L 31 AS 1048/16

Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
31
1. Instanz
SG Neuruppin (BRB)
Aktenzeichen
S 18 AS 882/15
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 31 AS 1048/16
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Im Rahmen einer entgültigen Bewilligung für vergangene Leistungszeiträume ist der tatsächliche Bedarf unter Berücksichtigung der erzielten Einkünfte grundsätzlich konkret zu ermitteln und nicht unter Hinweis auf die Richtsatzsammlung des BMF zu schätzen.

Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Neuruppin vom 18. Februar 2016 geändert.

 

Die Klage wird abgewiesen, soweit sich die Klägerin für den streitigen Zeitraum vom 1. Januar 2015 bis zum 30. Juni 2015 gegen die Ansetzung eines monatlichen Einkommens aus Erwerbstätigkeit des verstorbenen Klägers i.H.v. 205,03 € und einer hieraus letztlich resultierenden Einkommensanrechnung in Höhe von monatlich 38,01 € wendet.

 

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

 

Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin des Rechtsstreits zu 1/2 zu erstatten.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

 

Tatbestand

 

Die 2011 geborene Klägerin setzt als alleinige Rechtsnachfolgerin den Rechtsstreit ihres im November 2018 verstorbenen Vaters, des ursprünglichen alleinigen Klägers (im Folgenden: Kläger) fort.

 

Streitig ist die Höhe des Anspruchs des Klägers auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für den Zeitraum vom 1. Januar 2015 bis zum 30. Juni 2015 unter Berücksichtigung von Einkommen des Klägers aus einem Gewerbebetrieb, insbesondere die Frage der Berücksichtigung der sogenannten Richtsatzsammlung des Bundesministeriums der Finanzen (im folgenden: Richtsatzsammlung BMF) bei der Einkommensermittlung.

 

Der 1978 geborene Kläger war seit 2012 selbstständig tätig. Zunächst betrieb er einen Handel von Teilen für Kraftfahrzeuge als Nebenerwerb. Von dem Beklagten erhielten der Kläger und die Mitglieder seiner Bedarfsgemeinschaft (die 1981 geborene C D und die 2011 geborene M D, die Rechtsnachfolgerin des mittlerweile verstorbenen Klägers) Leistungen nach dem SGB II.

Zum 10. Juni 2014 meldete der Kläger ein Gewerbe als freie Kfz- Meisterwerkstatt an (Bl. 1327 VA), beantragte die Weiterbewilligung der Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum ab 1. Juli 2014 (Bl. 1302 VA) und legte seinem Antrag eine Anlage EKS bei (Bl. 1328 VA), in der als ausgeübte Tätigkeit „Kfz- Werkstatt“ genannt war. In dieser Anlage EKS war als Summe der Betriebseinnahmen für die Monate Juni bis November 2014 ein Betrag von 3000 €/monatlich genannt und ab August 2014 ein Betrag für Wareneinkauf von mehr als 2000 €/monatlich (Bl. 1342 VA). Insgesamt wurden Betriebseinnahmen i.H.v. 18.000 € für den Zeitraum der EKS Warenkosten i.H.v. 11.700 € angesetzt. Es ergaben sich für die Monate ab August 2014 insgesamt Betriebsausgaben, die über dem Betrag der Betriebseinnahmen lagen (Bl. 1331 VA).

 

Der Beklagte bewilligte daraufhin dem Kläger und den Mitgliedern seiner Bedarfsgemeinschaft mit Bescheid vom 9. Juli 2014 (Bl. 1366 VA) für den Zeitraum vom 1. Juli 2014 bis zum 31. Dezember 2014 vorläufige Leistungen nach dem SGB II. Hierbei berücksichtigte der Beklagte unter Anwendung der Richtsatzsammlung für das Kalenderjahr 2014 des Bundesministeriums der Finanzen (Richtsatzsammlung BMF) für die Warenkosten im Bewilligungszeitraum nur einen Betrag i.H.v. 10.080 €.

 

Für den Weiterbewilligungsantrag vom 9. Dezember 2014 (Bl. 1433 VA) legte der Kläger eine Anlage EKS vor, welche für den Bewilligungszeitraum (Januar bis Juni 2015) bei Betriebseinnahmen i.H.v. 17.000 € Ausgaben für Wareneinkauf i.H.v. 10.080 € vorsah (Bl. 1463 VA). Der Beklagte forderte daraufhin den Kläger mit Schreiben vom 10. und 19. Dezember 2014 (Bl. 1456 und 1458 VA) zu diversen Angaben und Vorlage von Unterlagen auf, nicht aber zum Nachweis der tatsächlich geleisteten Wareneinkäufe.

 

Mit Bescheid vom 5. Januar 2015 (Bl. 1476 VA) bewilligte der Beklagte dem Kläger und den Mitgliedern seiner Bedarfsgemeinschaft schließlich auch für den hier im Streit befindlichen Zeitraum vom 1. Januar 2015 bis zum 30. Juni 2015 vorläufig Leistungen nach dem SGB II unter Berücksichtigung eines Gesamtbedarfes i.H.v. 954 € (=2 x 360 € Regelleistung + 234 € Sozialgeld) und eines Einkommens aus selbständiger Tätigkeit i.H.v. 488,62 € abzüglich Freibeträge schließlich einen Gesamtbetrag ab Januar 2015 in monatlicher Höhe von 459,10 €. Dieser Bescheid enthielt hinsichtlich der Warenkosten den Hinweis, dass mangels vorliegender Unterlagen die Notwendigkeit einer Angemessenheit noch nicht abschließend beurteilt werden könne; es werde eine Auflistung sämtlicher Eingangsrechnungen gefordert und es sei auf eine ordnungsgemäße Buchführung zu achten (Bl. 1482 VA).

 

Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger am 4. Februar 2015 mit der Begründung Widerspruch, es seien lediglich die allgemeinen Richtsatzzahlen zur Bemessung des Wareneinsatzes angenommen worden, die nicht der Realität in der Werkstatt entsprächen. Aufgrund des tatsächlichen Entwicklungsstandes der Werkstatt sei der Anteil von reinen Dienstleistungen/Lohnleistungen wie Inspektionen oder Ölwechsel mit sehr geringem Materialeinsatz noch deutlich unterrepräsentiert. Er bitte um Korrektur der Entscheidung entsprechend des nachgewiesenen Materialeinsatzes.

 

Den Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 26. März 2015, abgesandt am 27. März 2015, zurück (Bl. 1519 VA), da nach § 3 der Arbeitslosengeld II-Verordnung die Notwendigkeit der genannten Betriebsausgaben zu prüfen sei und hier ein Missverhältnis zwischen den Betriebseinnahmen und den Betriebsausgaben im Hinblick auf den Wareneinkauf festzustellen sei. Es sei daher die Richtsatzsammlung des BMF anzuwenden.

