L 9 KR 540/17

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 182 KR 109/17
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 9 KR 540/17
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Eine ausdehnende, ergänzende Auslegung der in der Behandlungsrichtlinie umschriebenen Ausnahmeindikationen für Implantatversorgung auf weitere Fallgruppen ist aufgrund der Regelung in § 28 Abs 2 Satz 9 SGB V nicht zulässig. 2. Extremer Würgereiz oder drohende Zahnlosigkeit begründen keinen Anspruch auf implantatgestützten Zahnersatz.

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin

vom 14. November 2017 wird zurückgewiesen.

 

Außergerichtliche  Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

 

I.

 

 

Der Kläger begehrt die zahnmedizinische Versorgung mit Implantaten und einer Suprakonstruktion (Zahnersatz auf Implantaten).

 

Der im Jahre 1960 geborene Kläger ist bei der Beklagten krankenversichert. Er bezieht eine Rente wegen Erwerbsminderung und verdient nach eigenen Angaben monatlich 180 Euro hinzu.  

 

Mit Bescheid vom 19. Februar 2018 erhielt der Kläger von dem Beigeladenen einen Bescheid über die Anerkennung von Schädigungsfolgen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG; Erstanerkennung). Hintergrund dieser Anerkennung ist der Umstand, dass der Kläger in den Jahren 1974 bis 1981 Opfer sexuellen Missbrauchs war. Als Schädigungsfolge ist eine psychoreaktive Störung anerkannt. Der Grad der Schädigungsfolgen wurde für die Zeit ab 1. Dezember 2015 mit „10“ bemessen. Der Bescheid ist nicht bestandskräftig (im Klageverfahren S 45 VG 103/18 begehrt der Kläger die Zuerkennung eines Grades der Schädigung von 25).

 

Der Kläger leidet u.a. an einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung, an einer chronischen Depression, an einem Reizdarmsyndrom und an einer Funktionsstörung des unteren Verdauungssystems. Er ist nahezu zahnlos; lediglich im Unterkiefer sind fünf Zähne verblieben (Stand März 2020). Der Kläger ist mit herausnehmbarem Zahnersatz prothetisch versorgt. Er bringt vor, die Oberkieferprothese infolge Würgereizes nicht zu tragen; die Unterkieferprothese habe er anfänglich zeitweilig getragen, seit 2018 aber auch gar nicht mehr, weil auch hier Würgereiz entstanden sei.    

 

Der ehemals behandelnde Zahnarzt Dr.  H, der seine Praxis inzwischen aufgegeben hat, hat schriftlich bestätigt, dass der Kläger selbst bei kleinsten zahnärztlichen Maßnahmen wie Befundaufnahmen mit einem ausgeprägten Würgereiz reagiere, der sich nicht mit anatomischen Ursachen erklären lasse.

 

Anstelle der nicht genutzten prothetischen Versorgung möchte der Kläger implantologische Leistungen in Anspruch nehmen, verbunden mit an den Implantaten fest angebrachten Suprakonstruktionen.

 

Am 10. August 2016 beantragte der Kläger bei der Beklagten eine entsprechende Versorgung und legte einen Heil- und Kostenplan seines Zahnarztes Dr.  H vom 15. Juli 2016 nebst Aufstellung der auf den Kläger entfallenden Eigenanteile vom 19. Juli 2016 sowie einen Kostenvoranschlag der Praxis für Oralchirurgie und Implantologie Dr.  Z für vier Implantate vom 8. August 2016 vor. Beigefügt war auch eine Stellungnahme des Facharztes für psychosomatische Medizin und Psychotherapie Dr. P V vom 23. Juni 2016, bei dem der Kläger sich seit vielen Jahren in psychotherapeutischer Behandlung befindet. Darin heißt es, die durch den sexuellen Missbrauch mit Oralverkehr entstandene Traumatisierung habe bewirkt, dass der Kläger eine Aversion gegen zahnärztliche Behandlungen entwickelt habe, was sich nachteilig auf seine Zahngesundheit ausgewirkt habe. Würgereiz und Ekel gegenüber der prothetischen Versorgung ließen sich nicht willentlich steuern.  

 

Mit Bescheid vom 24. August 2016 lehnte die Beklagte eine Kostenübernahme mit Hinweis auf § 28 Abs. 2 Satz 9 SGB V und die nicht erfüllten Ausnahmeindikationen der Behandlungsrichtlinie des GBA ab.

 

Mit seinem hiergegen erhobenen Widerspruch machte der Kläger geltend, unter          ex­­tremem Würgereiz zu leiden, sobald sich ein Fremdkörper seinem Mund nähere. Es  drohten schwerwiegende Folgeerkrankungen. Seine psychiatrische Erkrankung müsse Grund für eine Ausnahmeregelung sein.   

 

Den Widerspruch wies die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 20. Dezember 2016 zurück. Auf Grundlage der Behandlungsrichtlinie sei eine Kostenübernahme nicht möglich. Zudem sei die begehrte Leistung nicht Teil einer aus human- und zahnmedizinischen Bestandteilen zusammengesetzten Gesamtbehandlung, sondern diene allein der Wiederherstellung der Kaufunktion (Hinweis auf B 1 KR 19/12 R).

 

Mit der am 11. Januar 2017 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Ziel weiter. Die psychische Komponente müsse berücksichtigt werden.

Der Kläger hat eine weitere Stellungnahme seines Psychotherapeuten Dr. V vom 5. Januar 2017 zu den Akten gereicht; danach sei die Gebisssanierung mittels Implantologie und Suprakonstruktion Teil einer human- (psychosomatische Medizin, Psychotherapie, Gastroenterologie) und zahnmedizinischen Gesamtbehandlung und trage zur Wiederherstellung der Kau- und Verdauungsfunktion wie auch zur Reduktion des psychischen Belastung (Scham, Angst, Selbstunsicherheitserleben) bei.

 

Mit Urteil vom 14. November 2017, dem Kläger zugestellt am 24. November 2017, hat das Sozialgericht Berlin die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Nach § 28 Abs. 2 Satz 9 SGB V gehörten implantologische Leistungen nicht zum Leistungsspektrum der gesetzlichen Krankenversicherung, es sei denn, es liege eine der Ausnahmeindikationen der Behandlungsrichtlinie des GBA vor. Hier komme allein Abschnitt VII. Nr. 2 Buchstabe d) in Betracht („nicht willentlich beeinflussbare muskuläre Fehlfunktion im Mund- und Gesichtsbereich [z.B. Spastiken]“). Doch auch diese Indikation liege nicht vor. Denn der Würgereiz sei als Störung der Rachenmuskulatur anzusehen. Auch aus Grundrechten ergebe sich kein Leistungsanspruch; ein verfassungsrechtlicher Leistungsanspruch bestehe nur in extremen Situationen einer krankheitsbedingten Lebensgefahr, welche bei Zahnlosigkeit nicht gegeben sei. Das Leiden des Klägers sei auch nicht im Sinne von § 2 Abs. 1a SGB V einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung wertungsmäßig vergleichbar.

 

Hiergegen richtet sich die am 21. Dezember 2017 erhobene Berufung des Klägers. Er vertieft sein Vorbringen aus dem Klageverfahren und führt an, der Würgereiz falle unter die Ausnahmeindikation einer muskulären Fehlfunktion im Mund- und Gesichtsbereich bzw. sei einer solchen zumindest gleichzustellen. Daneben bestehe ein Anspruch auf Kostenübernahme nach § 1 Abs. 1 OEG und § 10 Abs. 1, § 11 Abs. 1 Nr. 4 und § 18   Abs. 3 BVG. Zudem komme ein Anspruch auf einen Härteausgleich nach § 89 Abs. 1 BVG in Betracht.

 

In einer Bescheinigung vom 4. Januar 2018 führt der behandelnde Psychotherapeut Dr. V an, in der Implantatversorgung bestehe „die einzige Möglichkeit, den symptomgenerierenden Teufelskreis der schweren und komplexen Symptomatik zu durchbrechen und eine wirksame Entlastung in diesem schwierigen Fall zu sichern“. In einem Schreiben vom 6. September 2018 führt der Psychotherapeut an, nachdem der Kläger seinen letzten Zahn im Oberkiefer verloren habe, sei er nicht mehr in der Lage, festere Speisen im Mund zu zerkleinern. Das stelle angesichts der Reizdarmsymptomatik eine deutliche Belastung dar. Noch gravierender seien die Schamgefühle und die psychische Belastung, die aus der Zahnlosigkeit resultierten.

 

Der Berichterstatter hat den Fall am 6. März 2020 mit den Beteiligten mündlich erörtert. Nachdem sich hier herausgestellt hatte, dass der Zahnarzt Dr. P H nicht mehr praktiziert, hat der Kläger einen Heil- und Kostenplan des Zahnarztes Dr.  L vom 3./18. Juni 2020 für die begehrte zahnmedizinische Versorgung mit implantatgestütztem Zahnersatz vorgelegt, der die geschätzten Behandlungskosten auf 17.371,96 Euro beziffert.

