daher als Regelzustellung bei planmäßigem, nicht gerechtfertigtem Schweigen eines Betroffenen über seinen Aufenthalt nicht vorgesehen (BSG, Beschluss vom 18. November 2003 – B 1 KR 1/02 S –, juris). Zum anderen ermöglicht die öffentliche Zustellung lediglich eine weitere Zustellungsart, lässt indes keine Aussage über das Rechtsschutzbedürfnis eines Beteiligten, der seine Anschrift dem Gericht vorenthält, zu.
Weiter sprechen kostenrechtliche Gründe (§ 193 SGG) sowie die Notwendigkeit, für die erforderlichen Sachermittlungen unmittelbaren Zugang zum Rechtsuchenden erlangen zu können, für die oben vertretene Ansicht. Mit der Einleitung eines sozialgerichtlichen Verfahrens begibt sich der Rechtsuchende in eine Rolle, die trotz des hier geltenden Amtsermittlungsprinzips regelmäßig ein Mindestmaß an aktiver Mitwirkung erfordert (vgl. § 103 Satz 1 Halbsatz 2, § 106 Abs. 1, § 111 Abs. 1 SGG); dies ist ohne sichere, auch für den Prozessgegner transparente Kommunikationsmöglichkeiten mit ihm (vgl. § 128 Abs. 2 SGG) nicht gewährleistet (BSG a.a.O.). Die Mitteilung einer E-Mail-Adresse ist für diese Zwecke ebenso ungeeignet wie die Angabe einer Mobilfunknummer (BSG a.a.O.).
Dass die Zulässigkeit eines Rechtsschutzbegehrens die Mitteilung einer Anschrift des Beteiligten erfordert, entspricht der Rechtsprechung der für die Prozessordnungen des öffentlichen Rechts zuständigen obersten Bundesgerichte (BSG a.a.O.; Bundesfinanzhof [BFH], Beschluss vom 30. Juni 2015 – X B 28/15 –; Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 13. April 1999 – 1 C 24/97 –; jeweils juris und m.w.N.) und zahlreichen Stimmen in der Literatur (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Sozialgerichtsgesetz, 13.A., § 90 Rn. 4, § 92 Rn. 4; Binder, in: Berchtold, Sozialgerichtsgesetz, 6.A.; § 92, Rn. 5; Föllmer, in: Schlegel/Voelzke, juris Praxiskommentar SGG, § 92 SGG [Stand: 13.08.2020], Rn. 14 ff.; beck-online.Großkommentar/Jaritz, SGG § 92 [Stand: 01.09.2019], Rn. 26).
b. Diese Grundsätze gelten auch dann, wenn die zunächst zutreffende Anschrift im weiteren Prozessverlauf unrichtig wird. Rechtsuchende haben auch dafür Sorge zu tragen, dass sie durch die Angabe ihres tatsächlichen Wohnortes und Lebensmittelpunktes für das Gericht erreichbar bleiben (BVerfG, Beschluss vom 06. November 2009 – 2 BvL 4/07 –, Rn. 27; BFH, Beschluss vom 30. Juni 2015 – X B 28/15 ‒, Rn. 14; jeweils juris und m.w.N.).
c. Ausnahmen von der Pflicht, die Anschrift zu nennen, können nach den Umständen des Einzelfalls anzuerkennen sein, wenn dem Betroffenen dies aus schwerwiegenden, beachtenswerten Gründen unzumutbar ist, z.B. bei einem besonders schützenswerten Geheimhaltungsinteresse in einem Adoptionsverfahren (Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 01. März 2012 – L 8 SO 3/12 B ER –, juris).
3. Hieran gemessen ist das Rechtsschutzbedürfnis der Klägerin entfallen. Denn sie ist seit ihrem Umzug nach Norwegen im Januar 2020 für das Gericht postalisch nicht mehr erreichbar. Ein Geheimhaltungsinteresse der Klägerin ist nicht erkennbar.
II. Ergänzend weist der Senat darauf hin, dass die Berufung – über das vom Beklagten mit Schriftsatz vom 16. Juli 2020 erklärte Teilanerkenntnis hinaus – auch aus den vom Sozialgericht genannten Gründen (§ 153 Abs. 4 SGG) ohne Erfolg bliebe.
III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits.
Die Revision wird nicht zugelassen, weil Gründe hierfür (§ 160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen.