L 9 KR 402/19

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 76 KR 2523/17
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 9 KR 402/19
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Es ist selbst bei Berücksichtigung des Amtsermittlungsgrundsatzes (§ 103 SGG) nicht Aufgabe des Gerichts, die behandelnden Ärzte/Ärztinnen so lange zu befragen, bis sich in der Zusammenschau eine ausreichend begründete Einschätzung i.S. des § 31 Abs 6 Satz 1 Nr 1b SGB V einstellt.

Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 11. Oktober 2019 wird zurückgewiesen.

 

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Versorgung mit Cannabis.

 

Der Kläger ist 1966 geboren und bei der Beklagten krankenversichert. Er beantragte bei der Beklagten unter Vorlage eines ärztlichen Attestes des Facharztes für Innere Medizin Dr. G am 24. Mai 2017 die Versorgung mit Cannabis. Der Arzt führte aus, der Kläger leide an einem schweren Fibromyalgiesyndrom mit chronischen Ganzkörperschmerzen und muskulären Verspannungen, Schlafstörungen sowie schweren Depressionen. Er behandele sich selbständig im Rahmen einer Selbsthilfegruppe mit Cannabinoiden mit subjektiv guter Wirksamkeit.

 

Die Beklagte lehnte die Kostenübernahme mit Cannabinoiden ab (Bescheid vom 2. Juni 2017). Den Widerspruch des Klägers wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 2. November 2017 zurück.

 

Der Kläger hat am 8. Dezember 2017 Klage zum Sozialgericht Berlin erhoben. Er sehe für sich keine weiteren Behandlungsmethoden, die behandelnde Ärzte sähen keine konventionellen Therapieansätze. Er sei derzeit arbeitsunfähig.

Den erneuten Antrag auf Versorgung mit Cannabis hat die Beklagte mit Bescheid vom 21. Dezember 2017, bestätigt mit Widerspruchsbescheid vom 16. Mai 2018, abgewiesen. Die dagegen erhobene Klage zum Sozialgericht Berlin (S 81 KR 1023/18) führte zur Verbindung der beiden Verfahren.

Das Sozialgericht hat Befundberichte der behandelnden Ärzte eingeholt

 

Arzt/Ärztin

Fachrichtung

Gerichtsakte

Dr. S

Innere Medizin

97

Dr. G

Anästhesie

99

Dr. G

Innere

109

Dr. J

Schmerztherapie/

Anästhesie

129

Dr. R

NP

142

Dr. K

Orthopädie

155

 

Das Sozialgericht hat zwei Sachverständigengutachten eingeholt: Am 12. November 2018 hat der Internist und Sozialmediziner Dr. W H sein Gutachten erstattet, am 5. Juli 2019 der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. H.

Mit Gerichtsbescheid vom 11. Oktober 2019 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Versorgung mit Medizinal- Cannabis gemäß § 31 Abs. 6 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V). Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung hätten Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon, wenn

 

  1. eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung

 

  1. nicht zur Verfügung steht oder

 

  1. im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann,

 

  1. eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht.

 

Die Leistung bedürfe bei der ersten Verordnung für eine Versicherte oder einen Versicherten der nur in begründeten Ausnahmefällen abzulehnenden Genehmigung der Krankenkasse, die vor Beginn der Leistung zu erteilen ist. Diese Voraussetzungen seien nicht erfüllt. Der Kläger leide nicht an einer schwerwiegenden Erkrankung im Sinne der Regelung. Das Gesetz definiere den Begriff zwar nicht, er finde sich aber in zahlreichen Bestimmungen des SGB V. So definiere § 34 Abs. 1 Satz 2 SGB V i.V.m. § 12 Abs. 3 Arzneimittelrichtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses definiere eine Erkrankung als schwerwiegend, die lebensbedrohlich sei oder die aufgrund der Schwere der durch sie verursachten Gesundheitsstörung die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtige. Das entspreche der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum Off-Label-Use bei schwerwiegenden Erkrankungen. Ein Off-Label-Use komme danach nur in Betracht, wenn es 1. um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung gehe, 2. keine andere Therapie verfügbar sei und 3. aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht bestehe, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg erzielt werden könne (kurativ oder palliativ). Diese Definition sei auf § 31 Abs. 6 Satz SGB V übertragbar. Die MDK-Gutachterin A sei zwar zu der Einschätzung gelangt, dass aufgrund der Multimorbidität und Chronifizierung im Fall des Klägers von einer schwerwiegenden Erkrankung auszugehen sei. Sie habe ihre Gutachten aber lediglich nach Aktenlage erstellt. Die gerichtlich bestellten Sachverständigen seien hingegen nach der Untersuchung des Klägers und in Kenntnis der Stellungnahmen und Befundberichte der behandelnden Ärzte und MDK-Gutachten übereinstimmend zu einem anderen Ergebnis gelangt. Der Sachverständige Dr. H habe in seinem Gutachten ausgeführt, die Erkrankung des Klägers sei nicht als schwerwiegend zu bezeichnen. Es würden vorwiegend Befindlichkeitsstörungen geäußert, welche kein relevantes patho-anatomisches Korrelat hätten. Die konkrete Prognose sei als gut zu bezeichnen. Das Hauptproblem des Klägers liege in seiner subjektiven Befindlichkeitsproblematik. Dabei seien ganz sicher auch persönliche Vorstellungen im Hinblick auf das Rauschmittel Cannabis wesentlich mitbeteiligt, sodass auch eine Suchtproblematik bei dem Kläger ganz sicher nicht ausschließbar sei. Der Sachverständige Dr. H habe diese Einschätzung in seinem Gutachten bestätigt. Auch aus neurologisch-psychiatrischer Sicht seien aktuell keine schwerwiegenden, die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden Erkrankungen festzustellen. Wesentliche somatisch-neurologische Defizite seien bei der Begutachtung nicht festzustellen gewesen. Es hätten sich auch keine wesentlichen depressiven Symptome gefunden. Wesentliche schmerzbedingte Bewegungseinschränkungen, außer in geringem Umfang an der rechten Schulter, seien nicht erkennbar gewesen. Das Gericht folge den Gutachten, da es sie für sorgfältig erstellt und überzeugend halte. Die gutachterlichen Schlussfolgerungen seien schlüssig und nachvollziehbar dargelegt. Aus der vom Kläger unter anderem angeführten Einschätzungsprärogative des Arztes, welche § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V enthalte, folge keine andere Bewertung. Aus dem Wortlaut der Vorschrift ergebe sich bereits, dass sich diese Prärogative nicht auf die Frage beziehen könne, ob eine schwerwiegende Erkrankung vorliege. Die Einschätzungsprärogative beziehe sich allein auf die Frage, ob eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung im Einzelfall nicht zur Anwendung kommen könne. Hierdurch sollte nach dem Willen des Gesetzgebers den Versicherten ermöglicht werden, bei Versagen etablierter Behandlungsmethoden einen Therapieversuch mit cannabishaltigen Arzneimitteln zu unternehmen, und zwar auch dann, wenn bei abstrakter Betrachtung zwar eine Standardbehandlung existiere, diese aber nach begründeter vertragsärztlicher Einschätzung bei Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen sowie unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Versicherten nicht zur Anwendung kommen könne. Diese Möglichkeit sei jedoch ausschließlich für Behandlungen von schwerwiegenden Erkrankungen eingeräumt. Diese Grundvoraussetzung unterliege nicht der Einschätzungsprärogative des behandelnden Arztes, sondern sei objektiv zu prüfen und festzustellen. Es sei daher nur ergänzend darauf hinzuweisen, dass auch eine begründete Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes im Fall des Klägers nicht gegeben sei. Dr. G habe in seinem Attest vom 15. Mai 2017 lediglich mitgeteilt, dass der Kläger sich selbstständig im Rahmen der Selbsthilfegruppe mit Cannabinoiden mit subjektiv guter Wirksamkeit behandle. Herr T habe in seinem „Begleitschreiben zu Cannabinoiden nach § 31 Abs. 6 SGB V vom 30. November 2017“ angegeben, es liege zumindest eine subjektive Alternativlosigkeit vor. Dr. J habe in seinem Antrag vom 5. Dezember 2017 dargelegt ein Behandlungsversuch mit Cannabis sei sinnvoll und der Kläger wünsche die Behandlung mit verschiedenen Blüten, da er einerseits die anregende und andererseits die beruhigende Wirkung benutzen wolle. Eine Begründung, welche alternativen Therapien warum bei dem Kläger nicht angewandt werden könnten, finde sich in keiner der genannten ärztlichen Stellungnahmen. Allerdings wären gerade im Hinblick auf den jahrelangen Drogenkonsum des Klägers (so Dr. J seinem Befundbericht vom 1. Juni 2018, wonach der Kläger seit 30 Jahren Cannabinoide als Selbstmedikation konsumiere) Ausführungen zur Abwägung von Risiken und Nebenwirkungen mit den zu erwartenden Vorteilen erforderlich gewesen. Allein der Hinweis, dass es dem Kläger mit Cannabis besser gehe, reiche angesichts des jahrelangen Drogenkonsums nicht aus, da es jedem Drogenkonsumenten aus seiner subjektiven Sicht mit der suchtauslösenden Substanz besser ginge und er den Alltag besser meistern könne als ohne (Verweis auf den Beschluss des LSG Berlin-Brandenburg vom 27. Mai 2019 - L 9 KR 72/19 B ER). Festzuhalten sei darüber hinaus, dass Dr. G, in dessen Praxis Herr T tätig sei, in seinem Befundbericht vom 29. Mai 2018 unter anderem angegeben habe, der Kläger habe sich in seiner Praxis erstmals am 6. Juni 2017 vorgestellt und die Behandlungsoptionen seien „anamnestisch“ ausgereizt. Bei Dr. G sei der Kläger nach seinem Befundbericht vom Juni 2018 lediglich am 11. Januar 2016 sowie am 26. April 2018 in Behandlung gewesen.

 

Der Kläger hat gegen den ihm am 16. Oktober 2019 zugestellten Gerichtsbescheid am 7. November 2019 Berufung eingelegt. Seine Erkrankung und die dadurch verursachten Gesundheitsstörungen beeinträchtigten seine Lebensqualität auf Dauer und nachhaltig. Es liege insoweit eine schwerwiegende Erkrankung vor. Die Sachverständigen Dr. H und Dr. H bagatellisierten seine Erkrankungen als bloße ‚“Befindlichkeitsstörungen“. Hätten Zweifel an einer begründeten Einschätzung der behandelnden Ärzte bestanden, hätte das Gericht die behandelnden Ärzte hierzu noch einmal konkret anhören müssen. Dr. J habe den Behandlungsversuch mit Cannabis als sinnvoll bezeichnet. Es sei für eine begründete ärztliche Einschätzung lediglich das Ergebnis eines Abwägungsprozesses darzustellen.

 

Der Kläger beantragt,

 

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 11. Oktober 2019 sowie den Bescheid der Beklagten vom 2. Juni 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. November 2017 und den Bescheid der Beklagten vom 20. Dezember 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Mai 2018 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, den Kläger mit Medizinal-Cannabis gemäß der anliegenden ärztlichen Verordnungen zu versorgen und die Kosten für die Selbstbeschaffung zu erstatten.

 

Die Beklagte beantragt,

 

            die Berufung zurückzuweisen.

 

Maßgebend für die schwerwiegende Erkrankung sei nicht das subjektive Krankheitserleben. Angemerkt werde noch, dass der ständige und anscheinend schon 30 Jahre fortgesetzte Gebrauch von Cannabis nicht zuletzt die Frage aufwerfe, welche Verbesserung der gesundheitlichen Lebensbedingungen sich der Berufungskläger vom Bezug über Kassenrezept erhoffe. Wenn überhaupt eine nachhaltige Verbesserung medizinischer Art durch das Cannabis erzielt werden könne, wäre sie im Verlaufe der vergangenen Jahre sicher schon eingetreten. Außerdem fehle es an ärztlichen Feststellungen zu der Fragestellung, warum die unstreitig vorhandenen therapeutischen Alternativen nicht genutzt werden könnten. Es fehle an einer Abwägung mit den therapeutischen Risiken, insbesondere der Suchtproblematik.

 

Der Kläger hat medizinische Befunde eingereicht, der Senat hat zu diesen eine gutachterliche Stellungnahme von Dr. H eingeholt welche dieser am 5. Juni 2020 erstattet hat.

 

Wegen des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird im Übrigen auf den Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten Bezug genommen, der, soweit wesentlich, Gegenstand der Erörterung in der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung war.

 

 

Entscheidungsgründe:

 

 

I. Der Senat hat über die Berufung gemäß § 153 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in der Besetzung durch die Berichterstatterin und den ehrenamtlichen Richter sowie die ehrenamtliche Richterin entschieden, weil das Sozialgericht über die Klage durch Gerichtsbescheid entschieden und der Senat durch Beschluss vom 14. August 2020 die Berufung der Berichterstatterin zur Entscheidung zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern/Richterinnen übertragen hat.


II. Die Berufung bleibt ohne Erfolg. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten. Er hat keinen Anspruch auf Versorgung mit Medizinal-Cannabis, denn die gesetzlichen Voraussetzungen des § 31 Abs. 6 SGB V liegen nicht vor.

Der Senat nimmt insoweit auf die detaillierten Ausführungen des Sozialgerichts Bezug (§ 153 Abs. 2 SGG). Zu ergänzen bleibt in Anbetracht der Berufungsbegründung und den Ermittlungen des Senats:

 

1. Eine schwerwiegende Erkrankung i.S. des § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V ist auch im Ergebnis des Berufungsverfahrens nicht nachgewiesen. Das Sozialgericht hat dazu zutreffend den Maßstab beschrieben, wonach eine Erkrankung schwerwiegend ist, wenn sie lebensbedrohlich ist oder wenn sie aufgrund der Schwere der durch sie verursachten Gesundheitsstörung die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt. Im psychiatrischen Bereich lag bei dem Kläger gemäß dem Entlassungsbericht des I-Krankenhauses vom 12. November 2019 (stationärer Aufenthalt ab dem 28. Oktober 2019) nach dem psychiatrischen Konzil eine leichtgradige Depression vor (F33.0). Der im Termin zur mündlichen Verhandlung vorgelegte Entlassungsbericht des I-Krankenhauses vom 16. März 2021 erwähnt die Depression bei den aufgelisteten Diagnosen nicht, es fand kein psychiatrisches Konzil statt. Die testpsychologische Einschätzung einer geringen Lebenszufriedenheit, Aggressivität und Überforderungsgefühle sowie ausgeprägte psychovegetative Beschwerden sowie rezidivierende mittelgradige Depression, in der Gesamtbeurteilung damit ein „FMS“ (Fibromyalgiesyndrom), belegt gerade keine schwerwiegende (psychiatrische) Erkrankung. Die ebenfalls jeweils erwähnte Diagnose des (adulten) ADHS konnte der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. H, der den Kläger am 17. Juni 2019 untersucht hat, im Ergebnis weder anhand der aktenkundigen Befunde noch seiner eigenen Erhebungen bestätigen.

 

Diagnostiziert wurde zuletzt in dem Entlassungsbericht vom 16. März 2021, wie schon zuvor, ein Fibromyalgiesyndrom sowie eine entsprechende Ganzkörperschmerzsymptomatik ohne Gelenkschwellungen bei altersentsprechendem Normalzustand in funktioneller Hinsicht. Nachgewiesen sind degenerative Gelenkveränderungen, insbesondere im Bereich der Wirbelsäule. Eine insoweit schwerwiegende, die Lebensqualität nachhaltig beeinträchtigende (organische) Erkrankung zeigte sich nicht. Eine entsprechend starke Ausprägung haben auch die übrigen medizinischen Befunde, insbesondere die beiden Gutachten, welche im sozialgerichtlichen Verfahren eingeholt wurden, nicht bestätigt. Der behandelnde Rheumatologe Dr. G beschreibt in seinem Attest vom 11. Dezember 2020 eine erhebliche Somatisierungstendenz. Dies steht in Übereinstimmung mit den Stellungnahmen der Sachverständigen im Gerichtsverfahren. Zuletzt hat Dr. H anhand der neu im Berufungsverfahren eingereichten (teils älteren) medizinischen Befunde keine Anhaltspunkte für ein Krankheitsbild gefunden, welches schwere Schmerzzustände hervorruft. Allerdings hat er u.a. Unterlagen, die eine Diagnostik des Fibromyalgiesyndroms belegen können, im Unterschied zur Einschätzung des I-Krankenhauses nicht finden können. Für eine chronische Schmerzerkrankung mit dauerhaften Schmerzzuständen sahen Dr. H, wie auch bereits Dr. H, jedenfalls keine objektiven Anhaltspunkte. Die schwere Erkrankung i.S. des § 31 Abs. 6 SGB V ist damit bereits (dem Grunde nach) nicht nachgewiesen.

 