 

Mit Bescheid vom 14. Juli 2020 lehnte die Beklagte auch auf dieser Grundlage eine Kostenübernahme ab. Die Voraussetzungen der Behandlungsrichtlinie des GBA seien nach wie vor nicht erfüllt. Würgereiz begründe keinen „besonders schweren Fall“. Die in der Behandlungsrichtlinie aufgeführte Indikationsliste sei abschließend. Es fehle auch an einer „medizinischen Gesamtbehandlung“ im Sinne von § 28 Abs. 2 Satz 9 SGB V. Eine solche müsse sich aus human- und zahnmedizinischen Elementen zusammensetzen. Die Wiederherstellung der Kaufunktion allein als Ziel der Implantatversorgung führe nicht zur Leistungspflicht der GKV.

 

Der Kläger beantragt,

 

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 14. November 2017 sowie den Bescheid der Beklagten vom 24. August 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Dezember 2016 in der Fassung des Bescheides vom 14. Juli 2020 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Kosten für die beantragte Implantatversorgung nebst Suprakonstruktion gemäß dem Heil- und Kostenplan des Zahnarztes Dr.  L vom 3./18. Juni 2020 zu übernehmen.

 

Die Beklagte beantragt,

 

            die Berufung zurückzuweisen.

 

Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend. Eine Ausnahmeindikation liege nicht vor, ebenso wenig ein mit einer Ausnahmeindikation vergleichbarer Zustand. Für die Suprakonstruktion habe der Kläger Anspruch auf einen Festzuschuss, bei Vorliegen der einkommensabhängigen Voraussetzungen auch in doppelter Höhe.

 

Der Beigeladene beantragt,

 

            die Berufung zurückzuweisen.

 

Eine Übernahme der Kosten für die begehrte Implantatversorgung im Rahmen der Heilbehandlung nach dem OEG in Verbindung mit dem BVG sei ausgeschlossen. Gemäß § 10 Abs. 1 BVG werde Beschädigten Heilbehandlung nur für solche Gesundheitsstörungen gewährt, die als Folge einer Schädigung anerkannt oder durch eine Schädigungsfolge verursacht worden seien. Als Schädigungsfolge sei aber nur eine psychoreaktive Störung anerkannt; der Zahnverlust sei weder als unmittelbare noch als mittelbare Schädigungsfolge anerkannt und stehe nach derzeitigem Kenntnisstand nicht mit der Schädigung in Zusammenhang. Hinsichtlich eines etwaigen Leistungsumfangs gälten gemäß § 11 Abs. 1 Satz 2 BVG die Vorschriften des SGB V entsprechend, so dass Leistungen, zu denen die Krankenkasse nicht verpflichtet sei, auch nicht im Rahmen einer Heilbehandlung nach dem BVG geltend gemacht werden könnten. Auch ein Härteausgleich nach § 89 BVG scheide aus, weil der Zahnverlust nicht als Schädigungsfolge anerkannt sei.  

 

Wegen des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird im Übrigen auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen, der, soweit wesentlich, Gegenstand der Erörterung in der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung war.

 

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II.

 

 

Der Senat konnte die Berufung gemäß § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Beschluss zurückweisen, da er sie einstimmig für unbegründet sowie eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält und die Beteiligten vorher angehört worden sind.

 

Die Berufung des Klägers hat keinen Erfolg. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen.

 

A. Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Übernahme der Kosten für die beantragte Implantatversorgung nebst Suprakonstruktion gemäß dem Heil- und Kostenplan des Zahnarztes Dr.  L vom 3./18. Juni 2020. Der auf diesen Heil- und Kostenplan bezogene Bescheid der Beklagten vom 14. Juli 2020 ist Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden, denn er bestätigt bzw. wiederholt den Ablehnungsbescheid vom 24. August 2016, der auf den Heil- und Kostenplan des mittlerweile nicht mehr praktizierenden Zahnarztes Dr. H bezogen war.

 

I. Die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Übernahme der Kosten für eine Implantatversorgung und implantatgestützten Zahnersatz liegen nicht vor.

