L 19 AS 559/20 NZB

Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
19
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 39 AS 11658/15
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 19 AS 559/20 NZB
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze

1. Kündigt ein Beteiligter an, weitere Verfahrenshandlungen vornehmen zu wollen (hier: Vorlage von PKH-Unterlagen) und setzt das Gericht hierzu keine Frist, so muss es lediglich eine angemessene Zeit warten, zu einer Nachfrage oder Erinnerung ist es nicht verpflichtet. 2. Rechtliche Empfehlungen oder Hinweise zur Rechtslage des Revisionsgerichts an das Berufungsgericht sind keine divergenzfähigen REchtssätze, von denen i.S.d. § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG abgewichen werden kann.

Die Beschwerde der Kläger gegen die Nichtzulassung der Berufung in dem Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 16. Januar 2020 wird zurückgewiesen.

 

Kosten sind auch für das Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

 

Der Antrag auf Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.

 

 G r ü n d e :

 

I.

1. Die am 5. April 2020 erhobene Nichtzulassungsbeschwerde der Kläger gegen die Nichtzulassung der Berufung in dem den Klägern am 5. März 2020 zugestellten Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 16. Januar 2020 ist zulässig, insbesondere gemäß § 145 Abs. 1 Sätze 1 und 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegt.

 

Sie ist auch statthaft. Nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG bedarf die Berufung der Zulassung im Urteil des Sozialgerichtes oder auf Beschwerde durch Beschluss des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750,00 Euro nicht übersteigt. Ein auf eine Geldleistung gerichteter Verwaltungsakt ist nicht nur gegeben, wenn eine Leistung bewilligt wird, sondern auch wenn eine Leistung abgelehnt, entzogen, auferlegt, erlassen oder gestundet wird. Hier beträgt der Wert des Beschwerdegegenstandes 533,25 Euro. Es ging den Klägern um höhere Leistungen für neun Monate (1. Februar 2015 bis zum 31. Oktober 2015). Als Kosten der Unterkunft und Heizung beanspruchten sie im Ergebnis Leistungen in Höhe von jeweils 344,15 Euro, der Beklagte hatte dagegen monatlich lediglich 284,90 Euro bewilligt.

 

2. Die Beschwerde ist unbegründet. Die Berufung ist nicht zuzulassen.

 

Als Zulassungsgrund ist vorliegend allein § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG angeführt. Divergenz liegt jedoch nicht vor.

 

Divergenz liegt vor, wenn das Sozialgericht in der angefochtenen Entscheidung einen tragenden Rechtssatz in Abweichung von einem abstrakten Rechtssatz in einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des Bundessozialgerichts, des gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshilfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichtes aufgestellt hat. Divergenz setzt Widerspruch zu entscheidungstragenden Rechtssätzen voraus (vgl. etwa Bundessozialgericht [BSG], Beschluss vom 5. November 2019 - B 13 R 257/18 BE -, Juris). Eine Abweichung liegt folglich nicht schon dann vor, wenn die Entscheidung des Sozialgerichtes nicht den Kriterien entspricht, die die obersten Gerichte aufgestellt haben, sondern erst dann, wenn es diesen Kriterien widersprochen, also andere rechtliche Maßstäbe entwickelt hat. Die Unrichtigkeit der Entscheidung des Sozialgerichtes im Einzelfall begründet hingegen keine Divergenz im Sinne der Bestimmung (vgl. BSG, Beschluss vom 5. Oktober 2010 – B 8 SO 61/10 B -, Juris, Rn. 11 m. w. N.).

 

a. Das Sozialgericht weicht zunächst nicht von dem von den Klägern angegebenen Urteil des BSG vom 15. Juni 2016 – B 4 AS 36/15 R – ab. Die Entscheidung des BSG betrifft ausschließlich prozessuale Fragen. In seinem Urteil hat das Gericht erkannt, dass schon im Vorfeld einer Leistungsabsenkung eine Klage auf Feststellung, dass keine Kostensenkungsobliegenheit besteht, zulässig ist, und zwar wenn der „Dialog“ über das Kostensenkungserfordernis beendet sei, der Leistungsträger an der Kostensenkungsaufforderung festhalte, ein berechtigtes Interesse in der Gestalt einer Unzumutbarkeit oder Unmöglichkeit der Kostensenkung vom Leistungsberechtigten dargebracht und der Streit zwischen den Beteiligten im Ganzen bereinigt werde.