 

Gegen diesen Widerspruchsbescheid hat der Kläger am 27. April 2015 Klage bei dem Sozialgericht Neuruppin erhoben. Es sei ohne Begründung eine Kürzung von Betriebsausgaben ohne Berücksichtigung der tatsächlich nachweisbaren Zahlen vorgenommen worden.

 

Während des laufenden Klageverfahrens legte der Kläger dem Beklagten mit Schreiben vom 13. Oktober 2015 schließlich eine betriebswirtschaftliche Auswertung (BWA) in Form eines betriebswirtschaftlichen Kurzberichts eines Steuerberaters für den Zeitraum Januar bis Juni 2015 vor (Bl. 1769 VA). In dieser BWA erklärte der Kläger Betriebsausgaben für Wareneinkauf in einem Umfang von 7.853,41 € und bezifferte die Erlöse aus der betrieblichen Tätigkeit mit 12.682,92 € (Bl. 1770 VA).

 

Der Beklagte bewilligte daraufhin für den streitigen Zeitraum die Leistungen nach dem SGB II mit Bescheid vom 10. November 2015 endgültig (Bl. 1807 VA). Er bewilligte dem Kläger und den Mitgliedern seiner Bedarfsgemeinschaft bei einem Gesamtbedarf in monatlicher Höhe von 1051,87 € und Einkommen aus selbständiger Tätigkeit i.H.v. 429,06 € unter Berücksichtigung von Abzügen für Freibeträgen einen monatlichen Gesamtbetrag i.H.v. 944,32 €/monatlich. Bei dieser endgültigen Bewilligung berücksichtigte der Beklagte bei einem Gesamtumsatz im Bewilligungszeitraum i.H.v. 12.682,92 € unter Anwendung der Richtsatzsammlung des BMF Gesamtkosten für den Wareneinkauf i.H.v. 5326,83 € (= 42 % von 12.682,92 €). Der Differenzbetrag i.H.v. 2526,59 € (=7.853,41 € - 5326,83 €) zu den geltend gemachten tatsächlichen Aufwendungen sei als Betriebsausgabe nicht berücksichtigungsfähig und werde bei dem Gewinn erhöhend berücksichtigt.

 

Der nunmehr anwaltlich vertretene Kläger hält diese Vorgehensweise für unzulässig. Der Rückgriff auf die Richtsatzsammlung BMF sei nur zulässig, wenn der Steuerpflichtige keine Zahlen aufgrund der erstellten Buchhaltung vorlegen könne. Nur für diesen Fall sei die Finanzverwaltung berechtigt, eine Schätzung anhand dieser Richtwertsammlung durchzuführen. Der Kläger habe jedoch eine geprüfte BWA und plausible Nachweise vorgelegt. Ein Rückgriff auf die Richtsatzsammlung BMF sei daher unzulässig (Bl. 34 GA). Außerdem habe der Beklagte ohne jedwede Kommentierung den höchsten Wert aus der Richtsatzsammlung angewendet und damit die größtmögliche nachteilige Berechnung für den Kläger vorgenommen. Der erhöhte Wareneinsatz beruhe auf dem Umstand, dass zum Teil auch mit Ersatzteilen gehandelt werde. Dies lasse sich anhand der vorgelegten BWA eindeutig nachvollziehen.

 

Der Kläger hat beantragt,

 

den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 10. November 2015 zu verpflichten, ihm Leistungen nach dem SGB II mit der Maßgabe zu gewähren, dass im Bewilligungszeitraum Januar 2015 bis Juni 2015 bei ihm kein Einkommen angesetzt wird.

 

Der Beklagte hat beantragt,

 

            die Klage abzuweisen.

 

Der Beklagte ist der Ansicht, bei der Prüfung der Notwendigkeit nach § 3 Abs. 3 S. 1 Arbeitslosengeld II - Verordnung 2008 sei insbesondere die Menge der eingekauften Waren im Verhältnis zu den üblicherweise verkauften Waren (Wareneinsatzquote) zu beachten. Hierbei sei die Richtsatzsammlung BMF anzuwenden.

 

In der öffentlichen Sitzung des Sozialgerichts Neuruppin am 18. Februar 2016 haben sich die Beteiligten ausweislich des Sitzungsprotokolls (Bl. 51 GA) insbesondere darauf geeinigt, dass der vorliegende Rechtsstreit ausschließlich von dem Kläger und nicht den weiteren Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft geführt wird und das Ergebnis des Klageverfahrens auch auf die übrigen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft angewendet wird.

 

Mit Urteil vom 18. Februar 2016 hat das Sozialgericht Neuruppin den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 10. November 2015 verpflichtet, dem Kläger Leistungen nach dem SGB II mit der Maßgabe zu gewähren, dass im Bewilligungszeitraum Januar 2015 bis Juni 2015 bei ihm kein Einkommen angesetzt werde (Bl. 57 VA). Die zulässige Klage sei begründet. Nach der endgültigen Bewilligung der Leistung für den streitigen Zeitraum mit Bescheid vom 10. November 2015 sei dieser Bescheid Streitgegenstand des Klageverfahrens; der ursprüngliche vorläufige Bewilligungsbescheid vom 5. Januar 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. März 2015 habe sich gemäß § 39 SGB X erledigt. Der Kläger habe Anspruch auf Gewährung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ohne Kürzung der Betriebsausgaben unter Anwendung der Richtsatzsammlung BMF im streitigen Zeitraum. Grundsätzlich seien nach § 3 Abs. 2 Arbeitslosengeld II-Verordnung die tatsächlichen Betriebsausgaben anzusetzen. Ausnahmen hiervon seien nur zulässig, wenn dies gesetzlich normiert sei. Hierzu sei in § 3 Abs. 3 Arbeitslosengeld II-Verordnung normiert, dass Betriebsausgaben dann ganz oder teilweise nicht abzusetzen seien, wenn sie sich als nicht notwendig erweisen. Vorliegend sei eine fehlende Notwendigkeit der Warenkosten nicht erkennbar. Soweit der Beklagte darauf abstelle, es bestünde nach Anwendung der Richtsatzsammlung BMF ein Missverhältnis, welches ohne Einzelfallprüfung zu einer Kürzung berechtige, verkenne der Beklagte bereits den Anwendungsbereich der Richtsatzsammlung. Auch die Finanzämter dürften diese Sammlung nur dann für eine Schätzung anwenden, wenn geeignete Unterlagen fehlten. Dies bedeute, dass bei formell ordnungsgemäß ermittelten Buchführungsergebnissen eine Gewinnschätzung nach der Richtsatzsammlung nicht erfolgen dürfe. Daher dürfe auch im Leistungsrecht nach dem SGB II die Richtsatzsammlung BMF nur bei Fehlen geeigneter Unterlagen zu Schätzungen herangezogen werden. Das Sozialgericht hat die Berufung gegen seine Entscheidung zugelassen.