 

1. Implantologische Leistungen zählen nur in engen Ausnahmefällen zu den Leistungen, welche die Krankenkassen allgemein in Natur als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben. Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst u.a. zahnärztliche Behandlung und die Versorgung mit Zahnersatz einschließlich Zahnkronen und Suprakonstruktionen (§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2a SGB V). Die zahnärztliche Behandlung ihrerseits umfasst die Tätigkeit des Zahnarztes, die zur Verhütung, Früherkennung und Behandlung von Zahn-, Mund- und Kieferkrankheiten nach den Regeln der zahnärztlichen Kunst ausreichend und zweckmäßig ist; sie umfasst auch konservierend-chirurgische Leistungen und Röntgenleistungen, die im Zusammenhang mit Zahnersatz einschließlich Zahnkronen und Suprakonstruktionen erbracht werden. Welche Tätigkeiten des Zahnarztes i.S. des § 28 Abs. 2 Satz 1 SGB V zur Verhütung, Früherkennung und Behandlung von Zahn-, Mund- und Kieferkrankheiten nach den Regeln der zahnärztlichen Kunst ausreichend und zweckmäßig sind, konkretisiert die auf § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB V beruhende Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche vertragszahnärztliche Versorgung (Behandlungsrichtlinie) vom 4. Juni 2003/24. September 2003 mit nachfolgenden Änderungen, zuletzt vom 1. März 2006. 

 

Implantologische Leistungen gehören nach der klaren Aussage des Gesetzes (§ 28 Abs. 2 Satz 9 SGB V) nicht zur zahnärztlichen Behandlung, „es sei denn, es liegen seltene vom Gemeinsamen Bundesausschuss in Richtlinien nach § 92 Abs. 1 festzulegende Ausnahmeindikationen für besonders schwere Fälle vor, in denen die Krankenkasse diese Leistung einschließlich der Suprakonstruktion als Sachleistung im Rahmen einer medizinischen Gesamtbehandlung erbringt“ (vgl. dazu Bundessozialgericht, Urteil vom 4. März 2014, B 1 KR 6/13 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 9 ff.; Urteil des Senats vom 17. August 2020, L 9 KR 12/18, zitiert nach juris, dort Rdnr. 36).

 

2. Für den Kläger liegt keine der Ausnahmeindikationen vor, die die Behandlungsrichtlinie in Abschnitt B. VII. Ziffer 2. Satz 4 („Ausnahmeindikationen für Implantate und Suprakonstruktionen i.S. von § 28 Abs. 2 Satz 9 SGB V“) vorsieht. Das hat auch das Sozialgericht zutreffend entschieden und begründet. Satz 4 führt als berücksichtigungsfähige besonders schwere Fälle insoweit abschließend auf:

 

„Besonders schwere Fälle liegen vor

a) bei größeren Kiefer- oder Gesichtsdefekten, die ihre Ursache

- in Tumoroperationen,

- in Entzündungen des Kiefers,

- in Operationen infolge von großen Zysten (z.B. große follikuläre Zysten oder Keratozysten),

- in Operationen infolge von Osteopathien, sofern keine Kontraindikation für eine Implantatversorgung vorliegt,

- in angeborenen Fehlbildungen des Kiefers (Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten, ektodermale Dysplasien) oder

- in Unfällen

haben,

b) bei dauerhaft bestehender extremer Xerostomie, insbesondere im Rahmen einer Tumorbehandlung,

c) bei generalisierter genetischer Nichtanlage von Zähnen,

d) bei nicht willentlich beeinflussbaren muskulären Fehlfunktionen im Mund- und Gesichtsbereich (z. B. Spastiken).“

 

a) Allein in Betracht kommt im Fall des Klägers die zuletzt genannte Ausnahmeindikation nach Buchstabe d) (nicht willentlich beeinflussbare muskuläre Fehlfunktionen im Mund- und Gesichtsbereich, z.B. Spastiken).  Buchstabe c), wonach eine genetisch bedingte Nichtanlage von Zähnen gegeben sein muss, ist nicht einschlägig, denn der Kläger gibt an, die Zähne im Laufe seines Lebens verloren zu haben. Es muss somit nicht geprüft werden, ob die Anzahl der beim Kläger fehlenden Zähnen der „Nichtanlage“ gleichstehen könnte (vgl. dazu Bundessozialgericht, Urteil vom 13. Juli 2004, B 1 KR 37/02 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 20ff).