2. Es fehlt zudem an der weiteren Tatbestandsvoraussetzung einer für den Einzelfall des Klägers begründeten Einschätzung seiner behandelnden Vertragsärzte, die unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Klägers nachvollziehbar ausführt, dass und warum eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Therapie bei dem Kläger nicht zur Anwendung kommen kann (§ 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 b) SGB V). Das Gesetz überantwortet damit die Verantwortung für den Therapieversuch dem behandelnden Arzt und begründet für diesen eine Einschätzungsprärogative. Kehrseite davon ist allerdings, dass der behandelnde Arzt/die Ärztin die entsprechende Einschätzung begründet nach außen darlegt und damit vor allem die (ärztliche) Verantwortung für den Therapieversuch wahrnimmt. Ausgehend davon liegen zwar Stellungnahmen der den Kläger behandelnden Ärzte vor. Diese führen aber weder dezidiert auf, welche Therapiealternativen in Betracht kommen noch, warum sie konkret nach Einschätzung der Ärzte für den Kläger nicht zur Anwendung kommen sollen. So stehen für die Diagnose einer Schmerzerkrankung oder Fibromyalgie - wie u.a. Dr. H ausführt - im Rahmen einer multimodalen Schmerztherapie umfangreiche Möglichkeiten zur Behandlung der (somatischen) Grunderkrankung wie auch zur Schmerzbehandlung zur Verfügung. Dass der Kläger eine medikamentöse (Schmerz-)Therapie (subjektiv) ablehnt, kann auch im Rahmen des ärztlichen Einschätzungsspielraums allein keinen Anspruch auf eine Versorgung mit Cannabis i.S. des § 31 Abs. 6 SGB V begründen. § 31 Abs. 6 Satz 1 lässt als Kriterien der ärztlichen Entscheidung vielmehr die zu erwartenden Nebenwirkungen und die Berücksichtigung des Krankheitszustandes eines Patienten zu, dagegen nicht allein die persönliche Patientenentscheidung, außer Cannabis keine „chemischen“ Substanzen zu sich zu nehmen, gelten. Dies gilt insbesondere dann, wenn und weil schwerwiegende Nebenwirkungen konventioneller Therapien für den Kläger nicht belegt sind, ganz im Gegenteil. Ausweislich des Krankenhausentlassungsberichts des I-Krankenhauses vom 12. November 2019 konnte der Kläger von der intensivierten Physio- und Ergotherapie profitieren. Das bestätigt auch der aktuellere vorläufige Entlassungsbericht der Klinik vom 16. März 2021. Dies spricht dafür, dass die Standardtherapien in seinem Fall grundsätzlich erfolgversprechend sind, so sie konsequent und über eine gewisse Dauer zur Anwendung gelangen. Das scheint in einem stationären Setting auch grundsätzlich der Fall zu sein und war von der Compliance des Klägers getragen. Warum dies ambulant nicht möglich sein soll oder im Rahmen eines längeren stationären oder rehabilitativen Aufenthalts, erschließt sich bei Lektüre der ärztlichen Stellungnahmen nicht. Fehlt es vor allem an der Compliance, müsste zudem erläutert und abgeklärt werden, ob Versicherte wie der Kläger dazu einer therapeutischen Hilfestellung bedürfen, z.B. im Rahmen einer (Verhaltens-) Psychotherapie. Eine solche findet für den Kläger nachweislich seit längerem nicht statt. Die Gespräche, von denen Dr. R in seinem Befundbericht an das Sozialgericht berichtet, stellen entgegen der Auffassung des Klägers insoweit keine strukturierte Psychotherapie dar.

 

Vor dem Hintergrund der gesetzlich gebotenen (Risiko-)Abwägung unter „Berücksichtigung des Krankheitszustandes“ des jeweiligen Versicherten, müsste sich speziell im Fall des Klägers eine begründete ärztliche Einschätzung auch dazu verhalten, wie sich ein beabsichtigter inhalativer Konsum von Medizinal-Cannabis zu dem infolge des fortgesetzten Nikotinkonsums bestehenden Lungenemphysem und einer COPD verhält. Bereits der MDK hat in seinem Gutachten vom 27. August 2018 die Frage aufgeworfen, ob insoweit wegen dieser Vorerkrankungen Kontraindikationen für die Inhalation mit Cannabis bestehen. Gleiches gilt für die Tatsache, dass der Kläger auch nach eigenen Angabe bereits seit 30 Jahren im Wege der „Selbstmedikation“ Cannabis konsumiert (so auch Dr. J in seinem Befundbericht an das Sozialgericht vom 1. Juni 2018). Vor dem Hintergrund einer möglicherweise bestehenden Suchtproblematik, wozu passen würde, dass sich der Kläger allein von Cannabis eine Beschwerdelinderung verspricht, wäre ärztlicherseits zu erläutern gewesen, ob deshalb eine Kontraindikation besteht.

Die begründete ärztliche Einschätzung ist einerseits sachliche Voraussetzung für einen geltend gemachten Anspruch nach § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V, andererseits aber gerade Ausdruck der ärztlichen Therapiehoheit. Fehlt sie bis zum Gerichtsverfahren vollständig, kann offen bleiben, ob sie nachgereicht werden kann. Es ist jedenfalls selbst bei Berücksichtigung des Amtsermittlungsgrundsatzes (§ 103 SGG) nicht Aufgabe des Gerichts, die behandelnden Ärzte/Ärztinnen so lange zu befragen, bis sich in der Zusammenschau eine ausreichende ärztlich begründete Einschätzung einstellt.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) bestehen nicht.

 

 

Rechtskraft
Aus
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