L 12 R 353/20

Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
12.
1. Instanz
SG Frankfurt (Oder) (BRB)
Aktenzeichen
S 29 R 145/19
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 12 R 353/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Kinder im Alter von 2 ½ und 3 Jahren sind typischerweise geistig noch nicht in der Lage, verbindliche Entscheidungen über eine Arbeit und eine Gegenleistung hierfür zu treffen.

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 1. Oktober 2019 wird zurückgewiesen.

 

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

 

 

Tatbestand

 

 

 

Die Klägerin begehrt eine Leistung nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG).

 

Die Mutter der Klägerin – geboren am 23. Februar 1940, verstorben 3. Mai 2015 – beantragte im März 2010 beim Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen (Bundesamt) eine (von dieser Behörde letztlich abgelehnte) Anerkennungsleistung. Sie gab hierbei an, sie habe ab dem 5. Juli bzw. Oktober 1942 bis zum Januar 1943 gemeinsam mit ihren Eltern als „Zigeunerin“ im Ghetto in N T gelebt und sei während der Arbeiten im Sägewerk und im Schützengraben zusammen mit den Eltern gewesen.

 

Den Antrag der Klägerin auf eine Rente aus Beschäftigungszeiten in einem Ghetto aus der Versicherung ihrer Mutter lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 24. Mai 2016 ab. Das Schreiben der Klägerin vom 21. September 2018, mit dem sie auf eine gemeinsame Zeit ihrer Eltern im Ghetto hinwies und um nochmalige Prüfung bat, wertete die Beklagte als Überprüfungsantrag, den sie mit Bescheid vom 21. November 2018, bestätigt durch den Widerspruchsbescheid vom 25. März 2019, ablehnte. Zur Begründung führte die Beklagte – bezogen allein auf die Mutter der Klägerin – aus, dass es für die Anerkennung von Ghetto-Beitragszeiten keine starre Altersgrenze (Mindestalter) gebe. Bei Kindern, die am Ende der Ghettozeit das dritte Lebensjahr noch nicht vollendet hätten, könne aber unterstellt werden, dass die für eine Ghetto-Beschäftigung erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten nicht vorhanden gewesen seien. Aus einschlägigen Literaturquellen („Encyclopedia of Jewish Life, S. 1507, Encyclopedia of the Ghettos – Nr. 5834“) ergebe sich, dass das o.g. Ghetto am 30. August 1942 aufgelöst worden sei.

 

Mit Schreiben vom 20. Mai 2019, wegen dessen Inhalts auf Blatt 49 der Verwaltungsakte bzw. Bl. 113 in der Gerichtsakte (Übersetzung) verwiesen wird, wandte sich die Klägerin nochmals an die Beklagte.

 