 

Es liegt auf der Hand, dass die prozessuale Situation sich grundlegend von der dieses Verfahrens unterscheidet: Denn entschieden hat das Gericht, welcher verfahrensrechtliche Weg schon vor einer Leistungsabsenkung, aber nach Ergehen einer Kostensenkungsaufforderung von einem Leistungsberechtigten zulässigerweise beschritten werden kann. Zuvor war in dem betreffenden Verfahren entschieden worden, eine Kostensenkungsaufforderung stelle keinen Verwaltungsakt dar, könne deshalb auch nicht angefochten werden, ein Feststellungsantrag sei unzulässig, weil es am erforderlichen Feststellungsinteresse mangele. Dem ist das BSG entgegengetreten und hat entschieden, dass eine Feststellungsklage nach einer Kostensenkungsaufforderung im Vorfeld einer möglichen Leistungsabsenkung grundsätzlich statthaft ist.

 

Die weiteren Ausführungen des BSG, auf die die Kläger sich beziehen, stellen sich nicht als Teil der – vom Wortlaut des § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG ausdrücklich geforderten – „Entscheidung“ des BSG dar. Das BSG hat das Berufungsurteil des LSGs aufgehoben und die Klage zurückverwiesen. Die bei dieser Gelegenheit gegebenen Hinweise des BSG sind von vornherein nicht divergenzfähig, anders als die Kläger meinen.

 

Rechtliche Empfehlungen an das Berufungsgericht für die weitere Behandlung der Rechtssache nach einer Zurückverweisung, wie sie sich nicht selten in Revisionsurteilen finden, sind keine Rechtssätze, von denen „abgewichen“ werden könnten. Schon das Berufungsgericht, an das zurückverwiesen wird, binden sie nach § 170 Abs. 5 SGG nicht, weil sie nicht ursächlich gewesen sein können für die Aufhebung des angegriffenen (Berufungs-)Urteils (vgl. Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Auflage 2020, § 170 Rn. 11 f). Derartige Hinweise, so bedeutsam sie sicherlich auch immer sein mögen, sind erst recht nicht divergenzgeeignet (so bereits Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 3. April 1974 – II B 72.73 -; Urteil vom 25. Mai 1984 – 8 C 108.82 – jeweils Juris; Buchheister, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand 39. Ergänzungslieferung Juli 2020, § 132 Rn. 81; Seibert, in: Sodan/Ziekow, Kommentar zur VwGO, 4. Auflage 2014, § 124 Rn. 173; vgl. auch Nober, in: Baumbach/Lauterbach, ZPO, 78. Auflage 2020, § 543 Rn. 19), ebenso wie obiter dicta (vgl. hierzu schon Beschluss des Senats vom 16. Dezember 2019 – L 19 AS 1752/19 NZB – m. w. N.).

 

b. Auch das von den Klägern weiter angeführte Urteil des BSG vom 30. Januar 2019 – B 14 AS 11/18 R – enthält keinen entscheidungstragenden Rechtsatz, von dem das Sozialgericht abgewichen ist.

 

Die Entscheidung beschäftigt sich mit den Anforderungen an ein schlüssiges Konzept im Rahmen des § 22 Abs. 1 Satz 1 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). In diesem Zusammenhang erläutert das BSG, wie die angemessenen Bedarfe für Unterkunft und Heizung im Rahmen der Leistungsbewilligung nach dem SGB II ermittelt werden, wie sich also die angemessene Nettokaltmiete in dem maßgeblichen örtlichen Vergleichsraum nach einem schlüssigen Konzept bestimmen lässt. In diesem Zusammenhang erwähnt das BSG, dass bei der Ermittlung des angemessenen Umfangs der Aufwendungen für die Unterkunft auch die Zumutbarkeit der, so das BSG, „notwendigen“ Einsparungen zu prüfen sei, einschließlich eines Umzugs.