 

Gegen das dem Beklagten am 11. April 2016 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 27. April 2016 Berufung bei dem Landessozialgericht Berlin-Brandenburg eingelegt. Die vorgenommene Korrektur auf der Ausgabenseite i.H.v. 2526,59 € sei korrekt. Die Heranziehung der Richtsatzsammlung sei nicht zu beanstanden. Bei der Prüfung der Notwendigkeit im Sinne von § 3 Arbeitslosengeld II-Verordnung 2008 sei die Notwendigkeit des Wareneinkaufs im Verhältnis zu den üblicherweise verkauften Waren zu beachten. Mit einem hohen Wareneinkauf könne der Gewinn bewusst minimiert werden. Die Richtsatzsammlung könne Aufschluss darüber geben, ob ein offensichtliches Missverhältnis vorliege. Nach ihr könne ein branchenüblicher Rohgewinn ermittelt werden, der bei Kfz -Werkstätten bei 58 % liege. Im Umkehrschluss ließe sich ein branchenüblicher Wareneinsatz i.H.v. 42 % ermitteln. Nach dem vom Kläger vorgelegten betriebswirtschaftlichen Kurzbericht hätten bei ihm aber bei Einnahmen i.H.v. 12.614,97 € die Materialkosten bei 7.853,41 € gelegen und somit 62,25 % betragen. Bei einer derartigen Abweichung dränge sich ein Missverhältnis förmlich auf. Der Verordnungsgeber habe mit § 3 Arbeitslosengeld II- Verordnung in bewusster Abkehr von der Einkommensermittlung nach steuerrechtlichen Bestimmungen eigene Berechnungsvorschriften für das SGB II geschaffen. Im Rahmen dessen komme es gerade nicht mehr auf die exakte Bestimmung des Einkommens an. In Fällen des Missverhältnisses von Ausgaben und Erträgen werde gerade nicht bezweifelt, dass die Ausgaben auch tatsächlich erfolgt seien, dies werde unterstellt. Auf eine ordnungsgemäße Buchführung komme es folglich insoweit überhaupt nicht an. Eine vom Sozialgericht geforderte Einzelfallprüfung sei weder möglich, noch zulässig.

 

Der Beklagte beantragt,

 

das Urteil des Sozialgerichts Neuruppin vom 18. Februar 2016 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

 

Am 5. November 2018 ist der Kläger verstorben und die ebenfalls anwaltlich vertretene Klägerin hat als alleinige Rechtsnachfolgerin unter Vorlage eines entsprechenden Erbscheins des Amtsgerichts Neuruppin vom 12. Dezember 2018 den Rechtsstreit fortgesetzt.

 

Die Klägerin beantragt,

 

            die Berufung zurückzuweisen.

 

Die Klägerin hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend. Bei einer ordnungsgemäßen Buchführung könne auf die Richtsatzsammlung nicht zurückgegriffen werden. Letztlich unterstelle der Beklagte dem Kläger ein strafbares Handeln.

 

Im Berufungsverfahren wurde der Klägerin im Termin der öffentlichen Sitzung am 26. Februar 2020 aufgegeben, die im betriebswirtschaftlichen Kurzbericht bezüglich des Zeitraums vom 1. Januar bis 30. Juni 2015 verbuchten Wareneinkäufe i.H.v. 7853,41 € und die betrieblichen Erlöse i.H.v. 12.682,92 € zu belegen, jedenfalls soweit dies für die Zuordnung der Ausgaben zu Aufträgen erforderlich ist (Bl. 119,120 GA).

 

Die Klägerin hat daraufhin mit Schriftsatz vom 31. März 2020 die angeforderten Unterlagen (roter Leitzordner) mit dem Hinweis übersandt, bei Abgleich aller Rechnungen sei festzustellen, dass die Materialeinkäufe jeweils im Zusammenhang mit Werkstattaufträgen erfolgten und diesem zuzuordnen seien (Bl. 122 GA). Bei Abgleich aller Rechnungen sei weiter festzustellen, dass allenfalls Schmier- und Ölmittel sowie tägliche Verbrauchsmaterialien in geringen Mengen auf Vorrat gekauft worden seien.

 

Der Beklagte hat mit Schriftsatz vom 7. August 2020 darauf hingewiesen, dass im streitigen Zeitraum in insgesamt acht Rechnungen Materialeinkäufe verbucht seien, die in den Werkstattrechnungen nicht festzustellen seien (Bl. 133 GA).

Im Einzelnen wurden folgende nicht in Werkstattrechnungen auftretende Materialeinkäufe gerügt (roter Ordner, gelbe Zettel an der Unterseite):

 

  1. Rechnung vom 31. Dezember 2014 Heckscheibe (112,35 €), Wi Motor heck (72,15 €), Doppelgelenksaugheber (85,52 €) und Wi Arm Heck (13,95 €),
  2. Rechnung vom 12. Januar 2015 Luftfilter (6,50 €), Ölfilter (4,02 €), Innenraumfilter (7,90 €), Zündkerze (7,87 €) und Zahnriemen (26,80 €),
  3. Rechnung vom 2. Februar 2015 Z Leit Stz (29 €),
  4. Rechnung vom 9. Februar 2015 Luftfilter (8,23 €), Ölfilter (4,47 €), Innenraumfilter (8,82 €) und Filter KRST (17,05 €),
  5. Rechnung vom 23. Februar 2015 Zahnr (71,54 €),
  6. Rechnung vom 25. Mai 2015 Querlenker Reparatursatz (57,10 €),
  7. Rechnung vom 1. Juni 2015 Querlenker HD (83,89 €),
  8. Rechnung vom 15. Juni 2015 Zahnr (85,00 €), Dichtsatz VAG (49 €), Dichtsatz Zylinderkopf (27,96 €) und Dichtsatz Einspritzdüse (49,80 €),
  9. Rechnung vom 29. Juni 2015 BR Schei (54,20 €), Bremsklotz (33,20 €),
  10. Rechnung vom 6. Juli 2015 Stoßdämpfer Anbausatz (13,70 €), BR Schei (54,20 €), BR Klotz (33,20 € und 45,40 €) und BR Schei (119,60 €).

 

Der Gesamtwert dieser von dem Beklagten gerügten Materialeinkäufe ohne Zuordnung in entsprechenden Werkstattrechnungen lag bei 1182,42 €.

