L 1 KR 135/21 KL

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1.
1. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 KR 135/21 KL
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg erklärt sich für sachlich instanziell unzuständig.

Der Rechtsstreit wird an das Sozialgericht Berlin verwiesen.

 

Gründe

 

I.

 

Die Kläger, Bundesverbände von Physiotherapeuten, wenden sich mit ihrer am 8. April 2021 beim hiesigen Gericht eingegangenen Klage gegen den Schiedsspruch der Beklagten, der Schiedsstelle nach § 125 Abs. 6 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V), vom 8. März 2021 zur Festsetzung des Vertragsinhalts des Vertrages nach § 125 Abs. 1 und 2 SGB V zur Regelung der Einzelheiten der Versorgung der Versicherten der gesetzlichen Krankenkassen mit Leistungen der Physiotherapie gemäß § 32 SGB V zwischen dem Beigeladenen Spitzenverband Bund der Krankenkassen einerseits und den Klägern sowie zwei weiteren Verbänden von Physiotherapeuten andererseits. Der Kläger zu 1) hat seinen Sitz in B, der Kläger zu 2) in B. Die weiter am Vertrag beteiligten Verbände haben ihren Sitz in H bzw. K.

 

II.

 

1.) Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg ist sachlich-instanziell unzuständig für die Klage gegen den Schiedsspruch der Beklagten, da sich die Zuständigkeit der Landessozialgerichte nach § 29 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf die Entscheidung über Berufungen und Beschwerden gegen Urteile der Sozialgerichte beschränkt. Über Klagen haben hingegen in erster Instanz die Sozialgerichte zu entscheiden, § 8 SGG.

 

Ein Fall, in dem ausnahmsweise eine erstinstanzliche Zuständigkeit der Landessozialgerichte nach § 29 Abs. 2 SGG oder speziell des hiesigen LSG nach § 29 Abs. 4 SGG gegeben wäre, liegt nicht vor. Die weitere Sonderzuständigkeit nach § 202 S. 2 SGG i. V. m. § 201 Abs. 1 S. 1 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) entspr. scheidet von vornherein aus.

 

Im Streit ist zunächst keine Entscheidung eines Landesschiedsamts. Ferner ist die Beklagte hier aufgrund § 125 Abs. 5 und 6 SGB V tätig, nicht hingegen nach § 120 Abs. 4 SGB V, § 76 Sozialgesetzbuch Elftes Buch oder § 81 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (§ 29 Abs. 2 Nr. 1 SGG). Im Streit ist auch keine der Materien nach § 29 Abs. 2 Nr. 2 bis 5 SGG.

 

Es liegt auch keine Klage nach § 29 Abs. 4 SGB V vor. Die Beklagte ist die Schiedsstelle nach § 125 Abs. 6 SGB V und nicht die nach § 89 Abs. 2 oder Abs. 12 SGB V bzw. nach § 89a SGB V (§ 29 Abs. 4 Nr. 1 SGB V). Beklagt ist auch nicht der erweiterte Bundesauschuss oder die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Bundesministerium für Gesundheit (§ 29 Abs. 4 Nr. 1 letzte Alternative bzw. Abs. 2 SGG). Ferner ist nicht der Gemeinsame Bundesausschuss nach Maßgabe der § 29 Abs. 4 Nr. 3 Alt. 1 und 2 SGG Beklagter bzw. Kläger. Im Streit steht auch keine Festbetragsfestsetzung durch den hiesigen Beigeladenen (§ 29 Abs. 4 Nr. 3 Alt. 3 SGG).

Die Beklagte ist, last but noch least, auch keine Schiedsstelle nach §§ 129, 130b und 134 SGB V bzw. der Schlichtungsausschuss Bund nach § 19 des Krankenhausfinanzierungsgesetzes (§ 29 Abs. 4 Nr. 3 Alt. 4 und 5 SGG).

 

Eine analoge Anwendung einer der Vorschriften scheidet aus.

Es gibt keine Regelungslücke, weil das Gesetz die ausnahmsweise erstinstanzliche Zuständigkeit der LSG in § 29 Abs. 3 und 4 SGG nur für bestimmte, im Einzelnen aufgelistete Fälle mit bundesweiter Wirkung regelt, und gerade keine allgemein gefasste Zuständigkeit für solche Verfahren trifft (vgl. Kummer in: Peters/Sautter/Wolff Komm. zur Sozialgerichtsbarkeit, 4. Aufl. Stand Januar 2021, § 29 Rdnr. 23). Als Ausnahmevorschriften zu § 8 SGG sind die § 29 Abs. 3 bis 5 SGG eng auszulegen (Hinz/Lowe, SGG, 2012, § 29 Rdnr. 5 mit Bezugnahme auf SG Hamburg, Urteil vom 24. Oktober 2011 - S 6 KR 957/11 -, juris).