 

Zur Überzeugung des Senats greift indessen auch die Ausnahmeindikation nach Buchstabe d) nicht. Denn der Würgereiz, unter dem der Kläger nach eigenen Angaben leidet, ist keine „nicht willentlich beeinflussbare muskuläre Fehlfunktion im Mund- und Gesichtsbereich“, sondern als  vegetativ bzw. psychomotorisch bedingte Störung der Rachenmuskulatur einzuordnen. Ein Würgereiz oder Rachenreflex des Menschen ist primär ein normaler Abwehrmechanismus, der das Eindringen von Fremdkörpern in den Rachen (Pharynx), den Kehlkopf (Larynx) oder die Luftröhre (Trachea) verhindern kann und der durch ein taktiles Stimulieren des weichen Gaumens, der Zunge und von Teilen des Rachens ausgelöst wird. Dieser physiologische Reflex wird durch den Parasympathikus des vegetativen Nervensystems kontrolliert und ist dem Nervus glossopharyngeus und dem Nervus vagus zugeordnet. Über diese beiden Nerven werden intraorale Reize in die Medulla oblongata (Hirnstamm) geleitet und das Brechzentrum gereizt. Dies führt zu einem reflektorischen Anheben der Zunge und einer Kontraktion der Rachenmuskulatur. Folglich ist der Rachen betroffen und gerade nicht der Mund- und Gesichtsbereich, wie es bei Spastiken der Fall sein kann; vom Würgereiz ist nicht der Mund- und Gesichtsbereich, sondern der Schlundbereich, also der Halsbereich betroffen (so ausdrücklich so LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 28. März 2017, L 11 KR 3687/16, zitiert nach juris, dort Rdnr. 37 [rechtskräftig, siehe Bundessozialgericht, Beschluss vom 1. November 2017, B 1 KR 27/17 B, juris]; so auch LSG Hessen, Urteil vom 2. Juli 2009, L 1 KR 197/07, zitiert nach juris, dort Rdnr. 21; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 16. Februar 2010, L 16 B 44/09 KR, zitiert nach juris, dort Rdnr. 3; Beschluss des Senats vom 22. Februar 2011, L 9 KR 34/11 B ER, zitiert nach juris, dort Rdnr. 16 [„Ein extremer Würgereiz begründet keinen Anspruch auf implantatgestützten Zahnersatz.“]; Urteil des Senats vom 17. August 2020, L 9 KR 12/18, zitiert nach juris, dort Rdnr. 39).

 

b) Unabhängig davon ist die vom Kläger begehrte Implantatversorgung auch nicht Teil einer „medizinischen Gesamtbehandlung“ im Sinne von § 28 Abs. 2 Satz 9 SGB V bzw. Abschnitt B. VII. Nr. 1 der Behandlungsrichtlinie. Eine solche setzt sich aus verschiedenen human- und zahnmedizinisch notwendigen Bestandteilen zusammen, ohne sich in einem dieser Teile zu erschöpfen. Nicht die Wiederherstellung der Kaufunktion im Rahmen eines zahnärztlichen Gesamtkonzepts, sondern ein darüber hinausgehendes medizinisches Gesamtziel muss der Behandlung ihr Gepräge geben. Das hat das Bundessozialgericht aus dem Wortlaut der Regelung des § 28 Abs. 2  Satz 9 SGB V ihrer Entstehungsgeschichte dem Regelungssystem für Zahnersatz und dem Regelungszweck abgeleitet (vgl. Urteil vom 4. März 2014, B 1 KR 6/13 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 14 unter Hinweis auf das Urteil vom 7. Mai 2013, B 1 KR 19/12 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 9). Der Anspruch besteht danach nicht bereits dann, wenn Implantate zahnmedizinisch geboten sind. Eine medizinische Gesamtbehandlung liegt nicht schon dann vor, wenn dem Behandlungsplan des Zahnarztes ein Gesamtkonzept zur Wiederherstellung der Kaufunktion des Patienten zu entnehmen ist. Wenn die Ermöglichung der Abstützung von Zahnersatz durch Implantate das einzige oder das hauptsächliche Behandlungsziel ist, sind die Kosten des Implantats vielmehr vom Versicherten nach den allgemeinen Regelungen eigenverantwortlich zu tragen. Ausgehend davon dient die Implantatversorgung, die der Kläger begehrt, in seinem Fall allein der Wiederherstellung der Kaufunktion. Sie ist nicht in eine medizinischen Gesamtbehandlung eingebettet.

 

c) Eine ausdehnende, ergänzende Auslegung der in der Behandlungsrichtlinie umschriebenen Ausnahmeindikationen auf weitere Fallgruppen ist aufgrund der Regelung in § 28 Abs. 2 Satz 9 SGB V nicht zulässig (so ausdrücklich Bundessozialgericht, Urteil vom 4. März 2014, B 1 KR 6/13 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 13). Insbesondere begründet vor allem eine drohende Zahnlosigkeit keine weitere Ausnahmeindikation (BSG, a.a.O., Rdnr. 17).