 

Außerdem seien Verbandkästen mehrfach geliefert worden, aber nur einmal auf einer Rechnung der Werkstatt aufgeführt. Weiter hat der Beklagte mit Schriftsatz vom 18. August 2020 darauf hingewiesen, dass die Anwendung des Heizkostenspiegels von co2online zur Beurteilung der Heizkosten nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (B 14 AS 36/08) herangezogen werden könne.

 

Zu den von dem Beklagten gerügten Positionen hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 20. Oktober 2020 (Bl. 151 GA) mitgeteilt, zwei der von dem Beklagten genannten Rechnungen (vom 25. Mai 2015 und 1. Juni 2015- Wert der dort gerügten Materialien zusammen: 140,99 €) seien nicht mehr aufklärbar. Die übrigen Rechnungen beträfen den Erwerb von Materialien, die für Reparaturen des Pkws des Klägers und innerhalb der Familie genutzt worden seien. Eine Werkstattrechnung sei daher hierfür nicht erstellt worden. Diesem Schriftsatz der Klägerin war eine Erklärung des Steuerberaters vom 29. September 2020 beigefügt (Bl. 154 GA), wonach zum Zeitpunkt des Betreibens der Werkstatt kein nennenswertes Waren- bzw. Ersatzteillager bestanden habe. Es seien auch nie ausreichende liquide Mittel vorhanden gewesen, um ein solches Warenlager anzulegen. Zudem habe aufgrund eines bestehenden Liefervertrages mit der Firma Matthies auch keine Notwendigkeit zur Anlegung eines solchen Warenlagers bestanden, da Ersatzteile innerhalb von 24 Stunden geliefert werden konnten.

 

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 SGG einverstanden erklärt.

 

Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge (2 Bände – 03802 BG 0300349), der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.

 

 

Entscheidungsgründe

 

Die Entscheidung über das Berufungsverfahren konnte durch Urteil ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 SGG erfolgen, weil die Beteiligten ihr Einverständnis zu dieser Verfahrensweise erklärt haben.

 

Die Berufung ist zulässig. Sie ist insbesondere trotz eines Streitwertes von 699,98 € statthaft, weil die Berufung von dem Sozialgericht Neuruppin zugelassen worden ist; an diese Zulassung ist das Landessozialgericht gebunden (§ 144 Abs. 3 SGG).

 

Die Berufung des Beklagten ist indessen überwiegend unbegründet. Die zulässige Klage des verstorbenen Klägers ist überwiegend begründet. Das Sozialgericht Neuruppin hat mit der angegriffenen Entscheidung im Ergebnis zutreffend den Beklagten zu einer Leistungsgewährung für den streitigen Zeitraum ohne Berücksichtigung fiktiver Einkünfte unter Heranziehung der steuerrechtlichen Richtsatzsammlung BMF verurteilt. Der angegriffene Bescheid des Beklagten ist insoweit rechtswidrig und verletzt die Klägerin als Rechtsnachfolgerin des verstorbenen Klägers in ihren Rechten.

 

Wie das Sozialgericht Neuruppin zutreffend erkannt hat, ist streitgegenständlich ausschließlich der Bescheid vom 10. November 2015, der den vorläufigen Bewilligungsbescheid vom 5. Januar 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. März 2015 ersetzt hat (vgl. u.a. Bundessozialgericht –BSG-, Urteil vom 10. Mai 2011, B 4 AS 139/10 R, mit weiteren Nachweisen, zitiert nach juris). Der endgültige Festsetzungsbescheid wurde gemäß § 96 SGG Gegenstand des Klageverfahrens, sodass es eines weiteren Vorverfahrens nach § 78 SGG nicht bedurfte.

 

Die Klage ist auch nicht deshalb unzulässig, weil sich allein der verstorbene Kläger gegen die Leistungsbewilligung durch den Beklagten wendete und nicht die weiteren Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft. Zum einen war dem verstorbenen Kläger als Rechtsträger für seine Leistungsansprüche eine Klagebefugnis nicht abzusprechen. Zum anderen haben die Beteiligten ausweislich der Sitzungsniederschrift der Sitzung des Sozialgerichts Neuruppin vom 18. Februar 2016 übereinstimmend vereinbart, dass das Ergebnis dieses Klageverfahrens auch auf die übrigen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft anzuwenden ist.

 

Die Klage ist auch überwiegend begründet.

 

Als Einkommen zu berücksichtigen sind Einnahmen in Geld oder Geldeswert abzüglich der nach § 11b abzusetzenden Beträge mit Ausnahme der in § 11a genannten Einnahmen (§ 11 Abs. 1 S. 1 SGB II in der vom 1. April 2011 bis 31. Juli 2016 geltenden Fassung -a.F.). Nach § 11b Abs. 1 Nr. 5 SGB II in der Fassung vom 1. Januar 2013 bis zum 31. Juli 2016 sind von dem Einkommen insbesondere abzusetzen die mit der Erzielung des Einkommens verbundenen notwendigen Ausgaben. Die Berechnung von Einkommen aus Gewerbebetrieben im Besonderen richtet sich nach den auf Grundlage des § 13 Abs. 1 Nr. 1 SGB II in der ab 1. April 2011 geltenden Fassung in Verbindung mit §§ 3 ff der Verordnung zur Berechnung von Einkommen sowie zur Nichtberücksichtigung von Einkommen und Vermögen beim Arbeitslosengeld II/Sozialgeld (Alg II-V) in der vom 1. Juli 2011 bis 31. Juli 2016 geltenden Fassung. Danach ist bei der Berechnung des Einkommens aus selbstständiger Arbeit, Gewerbebetrieb oder Land- und Forstwirtschaft von den Betriebseinnahmen auszugehen. Betriebseinnahmen sind alle aus selbständiger Arbeit, Gewerbebetrieb oder Land- und Forstwirtschaft erzielten Einnahmen, die im Bewilligungszeitraum (§ 41 Abs. 1 S. 4 SGB II) tatsächlich zufließen (§ 3 Abs. 1 S. 1 und S. 2 Alg II-V).

Zur Berechnung des Einkommens sind von den Betriebseinnahmen die im Bewilligungszeitraum tatsächlich geleisteten notwendigen Ausgaben mit Ausnahme der nach § 11b SGB II. abzusetzenden Beträge ohne Rücksicht auf steuerrechtliche Vorschriften abzusetzen (§ 3 Abs. 2 Alg II-V). Nach § 3 Abs. 3 S. 1 Alg II-V sollen tatsächliche Ausgaben nicht abgesetzt werden, soweit diese ganz oder teilweise vermeidbar sind oder offensichtlich nicht den Lebensumständen während des Bezuges der Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitsuchende entsprechen. Ausgaben können bei der Berechnung nicht abgesetzt werden, soweit das Verhältnis der Ausgaben zu den jeweiligen Erträgen in einem auffälligen Missverhältnis steht (§ 3 Abs. 2 S. 4 Alg II-V).