 

Etwas Anderes ergibt sich auch aus dem Willen des (historischen) Gesetzgebers. Zwar sollte die Einführung des § 29 Abs. 2ff SGG der Entlastung der Sozialgerichte dienen und eine Verfahrensbeschleunigung durch die Verkürzung des Instanzenzugs erzielen, allerdings nur für die speziell genannten Rechtsstreitigkeiten (BT-Drucksache 16/7716 S. 15f).

Im Zusammenhang mit der Einführung von Verträgen zur Heilmittelversorgung auf Bundesebene fehlen Hinweise auf eine erstinstanzliche Zuständigkeit der LSG allgemein oder speziell des hiesigen, obwohl § 125 Abs. 6 SGB V mit den Sätzen 12 und 13 prozessuale Regelungen trifft (vgl. hierzu BT-Drucksache 19/8351 S. 199).

 

Der Gesetzgeber hat § 29 Abs. 2 bis 4 SGG bereits mehrfach modifiziert und neue Streitgegenstände hinzugefügt. Erst vor wenigen Tagen ist durch Art. 6 des Gesetzes zur digitalen Modernisierung von Versorgung und Pflege (Digitale-Versorgung-und-Pflege-Modernisierungs-Gesetz - DVPMG) vom 3. Juni 2021 (BGBl. I S. 1309) mit Wirkung vom 9. Juni 2021 § 29 Abs. 4 Nr. 3 SGG um die Zuständigkeit des hiesigen LSG für Verfahren gegen Schiedsstellen nach § 134 SGB V ergänzt worden. Unterbleibt dies für Verfahren gegen Entscheidungen von Schiedsstellen nach § 125 Abs. 6 SGB V, muss es im Umkehrschluss im Ergebnis bei § 8 SGG bleiben (vgl. Schneider in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl., § 125 SGB V, Stand: 06.01.2021, Rdnr. 65).

 

2. Das hiesige LSG hatte sich danach nach § 98 SGG i. V. m. § 17a Abs. 2 S. 1 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) für unzuständig zu erklären und an das sachlich zuständige Sozialgericht zu verweisen.

§ 98 SGG findet auch auf Verweisungen bei sachlich-instanzieller Unzuständigkeit jedenfalls entsprechende Anwendung (BSG, Beschluss vom 23. November 2017 - B 10 ÜG 1/17 KL -, Rdnr. 2; Beschluss des hiesigen Senats vom 15. März 2006 - L 1 B 77/06 KR ER -, juris-Rdnr. 1, MKLS/B. Schmidt, 13. Aufl. 2020, SGG § 98 Rdnr. 2 mit umfangreichen Nachweisen).

 

3. Der Rechtsstreit war nach § 17a Abs. 2 S. 1 Hs. 2 GVG an das örtlich zuständige Sozialgericht Berlin zu verweisen.

 

Innerhalb der primären Vorschrift für die örtliche Zuständigkeit des § 57 SGG ist hier zwar nur die die Grundvorschrift des § 57 Abs. 1 S. 1 SGG denkbar, wonach das Sozialgericht zuständig ist, in dessen Bezirk der Kläger zur Zeit der Klageerhebung seinen Sitz oder Wohnsitz hat. § 57 Abs. 1 S. 2 SGG ist nicht einschlägig. Es klagen vorliegend keine Körperschaften oder Anstalten des öffentlichen Rechts, keine private Pflegeversicherung und kein Land.

Die Kläger haben ihren Sitz im Inland, so dass auch § 57 Abs. 3 SGG ausscheidet.

Im Streit ist ferner keine Angelegenheit nach § 51 Abs. 1 Nr. 2 SGG, die auf Bundesebene festgesetzte Festbeträge betrifft (§ 57 Abs. 4 SGG) oder eine Arzneimittelpreise betreffende nach § 130a Abs. 4 und 9 SGB V (§ 57 Abs. 5 SGG).

 

Maßgeblich ist aus Sicht des Senats hier allerdings die Spezialvorschrift des § 57a Abs. 4 SGG. Die Beklagte und der Beigeladene haben insoweit zutreffend darauf hingewiesen, dass sich § 57a Abs. 3 und 4 SGG, anders als die Absätze 1 und 2, nicht nur auf „Vertragsarztangelegenheiten der gesetzlichen Krankenversicherung“ beziehen. Nach dem (aktuellen) Wortlaut wird nur ganz allgemein als Streitgegenstände „Entscheidungen oder Verträge“ auf Landes- (§ 57a Abs. 3 SGG) oder Bundesebene (§ 57a Abs. 4 SGG) voraussetzt.