 

3. Besteht danach kein Anspruch auf implantologische Leistungen an sich, so besteht auch kein solcher auf implantatgestützten Zahnersatz.

 

II. Die Ablehnung einer Implantatversorgung verletzt den Kläger auch nicht in seinen Grundrechten. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. nur Urteil vom 2. September 2014, B 1 KR 12/13 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 21), welcher der Senat folgt, verstoßen die gesetzliche Regelung des § 28 Abs. 2 Satz 9 SGB V und die darauf beruhende Behandlungsrichtlinie mit den dort geregelten Ausnahmeindikationen in einem Fall wie demjenigen des Klägers nicht gegen verfassungsrechtliche Vorgaben. Welche Behandlungsmaßnahmen in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung einbezogen und welche nicht, unterliegt aus verfassungsrechtlicher Sicht einem weiten gesetzgeberischen Ermessen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus einer grundrechtsorientierten Auslegung des Leistungskatalogs bei lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Krankheiten. Selbst Zahnlosigkeit stellt insoweit keine durch das Vorliegen einer durch nahe Lebensgefahr gekennzeichneten individuellen Notlage dar; der unmittelbar verfassungsrechtliche Leistungsanspruch ist auf extreme Situationen einer krankheitsbedingten Lebensgefahr beschränkt (BVerfG, Beschluss vom 10. November 2015, 1 BvR 2056/12, zitiert nach juris, dort Leitsatz 2b). Soweit § 2 Abs. 1a SGB V neben lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich Erkrankungen einen - verfassungsrechtlich nicht gebotenen - Anspruch bei Vorliegen der weiteren Voraussetzungen auch bei wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankungen gewährt, erreicht selbst drohende Zahnlosigkeit keinen vergleichbaren Schweregrad (Bundessozialgericht, Urteil vom 2. September 2014, B 1 KR 12/13 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 21; Urteil vom 4. März 2014, B 1 KR 6/13 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 16 [„Selbst drohende Zahnlosigkeit erreicht auch bei contergangeschädigten Menschen indes keinen vergleichbaren Schweregrad.“]; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 28. März 2017, L 11 KR 3687/16, zitiert nach juris, dort Rdnr. 39).

 

B. Der geltend gemachte Anspruch besteht auch nicht gegenüber dem beigeladenen Versorgungsamt. Der Senat lässt insoweit offen, ob eine Verurteilung des Versorgungsträgers prozessrechtlich überhaupt möglich ist (vgl. § 75 Abs. 5 SGG); hieran bestehen Zweifel, weil der streitige Anspruch wohl nicht in einer Wechselwirkung entweder gegenüber der beklagten Krankenkasse oder gegenüber dem beigeladenen Versorgungsträger steht (vgl. dazu B. Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Auflage 2020, RdNr. 18 zu § 75). Jedenfalls ist eine Übernahme der Kosten für implantatgestützten Zahnersatz auch nach den Regelungen des Opferentschädigungsgesetzes (OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) ausgeschlossen.

 

Der Kläger verfügt auf Grundlage des Bescheids des Beigeladenen vom 19. Februar 2018 über eine Erstanerkennung der Schädigungsfolge „psychoreaktive Störung“, hervorgerufen durch schädigende Einwirkungen im Sinne des OEG. Nur für diese anerkannte Schädigungsfolge besteht Anspruch auf Heilbehandlung nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG i.V.m. § 10 Abs. 1 BVG. Der gegenwärtige Zahnstatus des Klägers bzw. sein Würgereiz sind nicht als Schädigungsfolge anerkannt. Unabhängig davon gelten hinsichtlich des Leistungsumfangs die Regelungen des SGB V entsprechend (§ 11 Abs. 1 Satz 2 BVG), so dass Leistungen, zu denen die gesetzliche Krankenkasse nicht verpflichtet ist, auch nicht nach dem BVG beansprucht werden können. Eine Kostenübernahme für implantatgestützten Zahnersatz kann auch nicht im Wege eines Härteausgleich nach § 89 Abs. 1 BVG beansprucht werden, solange drohende Zahnlosigkeit bzw. Würgereiz nicht als Schädigungsfolge anerkannt sind. 

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht (§ 160 Abs. 2 SGG).

 

 

 

 

 

 

 

Rechtskraft
Aus
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