 

Bei der Anwendung der Arbeitslosengeld II - Verordnung hat der Beklagte die Richtsatzsammlung für das Kalenderjahr 2015 des Bundesministeriums der Finanzen herangezogen (siehe https://www.bundesfinanzministerium.de/.../2016-07-28-richtsatzsammlung2015.html, -Richtsatzsammlung BMF-), welche folgende Regelungen enthält:

„Vorbemerkungen

 

  1. Allgemeines

 

 

  1. Die Richtsätze sind ein Hilfsmittel (Anhaltspunkte) für die Finanzverwaltung, Umsätze und Gewinne der Gewerbetreibenden zu verproben und gegebenenfalls bei Fehlen anderer geeigneter Unterlagen zu schätzen (§ 162 AO).

Bei formell ordnungsgemäß ermittelten Buchführungsergebnissen darf eine Gewinn- oder Umsatzschätzung nach ständiger Rechtsprechung in der Regel nicht allein darauf gestützt werden, dass die erklärten Gewinne oder Umsätze von den Zahlen der Richtsatz-Sammlung abweichen.

  1. Die Richtsätze stellen auf die Verhältnisse eines Normalbetriebs ab.
  2. Die Richtsätze bestehen aus einem oberen und einem unteren Rahmen Satz sowie einem Mittelsatz. Die Rahmensätze tragen den unterschiedlichen Verhältnissen Rechnung. Der Mittelsatz ist das gewogene Mittel aus den Einzelergebnissen der geprüften Betriebe einer Gewerbeklasse.
  3.  

 

  1. Anwendung der Richtsätze

 

  1. Schätzung

die Ausgangspunkte für die Schätzung der Besteuerungsgrundlagen sind

•    beim Handelsbetrieb der normalisierte Wareneinsatz,

  • beim Handwerks- und gemischten Betrieb der normalisierte waren-, Material- und Fertigungslohneinsatz

 

      1. soweit die Richtsätze für Handwerksbetriebe und gemischte Betriebe festgesetzt werden, sind bei unterdurchschnittlichen Waren- und Materialeinsatz der oberen Rahmen Hälfte anzusetzen. Der durchschnittliche waren- und Materialeinsatz ergibt sich aus dem nachrichtlich angegebenen Rohgewinn I.

….“

 

In der Tabelle finden sich schließlich folgende Werte:

 

            „Kfz- Einzelhandel, bis 500.000 € Umsatz, Rohgewinn I 12-47,       25

 

            Kfz- Reparatur,        bis 300.000 € Umsatz, Rohgewinn I                   58

 

            Kfz- Zubehörhandel, bis 250.000 € Umsatz, Rohgewinn I 27-59,     45“

 

Nach diesen Regelungen hat der Beklagte vorliegend zu Unrecht unter Einbeziehung der Richtsatzsammlung BMF eine Korrektur auf der Ausgabenseite i.H.v. 2526,59 € vorgenommen und das Einkommen des Klägers insoweit fiktiv korrigiert.

 

Es kann dahinstehen, ob der Beklagte im vorliegenden Fall im Rahmen der endgültigen Leistungsbewilligung grundsätzlich berechtigt war, die Tabellenwerte der Richtsatzsammlung BMF zur Ermittlung der Einkünfte heranzuziehen.

 

Nach der hierzu ergangenen sozialgerichtlichen Rechtsprechung zu der Anwendung der sogenannten Richtsatzsammlung BMF ist grundsätzlich zwischen einer Schätzung für zukünftige und der Berechnung von Einkünften für vergangene Zeiträume zu unterscheiden.

Nach dieser Rechtsprechung der Sozialgerichte ist die Anwendung der Richtsatzsammlung für eine Schätzung zukünftiger Einkünfte und damit einer Hilfebedürftigkeit im Sinne von § 9 SGB II grundsätzlich zulässig und wird daher im Rahmen der erforderlichen Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruches nach § 86 b Abs. 2 SGG regelmäßig angewendet (so beispielsweise Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 4. April 2008, L 7 AS 5626/07 ER-B und Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 7. Mai 2018, L 19 AS 2316/17 B ER, beide mit weiteren Nachweisen und zitiert nach Juris). Diese Ansicht hat auch der erkennende Senat bereits in einem nicht veröffentlichten Beschluss vom 27. Februar 2014, (L 31 AS 262/14 B ER), vertreten.

 

Für eine Einkommensermittlung im Rahmen einer endgültigen Leistungsfestsetzung nach Ablauf des Bewilligungszeitraumes hat das Landessozialgericht Hamburg demgegenüber bereits mit Urteil vom 10. September 2018 (L 4 AS 316/15, zitiert nach Juris) entschieden, dass hierfür die Richtsatzsammlung BMF grundsätzlich nicht herangezogen werden kann. Zur Begründung hat das Landessozialgericht Hamburg im Wesentlichen ausgeführt, es handele sich in dieser Sammlung um Richtsätze, die nicht für Zwecke der Einkommensberechnung nach dem SGB II, sondern als Hilfsmittel für die Finanzverwaltung erstellt würden und die zudem eine weite Spanne aufweisen würden. So sei beispielsweise für Imbissbetriebe ein Rohgewinnaufschlag zwischen 144 und 376 % vorgesehen.

 

Auch das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg hat bereits zu der Anwendbarkeit der Richtsatzsammlung im Rahmen einer Einkommensberücksichtigung nach dem SGB II entschieden und im Anschluss an die hier im Streit befindliche Entscheidung des Sozialgerichts Neuruppin im Urteil vom 15. November 2017 (L 29 AS 920/15, nicht veröffentlicht) hierzu ausgeführt, dass bei formell ordnungsgemäß ermittelten Buchführungsergebnissen eine Gewinn- oder Umsatzschätzung in der Regel nicht allein darauf gestützt werden dürfe, dass die erklärten Gewinne oder Umsätze von den Zahlen der Richtsatzsammlung abweichen. Würden hingegen für einen Gewerbebetrieb, für den eine Buchführungspflicht besteht, keine Bücher geführt, oder sei die Buchführung nicht ordnungsgemäß, so könne der Gewinn unter Berücksichtigung der Verhältnisse des Einzelfalles und unter Umständen unter Anwendung von Richtsätzen auch geschätzt werden. Die Richtsätze dienten nicht dazu, ein pauschales „Erhöhen“ des Gewinns oder auch „Kürzen“ von Betriebsausgaben zu rechtfertigen. Vielmehr stellten sie ein Instrument dar, um die Fälle herauszufiltern, in denen eine Einzelfallprüfung notwendig sei. Allenfalls nach deren Abschluss könne unter Anwendung der Richtsätze eine Korrektur des Gewinns erfolgen.