Die Klage der Klägerin, die nach eigenen Angaben Erbin ihrer Mutter und ihres 2009 verstorbenen Vaters ist und ihr Klagebegehren auf Ghetto-Zeiten beider Elternteile bezogen wissen wollte, hat das Sozialgericht mit Gerichtsbescheid vom 1. Oktober 2019 abgewiesen, weil die Mutter der Klägerin keinen Anspruch auf eine Altersrente nach dem Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) habe und das ZRBG im Hinblick auf die Tatbestandsvoraussetzungen von dessen § 1 auf sie nicht anwendbar sei. Zwar sei mit Rücksicht auf ihre noch zu Lebzeiten abgegebenen Erklärungen gegenüber dem Bundesamt durchaus glaubhaft, dass die Mutter der Klägerin als Roma in der Zeit zumindest bis zur Auflösung des Ghettos in N T am 30. August 1942 als Verfolgte zwangsweise in einem Ghetto im Einflussbereich der deutschen Besatzungsmacht habe leben müssen. Nicht glaubhaft sei indes, dass sie aus eigenem freien Willensentschluss einer Beschäftigung im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a und b ZRBG im Ghetto gegen Entgelt nachgegangen sei. Dies gelte auch vor dem Hintergrund, dass das ZRBG für seine Anwendbarkeit kein Mindestalter vorsehe, da auch verbotene Kinderarbeit zugunsten der deutschen Besatzer von den Regelungen des ZRBG zur Wiedergutmachung des nationalsozialistischen Unrechts erfasst werden sollte. Jedoch sei im Fall der Mutter der Klägerin, die bei der Auflösung des Ghettos erst zweieinhalb Jahre alt gewesen sei, nicht glaubhaft, dass diese freiwillig gegen Entgelt eine eigenständige Arbeit zugunsten der deutschen Besatzungsmacht verrichtet habe. Insoweit sei der Beklagten zuzustimmen, dass ein Kind im Alter von unter drei Jahren in aller Regel geistig noch nicht in der Lage sein dürfte, freiwillig eine eigene Entscheidung darüber zu treffen, ob es gegen einen wie auch immer festgelegten Lohn als Gegenleistung arbeiten wolle. Im Fall der Mutter der Klägerin sei auch nicht überwiegend wahrscheinlich, dass sie überhaupt eine eigenständige Arbeit verrichtet und dafür eine eigenständige Gegenleistung erhalten habe. Denn sie habe im Jahr 2010 gegenüber dem Bundesamt angegeben, ihre Eltern zu den Arbeiten im Sägewerk und beim Ausheben von Schützengräben begleitet zu haben; dies sei realistisch. Dass sie dort selbst gearbeitet habe, habe die Mutter der Klägerin indes nicht erklärt. Es sei auch nicht überwiegend wahrscheinlich, dass sie selbst Arbeiten in nennenswertem Umfang verrichtet habe, da es ihr an Kraft und körperlichen Fertigkeiten für Arbeiten im Sägewerk und beim Ausheben von Schützengräben gefehlt haben dürfte. Es sei ebenso wenig überwiegend wahrscheinlich, dass sie für eventuelle Hilfsarbeiten zur Unterstützung der Eltern eigenständig entlohnt worden sei. Die Gegenleistung für die im Ghetto geleistete Arbeit dürfte vielmehr ausschließlich an ihre Eltern gegangen sein. Hinsichtlich des Vaters der Klägerin sei die Klage unzulässig, weil die Beklagte hierzu noch keine Entscheidung getroffen habe.

 

Dieser Gerichtsbescheid ist der Klägerin per Einschreiben mit Rückschein zugestellt worden. Der Rückschein, auf dem die Klägerin ohne Angabe eines Datums die Auslieferung des Einschreibens mit ihrer Unterschrift bestätigt hat, ist am 10. Februar 2020 beim Sozialgericht eingegangen.

 

Mit ihrer am 6. April 2020 erhobenen Berufung beantragt die Klägerin sinngemäß,

 

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Frankfurt/Oder vom 1. Oktober 2019 und den Bescheid der Beklagten vom 21. November 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. März 2019 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihren Bescheid vom 24. Mai 2016 aufzuheben, eine Rente wegen Alters nach dem Sozialgesetzbuch Sechstes Buch zu gewähren und hierbei die Zeit vom 4. Juli 1942 bis zum 31. Januar 1943 als Beitragszeit ihrer Mutter zu berücksichtigen.

 

Die Beklagte beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

 

Mit Beschluss vom 17. August 2020 hat der Senat den Rechtsstreit gemäß § 153 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) den Berichterstatter übertragen, damit dieser zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern entscheide.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten, die dem Senat vorgelegen hat, Bezug genommen.

 

 

 

Entscheidungsgründe

 

 

Der Senat durfte trotz Abwesenheit der Beteiligten in der mündlichen Verhandlung am 24. September 2020 entscheiden, nachdem sie in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden waren.

 

Die zulässige Berufung ist unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide vom 21. November 2018 und 25. März 2019 sind rechtmäßig.