 

Vorliegend stützt sich das Sozialgericht jedoch ausdrücklich auf § 22 Abs. 1 Satz 4 SGB II. Die Bestimmung geht von einem bestimmten Ergebnis aus, nämlich von unangemessenen Aufwendungen, und bestimmt, dass die Absenkung der nach Satz 1 des § 22 Abs. 1 SGB II unangemessenen Aufwendungen nicht gefordert werden müsse, wenn diese Absenkung unter Berücksichtigung der bei einem Wohnungswechsel zu erbringenden Leistungen unwirtschaftlich wäre. § 22 Abs. 1 Satz 4 SGB II setzt also eine abgeschlossene Ermittlung der angemessenen Wohnkosten nach Satz 1 voraus. Auf § 22 Abs. 1 Satz 4 SGB II geht das BSG in seinem Urteil folgerichtig von vornherein nicht ein, so dass ein Abweichen ebenfalls ausscheidet.

 

Ob das Sozialgericht bereits bei der Ermittlung der Angemessenheitsgrenze nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II von den richtigen Kriterien ausgegangen ist und ob das Gericht den Gehalt der einen Verzicht auf eine Kostensenkungsaufforderung regelnden Bestimmung des § 22 Abs. 1 Satz 4 SGB II zutreffend erkannt hat, kann dahingestellt bleiben. Denn für die Zulassung der Berufung spielte keine Rolle, ob ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen. In auffälligem Unterschied zu § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO sind nämlich in § 144 Abs. 2 SGG mögliche ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteiles als Zulassungsgrund nicht genannt.

 

II.

Der Antrag auf Prozesskostenhilfe ist ebenfalls abzulehnen. Für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist (auch) gesetzliche Voraussetzung, dass die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse eingereicht wird. Die Kläger haben diese - von ihnen unter dem 5. April 2020 angekündigte - Erklärung jedoch bis heute nicht vorgelegt.

 

Kündigt ein Antragsteller an, weitere Unterlagen dem Gericht vorzulegen und setzt das Gericht hierzu keine Frist, so muss es eine angemessene Zeit warten, bevor es entscheidet; zu einer Nachfrage, Fristsetzung oder dergleichen mehr ist es von Verfassungs wegen nicht verpflichtet (vgl. Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Kammerbeschlüsse vom 22. Januar 2019 – 2 BvR 93/19 – und vom 23. Oktober 1992 – 1 BvR 1232/92 –, jeweils Juris). Welche genaue Frist noch angemessen ist, kann dabei nicht abstrakt und generell bestimmt werden, sondern hängt vielmehr von dem konkreten Einzelfall ab (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 16. Dezember 2002 – 2 BvR 654/20 – Juris).

 

Danach kann das Gericht hier über den Prozesskostenhilfeantrag entscheiden. Seit die Kläger selbst die Erklärung über ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vorzulegen angekündigt haben, sind über acht Monate ergebnislos verstrichen; zudem ist bereits in der Eingangsverfügung vom 6. April 2020 vom Gericht ausdrücklich um die Vorlage gebeten worden. In der Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde vom 16. Juni 2020 haben die Kläger obendrein selbst versichert, die Erklärung nunmehr „umgehend“ nachzureichen, woran sie am 19. August 2020 und am 22. September 2020 vom Gericht sogar nochmals erinnert worden sind, freilich ohne jedwede Reaktion. Zumindest sollte es dem Prozessbevollmächtigten nach so langer Zeit möglich gewesen sein mitzuteilen, ob bzw. warum er gehindert ist, die Unterlagen vorzulegen.

 

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

 

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar, § 177 SGG. Mit der Ablehnung der Beschwerde wird das angegriffene Urteil rechtskräftig.

Rechtskraft
Aus
Saved