§ 57a SGG ist mit Wirkung vom 1. April 2008 neu gefasst worden durch das Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes

vom 26. März 2008 (BGBl I S. 444). Der Gesetzgeber wollte mit der Novelle ausdrücklich „redaktionell“ klarstellen, dass sich die Absätze 1 und 2 ausschließlich auf Fragen des Vertragsarztrechts bezögen, Absatz 3 jedoch sowohl vertragsärztliche als auch nicht-vertragsärztliche Fragen auf Landesebene, und Absatz 4 auf Bundesebene regele. Die redaktionelle Überarbeitung sei notwendig gewesen, weil die Auslegung der Norm im Streit gestanden habe (BT-Drs. 820/07 S. 20).

Dass § 57a Abs. 4 SGG auch für Streitigkeiten wie hier gelten, die nicht eine Vertragsarztangelegenheit betreffen, ist allerdings nicht ganz eindeutig, weil die Vorschrift die Zuständigkeit nach dem Sitz der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (Berlin) oder nach dem Sitz der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinbarung (Köln) bestimmt. Die Regelung bezieht sich insoweit weiterhin auf Vertrags(zahn)arztstreitigkeiten, nicht hingegen auf solche anderer Leistungsserbringer wie zum Beispiel hier der Physiotherapeuten.

In der Gesetzesbegründung (a. a. O.) heißt es zudem, die spezielle örtliche Zuweisung der genannten Rechtsstreitigkeiten erfolge aus Gründen der Verwaltungsökonomie und der Einheitlichkeit der Rechtsprechung. Die Materie des Vertragsarztrechts –also nicht die der gesetzlichen Krankenversicherung insgesamt-, sei äußerst komplex. Aufgrund der Zuweisung könne sich das zuständige Sozialgericht die notwendige Fachkompetenz aneignen und eine einheitliche Rechtsprechung entwickeln.

Gegen eine Beschränkung auch der Absätze 3 und 4 des § 57a SGG auf Vertragsarztstreitigkeiten spricht ungeachtet dessen allerdings der Wortlaut und die Systematik innerhalb der Norm. Aus der ausdrücklichen Beschränkung auf vertragsärztliche Angelegenheiten in den Absätzen 1 und 2 des § 57a SGG ist zu schließen, dass diese Einschränkung für die Absätze 3 und 4 nicht gilt. Auch stellt Absatz 3 für Streitigkeiten auf Landesebene nicht auf den jeweiligen Sitz der Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigung, sondern auf den der Landesregierung ab.

 

Die Vorteile einer Anwendung dieser speziellen Zuständigkeitsvorschrift liegen gerade in einem Verfahren wie hier auf der Hand: Wäre § 57 Abs. 1 S. 1 SGG für die örtliche Zuständigkeit maßgeblich, wäre vorliegend offen, ob das SG Berlin (Sitz des Klägers zu 2) oder das SG Dortmund (zuständig für den Sitz des Klägers zu 2, B). Eine Zuständigkeitsbestimmung durch das BSG nach § 58 Abs. 1 Nr. 5 SGG müsste wohl nur unter der Prämisse zwingend durchgeführt werden, dass die Kläger als notwendige Streitgenossen klagen (vgl. MKLS/Keller, a. a. O, § 58 Rdnr. 2h). Geht man vorliegend hiervon aus, weil die angegriffene Schiedsentscheidung ein Vertragswerk mit bundesweiter Geltung ergänzt, dass die auf Leistungserbringerseite beteiligten Berufsverbände nur einheitlich binden kann, könnten auch die noch weiter am Vertrag beteiligten Berufsverband der Physiotherapeuten dem Rechtsstreit noch beitreten, so dass weitere Sozialgerichte (Hamburg und Köln) örtlich zuständig wären und weiterer Bestimmungsbedarf bestünde. Läge eine notwendige Streitgenossenschaft nicht vor, rechtfertigten die Gefahr sich widersprechender Entscheidungen oder Gründe der Prozessökonomie eine Bestimmung des Gerichtsstands nach § 58 Abs. 1 Nr. 5 SGG hingegen nicht (vgl. BSG, Beschluss vom 24. Oktober 2012 - B 12 SF 2/12 S -, juris-Rdnr. 4 mit weiteren Nachweisen).

Zuständig ist hier innerhalb des § 57a Abs. 4 SGG konkret das SG Berlin, weil die Kassenärztliche Bundesvereinigung hier ihren Sitz hat.

§ 57a Abs. 4 SGG in seiner jetzigen Fassung kann bis zu einer gesetzlichen Klarstellung interessengerecht nur so verstanden werden, dass für Streitigkeiten über Entscheidungen und Verträge auf Bundesebene in erster Linie das SG Berlin zuständig ist, das SG Köln dagegen nur, soweit die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung am Verfahren als Klägerin oder Beklagte beteiligt ist (vgl. Groth in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl., § 57a SGG (Stand: 26.10.2020), Rdnr. 459).

Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten, §§ 98 S. 2 SGG i. V. m. 17b Abs. 2 S. 1 GVG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar, §§ 98 S. 2, 177 SGG.

 

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