 

Im vorliegenden Fall kann allerdings offenbleiben, ob auch bei einer endgültigen Leistungsbewilligung die Richtsatzsammlung BMF grundsätzlich anwendbar ist. Selbst wenn dies der Fall wäre, ist jedenfalls eine korrekte Anwendung der Werte aus der Richtsatzsammlung BMF 2015 durch den Beklagten nicht erfolgt.

 

Nach den Vorbemerkungen der Richtsatzsammlung stellen die Werte lediglich einen Anhaltspunkt zur Schätzung nach § 162 AO dar (siehe hierzu Vorbemerkungen, A) Allgemeines, Ziffer 1, 2. Satz). Bei formell ordnungsgemäß ermittelten Buchführungsergebnissen dürfe eine Gewinn- oder Umsatzschätzung in der Regel nicht allein darauf gestützt werden, dass die erklärten Gewinne oder Umsätze von den Zahlen der Richtsatzsammlung abweichen (Vorbemerkungen, A) Allgemeines, Ziffer 1, 1. Satz). Die Richtsätze weisen weiter regelmäßig einen oberen und einen unteren Rahmensatz sowie einen Mittelsatz aus (Ziffer 6), sind nach Art der Tätigkeit (u.a. Handelsbetrieb, Handwerks- oder gemischter Betrieb, Ziffer 10.1) und schließlich nach der Höhe der Umsätze (Ziff. 10.2.2) unterschiedlich anzuwenden. Die Richtsätze stellen auf die Verhältnisse eines Normalbetriebs ab (Vorbemerkungen, A) Allgemeines, Ziffer 3) und durch die Rahmensätze soll den unterschiedlichen Verhältnissen Rechnung getragen werden (Vorbemerkungen, A) Allgemeines, Ziffer 6, S. 2). Nach der Tabelle der Richtsatzsammlung BMF ergibt sich beispielsweise für einen Betrieb des Kfz- Einzelhandel mit einem Umsatz bis zu 500.000 € ein Rahmen von 12-47 % und ein Mittelwert von 25 %. Für einen Betrieb der Kfz- Reparatur mit einem Umsatz bis zu 300.000 € liegt der Mittelwert bei 58 % und bei einem Betrieb des Kfz- Zubehörhandels mit einem Umsatz bis zu 250.000 € bei einem Rahmen von 27-59 % und einen Mittelwert von    45 %. Dementsprechend entbindet die Richtsatzsammlung nicht von der Notwendigkeit einer Einzelfallprüfung. Eine solche ist vielmehr schon Voraussetzung für eine korrekte Anwendung der Tabellenwerte. So sind beispielsweise die konkrete Art und der Umfang der ausgeübten Tätigkeit ebenso erheblich, wie Besonderheiten im Einzelfall. Denn Letzteren soll gerade durch die regelmäßig vorgesehenen Rahmensätze Rechnung getragen werden. Zudem kommt die Anwendung der Richtsätze regelmäßig gar nicht in Betracht, wenn eine ordnungsgemäße Buchführung erfolgt ist. Grundvoraussetzung für die Anwendung der Richtsätze ist mithin eine Prüfung, ob eine ordnungsgemäße Buchführung vorliegt.

 

Diese Voraussetzungen hat der Beklagte verkannt und daher die Richtsatzsammlung BMF schon tatsächlich nicht korrekt angewendet.

 

Hierzu hat der Beklagte im Berufungsverfahren mit Schriftsatz vom 5. September 2016 ausdrücklich ausgeführt, diese Vorgaben aus dem steuerrechtlichen Verfahren würden im Leistungsrecht des SGB II aufgrund der Regelung des § 3 Arbeitslosengeld- II- Verordnung nicht gelten. Er bezweifele ausdrücklich nicht den Umfang der behaupteten Ausgaben. Vielmehr gehe er davon aus, dass es sich um tatsächlich getätigte Ausgaben handele. Angesichts der Werte aus der Richtsatzsammlung BMF seien aber unverhältnismäßige Kosten abzusetzen, ohne dass eine Einzelfallprüfung durch den Träger der Leistungen überhaupt angezeigt oder auch nur zulässig sei.

 

Der Beklagte verkennt hierbei zum einen schon die Intention der steuerrechtlichen Richtsatzsammlung BMF, die ausdrücklich nur als Grundlage für eine Schätzung bei nicht vorhandener ordnungsgemäßer Buchführung dienen soll. Erkennt aber der Beklagte die ordnungsgemäße Buchführung des Leistungsberechtigten sogar ausdrücklich an und zweifelt nicht einmal den Umfang der behaupteten Ausgaben an, so wäre für eine Schätzung selbst nach steuerrechtlichen Vorschriften kein Raum. Fraglich oder gar widersprüchlich wäre das Verhalten des Beklagten zudem im Hinblick auf den ausdrücklich im Bescheid vom 5. Januar 2015 erfolgten Hinweis, dass auf eine ordnungsgemäße Buchführung zu achten sei. Hält der Beklagte eine solche letztlich nach seinen eigenen Ausführungen selbst für unbeachtlich, weil eine Schätzung der Kosten nach der Richtsatzsammlung BMF zu erfolgen habe und nicht eine tatsächliche Ermittlung, so wäre eine Aufforderung zu einer ordnungsgemäßen Buchführung zumindest überflüssig oder gar unzulässig.

 

Weiter würde bei einer alleinigen Schätzung der Einkünfte nach der Richtsatzsammlung BMF dem Zweck der Leistungen nach dem SGB II nicht ausreichend Rechnung getragen. Die Leistungen nach dem SGB II sollen gemäß § 1 Abs. 1 SGB II dem Leistungsberechtigten ermöglichen, ein Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht. Dementsprechend ist gemäß § 9 Abs. 1 SGB II der Leistungsberechtigte in dem Umfang hilfebedürftig, in dem er seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann. Diesem Zweck würde nicht ausreichend Rechnung getragen, wenn der Leistungsträger trotz Vorlage einer ordnungsgemäßen Buchführung berechtigt wäre, unter Außerachtlassung der tatsächlichen Einkünften einfach fiktive Einkünfte zu schätzen und bei der Leistungsberechnung zu berücksichtigen. Sind Ausgaben durch den Leistungsberechtigten tatsächlich erfolgt, was von dem Beklagten vorliegend nicht in Zweifel gezogen wird, sondern sogar ausdrücklich bestätigt wird, so verfügt der Leistungsberechtigte unstreitig nicht über die finanziellen Mittel zur Bestreitung eines nach dem SGB II angemessenen Lebensunterhalts. Es sollen allerdings gegebenenfalls nach § 3 Abs. 3 S. 1 Alg II-V tatsächliche Ausgaben nicht abgesetzt werden, soweit diese ganz oder teilweise vermeidbar sind oder offensichtlich nicht den Lebensumständen während des Bezuges der Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitsuchende entsprechen. Ausgaben können bei der Berechnung darüber hinaus nicht abgesetzt werden, soweit das Verhältnis der Ausgaben zu den jeweiligen Erträgen in einem auffälligen Missverhältnis steht (§ 3 Abs. 2 S. 4 Alg II-V). Im Rahmen dieser Angemessenheitsprüfung nach § 3 Alg II-V mag die Richtsatzsammlung BMF- bei korrekter Anwendung unter Berücksichtigung der dortigen Vorgaben- auch durchaus Relevanz zur Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der Betriebsausgaben haben. Dieser zweite Schritt (in Form einer Angemessenheitsprüfung) entbindet den Beklagten jedoch nicht in einem ersten Schritt, die tatsächlichen Kosten zu ermitteln.