 

I. Gegenstand des Berufungsverfahrens sind neben dem Gerichtsbescheid des Sozialgerichts vom 1. Oktober 2019 die Bescheide der Beklagten vom 21. November 2018 und 25. März 2019, durch die die Beklagte es abgelehnt hat, ihren Bescheid vom 24. Mai 2016 aufzuheben und der Klägerin als Rechtsnachfolgerin eine Rente wegen Alters aus der Versicherung ihrer Mutter zu gewähren. Soweit die Klägerin im Klageverfahren auch Beitragszeiten ihres Vaters aus einer Ghettobeschäftigung geltend gemacht hat, hat das Sozialgericht die Klage mit zutreffender Begründung als unzulässig angesehen. Da unklare Anträge dahin auszulegen sind, dass ein Kläger nur (aber auch alles) geltend macht, was ihm in zulässiger Weise zugesprochen werden kann (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Sozialgerichtsgesetz, 13.A., § 123, Rn. 3, mit weiteren Nachweisen), hat der Senat zugrunde gelegt, dass die Klägerin den einen Rentenanspruch ihres Vaters betreffenden unzulässige Klageantrag im Berufungsverfahren nicht weiterverfolgt.

 

II. Die Berufung bleibt ohne Erfolg. Zur Begründung verweist der Senat gemäß § 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf die zutreffenden Ausführungen des Sozialgerichts, die er sich zu Eigen macht. Ergänzend sei auf Folgendes hingewiesen:

 

1. Auch wenn das ZRBG keine Altersuntergrenze kennt (zur Diskussion vgl. Knickrehm/Berg­ner/Mecke/Kallmayer, SGb 2018, 743-749), geht der Senat wie schon das Sozialgericht davon aus, dass Kinder im Alter der Mutter der Klägerin zur Zeit ihres Ghettoaufenthalts, d.h. im Alter etwa zwischen 2 ½ und 3 Jahren, geistig noch nicht in der Lage sind, verbindliche Entscheidungen über eine (körperliche) Arbeit und eine Gegenleistung hierfür zu treffen (ebenso Landessozialgericht <LSG> für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 19. April 2013 – L 14 R 695/12 –; Sozialgericht Berlin, Urteil vom 14. September 2016 – S 30 R 5253/14 –; jeweils juris). Wenn die Großeltern der Klägerin deren Mutter während ihrer Arbeit im Ghetto mitgenommen haben, geschah dies bei lebensnaher Betrachtung primär aus Fürsorge, um ihr Kleinkind auch tagsüber betreuen und ggf. schützen zu können (vgl. hierzu auch LSG Nordrhein-Westfalen, a.a.O.). Darüber hinaus ist auch nicht erkennbar, zu welchen konkreten Verrichtungen ein Kind im Alter von 2 ½ bis 3 Jahren in den klägerseitig geschilderten Arbeitsbereichen (Sägewerk und Schützengräben) körperlich in der Lage hätte sein können. Es liegt vielmehr nahe – dies können die Senatsmitglieder aufgrund ihrer eigenen Elternschaft beurteilen –, dass körperliches Tätigwerden von Kindern diesen Alters vom Willen, die Eltern nachzuahmen, geprägt ist.

 

2. Der Senat verkennt das grausame Verhalten der deutschen Besatzungskräfte gegenüber den Ghettobewohnerinnen und -bewohner und die unmenschlichen Lebensverhältnisse im Ghetto – wie von der Klägerin dargestellt – nicht. Zweck des ZRBG ist es allerdings nicht, einen Ausgleich für jegliches von Ghettobewohnerinnen  und -bewohnern während der Ghettozeit erlittene Unrecht zu bewirken. Ziel des Gesetzes ist es vielmehr „nur“, Beitragszeiten aufgrund einer Beschäftigung, die von Verfolgten des nationalsozialistischen Unrechtsregimes in einem unter dessen Herrschaft eingerichteten Ghetto ausgeübt wurde, im Rahmen der gesetzlichen Rentenversicherung anzuerkennen (vgl. Bundestags-Drucksache 18/1308, S. 1).

 

III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits.

 

Die Revision wird nicht zugelassen, weil Gründe (§ 160 Abs. 2 SGG) hierfür nicht vorliegen.

 

 

 

 

 

Rechtskraft
Aus
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