 

Zu einer anderen Einschätzung führt auch nicht die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 2. Juli 2009, B 14 AS 36/08, zitiert nach Juris) zur Anwendung des Heizkostenspiegels von co2online.

In dieser Entscheidung hat das Bundessozialgericht vielmehr gerade ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Leistungen für Heizung grundsätzlich in Höhe der tatsächlich angefallenen Aufwendungen zu erbringen sind ( BSG, a.a.O., Rn. 18 ff., mit weiteren Nachweisen). Entgegen der Ansicht des Beklagten ist mithin auch bei den Heizkosten eine Schätzung grundsätzlich nicht zulässig, sondern in einem ersten Schritt eine Ermittlung der tatsächlichen Kosten geboten. Stehen die so ermittelten tatsächlichen Kosten allerdings in einem eklatanten Missverhältnis zu der angemessenen Wohnfläche, so besteht gegebenenfalls auch bei der Ermittlung der angemessenen Heizkosten in einem zweiten Ermittlungsschritt Anlass, die Kosten der Heizung entsprechend zu begrenzen ( BSG, a.a.O., Rn. 21, mit weiteren Nachweisen). Ein eklatantes Missverhältnis nimmt das Bundessozialgericht allerdings erst an, wenn nach einem Vergleich mit einem aussagekräftige Heizkostenspiegel die tatsächlichen Heizkosten als „extrem hoch“ einzuschätzen wären. Auch bei der Ermittlung der Heizkosten hat daher grundsätzlich in jedem Fall in einem ersten Schritt die Ermittlung der tatsächlichen Kosten zu erfolgen.

 

Danach bleibt zunächst festzustellen, dass die Anwendung der Richtsätze aus der Richtsatzsammlung BMF zur Ermittlung von Einkünften nach dem SGB II jedenfalls dann schon grundsätzlich nicht zulässig ist, wenn nach ordnungsgemäß ermittelten Buchführungsergebnissen unstreitig finanzielle Mittel zur Deckung des Existenzminimums nicht zur Verfügung stehen. Vorliegend hat der Kläger im Oktober 2015 für den hier streitigen Wirtschafts- und Bewilligungszeitraum eine von dem Beklagten als ordnungsgemäß angesehene BWA- Erklärung nebst Anlagen abgegeben, sodass bereits eine Schätzungsbefugnis des Beklagten bei Vorliegen einer unbestritten ordnungsgemäßen Buchführung nicht ersichtlich ist.

 

Weiter ist vorliegend nicht einmal festzustellen, dass der Beklagte die Werte aus der Richtsatzsammlung BMF ohne Einzelfallprüfung zutreffend angewendet hat. Insofern hat der Beklagte selbst eingeräumt, dass eine Einzelfallprüfung nicht erfolgt ist, ja nicht einmal zulässig wäre. Diese Ansicht verkennt allerdings die Systematik der Richtsatzsammlung BMF und führt im Zweifel zur Anwendung unzutreffender Richtsätze.

 

Wie bereits dargestellt, hängen die Schätzwerte aus der Richtsatzsammlung BMF nämlich nicht nur von dem Umfang des Jahresumsatzes ab, sondern beispielsweise auch von der Art der ausgeübten Tätigkeit. Allein für das Kfz- Gewerbe wird in der Richtsatzsammlung BMF zwischen vier verschiedenen Tätigkeiten (Einzelhandel, Lackiererei, Reparatur und Zubehörhandel) unterschieden und dementsprechend verschiedene Rohgewinnquoten ausgewiesen. Diese divergieren bei dem Rohgewinn erheblich. So beträgt beispielsweise der geringste Rahmensatz im Kfz- Einzelhandel bei einem Umsatz von mehr als 500.000 € lediglich 9 %. Demgegenüber ergibt sich aus der Tabelle für den Bereich Kfz -Lackiererei eine Rohgewinnquote von bis zu 78 % bei einem Umsatz bis zu 200.000 € jährlich. Im Bereich Zubehörhandel divergieren die Rahmensätze für den Rohgewinn von 26-59 %, wohingegen im Bereich Reparatur nicht einmal Rahmensätze abgebildet werden.

 

Angesichts dieser Unterscheidungen im Bereich der Richtsatzsammlung BMF wäre es zumindest erforderlich gewesen, vor einer Anwendung der Tabelle die tatsächlich ausgeübte Tätigkeit des Betriebs zu ermitteln. Dies gilt umso mehr, als der verstorbene Kläger zunächst nur einen Kfz- Zubehörhandel ausgeübt hat und erst rund ein halbes Jahr vor dem hier streitigen Bewilligungszeitraum die Tätigkeit des Kfz- Reparaturbetriebes zusätzlich aufgenommen wurde. Schon im Widerspruchsschreiben hat er auf diese Besonderheiten seines Betriebes hingewiesen und den Wareneinsatz erläutert. Auch im Klageverfahren hat der Kläger nochmals dargestellt, dass der erhöhte Wareneinsatz dem Umstand geschuldet ist, dass zum Teil auch mit Ersatzteilen gehandelt werde.

Danach ist vorliegend bereits mehr als zweifelhaft, ob der Beklagte zutreffend von einem reinen Kfz-Reparaturbetrieb ausgegangen ist und nicht ein Zubehörhandel oder ein Mischbetrieb vorgelegen hat. Müssten aber entgegen der Annahme des Beklagten nicht die Werte aus der Richtsatzsammlung BMF für einen Reparaturbetrieb, sondern für einen Kfz-Zubehörhandel zugrunde gelegt werden, so läge der untere Rahmenwert für einen Rohgewinn bei einem Jahresumsatz bis zu 250.000 € bei lediglich 27 %, sodass ein Wareneinsatz bis zu 73 % nicht ungewöhnlich wäre. Würden diese Zahlen vorliegend berücksichtigt, so wären bei tatsächlich erzielten Einnahmen i.H.v. 12.614,94 € (x 73 %=) Wareneinkäufe im Umfang von 9.208,90 € nicht unüblich und damit deutlich mehr als die von dem Kläger tatsächlich angegebenen 7.853,41 €. Selbst bei einem in der Tabelle ausgewiesenen Mittelsatz von 45 % für den Rohgewinn und einem hieraus resultierenden üblichen Wareneinsatz von 55 % ergebe sich vorliegend unter Berücksichtigung der Einnahmen ein üblicher Wareneinsatz von (12.614,94 € x 55%=) 6.938,22 €, der annähernd dem tatsächlichen Wareneinkauf i.H.v. 7.853,41 € entsprechen würde.

 

Schließlich ist weiter festzustellen, dass auch nach den im Berufungsverfahren vorgenommenen Ermittlungen anhand der durch die Klägerin vorgelegten Rechnungen ein von dem Beklagten unterstelltes Materiallager entsprechend der Schätzungen des Beklagten nicht festgestellt werden konnte. Vielmehr konnte das vom verstorbenen Kläger beschaffte Material weit überwiegend den Werkstattrechnungen für Reparaturen zugeordnet werden.

 

Nach seiner Schätzung hat der Beklagte Materialeinkäufe in Höhe von 2526,59 € nicht als Betriebsausgaben anerkannt und dementsprechend bei der Leistungsbewilligung als vorhandenes Einkommen/Vermögen abgezogen. Nach den Ermittlungen im Berufungsverfahren gelangte der Beklagte nach Prüfung der vorgelegten Rechnungen dann nur noch zu Materialeinkäufen ohne Zuordnung in entsprechenden Werkstattrechnungen in Höhe von 1182,42 €, mithin nicht einmal 50 % der vom Beklagten geschätzten Summe. Hierzu hat die Klägerin nachvollziehbar darauf hingewiesen, dass es sich bei dem von dem Beklagten genannten Material größtenteils um Material handelte, welches in die Pkw des verstorbenen Klägers und naher Familienangehörige ohne Stellung einer Werkstattrechnung verbaut worden ist. Lediglich der gerügte Materialeinsatz aus den Rechnungen vom 25. Mai 2015 und 1. Juni 2015 sei nicht mehr nachvollziehbar.

 

Diese Ermittlungen stehen auch im Einklang mit der Erklärung des Steuerberaters vom 29. September 2020, wonach zum Zeitpunkt des Betreibens der Werkstatt kein nennenswertes Waren- bzw. Ersatzteillager bestanden habe.

 

Abschließend bleibt danach festzustellen, dass der Beklagte im vorliegenden Fall nicht berechtigt war, statt die tatsächlichen Kosten zu ermitteln diese allein anhand der Richtsatzsammlung BMF zu schätzen. Weiter ist nicht festzustellen, dass die von dem Beklagten zugrunde gelegten Richtsätze nach den Vorgaben der Richtsatzsammlung BMF zutreffend ermittelt worden sind. Dementsprechend hat der Beklagte fiktive Einkünfte in unzulässiger Weise berücksichtigt und damit für den streitigen Zeitraum eine zu geringe Leistung bewilligt.

 

Bei der Bedarfsberechnung und damit der Leistungsgewährung ist allerdings ein Betrag in Höhe von 1182,42 € für in den eigenen Pkw oder Pkws von Familienmitgliedern verbaute Ersatzteile zu berücksichtigen, der entsprechend der obigen Feststellungen den Werkstattrechnungen nicht zuzuordnen war und daher als Einkommen in Form einer sogenannten Selbstentnahme der Warenbestände anzusehen ist.

 

Danach ergibt sich hinsichtlich der Einkommensermittlung für den streitigen Zeitraum folgende Berechnung:

 

2104,25 € Gewinn laut BWA

+          1182,42 € Selbstentnahme Warenbestände

+          139,80 € private Fahrten mit betrieblichen Kfz

            3426,47 €

 

Von dem so berechneten Gewinn in Höhe von 3426,47 € ist ein Betrag i.H.v. 2196,30 € für die Tilgung des betrieblichen Darlehens in Abzug zu bringen, sodass sich insgesamt ein Gewinn aus der Erwerbstätigkeit des verstorbenen Klägers in Höhe von (3426,47 € -2196,30 € =) 1230,17 € ergibt. Verteilt auf den streitigen Bewilligungszeitraum von sechs Monaten ergibt sich so ein monatlicher Anrechnungsbetrag von (1230,17 € : 6 =) 205,03 €, statt der von dem Beklagten berechneten 429,06 €.

 

Von diesem Einkommen aus selbständiger Tätigkeit i.H.v. 205,03 € ist weiter ein Grundfreibetrag nach § 11b Abs. 2 SGB II in der hier anzuwendenden Fassung in Höhe von pauschal 100 € und ein Einkommensfreibetrag wegen Erwerbstätigkeit nach § 11b Abs. 3 SGB II a.F. i.H.v. 20 % für den Teil des monatlichen Einkommens, das 100 € übersteigt und nicht mehr als 1000 € beträgt, vorliegend mithin monatlich (205,03 € - 100 € = 105,03 € × 20 % =) 21,00 € in Abzug zu bringen. Es ergibt sich so ein zu verteilendes Einkommen aus selbständiger Tätigkeit in Höhe von (205,03 € -100 € -21 € =) 84,03 €. Entsprechend des von dem Beklagten für den verstorbenen Kläger ermittelten Verteilerschlüssels von 45,24 % des Gesamtbedarfes ergibt sich so für ihn bei der Verteilung des Einkommens ein Anrechnungsbetrag i.H.v. 38,01 € (= 84,03 € × 45,24 %). Unter Berücksichtigung des von dem Beklagten ermittelten Gesamtbedarfs des Klägers in Höhe von monatlich 392,63 € ergibt sich abzüglich der Einkommensanrechnung in Höhe von monatlich 38,01 € schließlich ein Bedarfssatz in Höhe von monatlich (392,63 € -38,01 € =) 354,62 €, statt der von dem Beklagten gewährten 273,53 €, und so ein um (354,62 € -273,53 € =) 81,09 €/ monatlich höherer Anspruch. Insgesamt sind daher für den streitigen Zeitraum Leistungen für den verstorbenen Kläger in Höhe von (81,09 € × 6 Monate =) 486,54 € noch zu gewähren.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie trägt dem Umstand Rechnung, dass sich das anzurechnende Einkommen aus der vom verstorbenen Kläger im streitigen Zeitraum ausgeübten Erwerbstätigkeit von monatlich 429,06 € auf 221,03 € rund um die Hälfte verringert hat und dementsprechend das aus den gestellten Anträgen ersichtliche Klagebegehren erfolgreich war.

 

Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG nicht vorliegen.

Rechtskraft
Aus
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