L 16 R 686/20

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
16.
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 14 R 581/19
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 16 R 686/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
 

 

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 21. Juli 2020 aufgehoben.

Der Bescheid der Beklagten vom 4. September 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Februar 2019 wird aufgehoben, soweit die Beklagte darin den Bescheid vom 16. September 2014 für die Zeit vom 1. Juni 2014 bis 31. August 2018 teilweise zurückgenommen hat und eine Erstattung in Höhe von 9.024,22 € fordert.

 

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Instanzen.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

 

 

Im Streit ist zwischen den Beteiligten die Rechtmäßigkeit eines Aufhebungs- und Erstattungsbescheides der Beklagten, mit dem diese die Bewilligung einer großen Witwenrente (WR) wegen anzurechnenden Einkommens hinsichtlich der Rentenhöhe für den Zeitraum vom 1. Juni 2014 bis 31. August 2018 iHv insgesamt 9.024,22 € nach § 45 Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) zurückgenommen hat und eine entsprechende Erstattung fordert.

 

Die  1969 geborene Klägerin, die im Streitzeitraum als Verwaltungsangestellte beschäftigt war, ist die Witwe des  2014 verstorbenen Versicherten A D. Auf den Antrag vom März 2014 bewilligte die Beklagte zunächst ab dem Todestag kleine WR (Bescheid vom 16. Juli 2014), die ab 1. Juni 2014 wegen Anrechnung von Einkommens nicht gezahlt wurde, dann ab 1. Juni 2014 große WR (16. September 2014; Zahlbetrag ab 1. Juni 2014 = mtl 485,81 €). Eine Einkommensanrechnung fand hierbei nicht statt; auf den Inhalt des Bescheides und die darin enthaltenen Hinweise auf Mitteilungs- und Mitwirkungspflichten wird Bezug genommen.

 

Nach der Anforderung von Einkommensnachweisen seit 2014 im Jahr 2017 und Anhörung der Klägerin setzte die Beklagte die große WR mit Bescheid vom 4. September 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Februar 2019 rückwirkend neu fest (Zahlbetrag mtl ab 1. September 2018 = 158,56 €), nahm den Bescheid vom 16. September 2014 mWv 1. Juni 2014 „hinsichtlich der Rentenhöhe“ zurück und forderte Erstattung einer Überzahlung vom 1. Juni 2014 bis 31. August 2018 iHv 9.024,22 €. Im Wege des Ermessens sei eine Bescheidrücknahme „in hälftigem Umfang“ gerechtfertigt.

 

Das Sozialgericht (SG) Berlin hat die auf Aufhebung der genannten Bescheide, soweit die Beklagte darin den Bescheid vom 16. September 2014 für die Zeit vom 1. Juni 2014 bis 31. August 2018 teilweise zurückgenommen hat und eine Erstattung iHv 9.024,22 € fordert, gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 21. Juli 2020). Zur Begründung ist ausgeführt: Die Klage sei nicht begründet. Die Beklagte sei berechtigt gewesen, auf der Grundlage von § 45 Abs. 1 und 2 Sätze 1 bis 3 Nr. 3 SGB X die Bewilligung großer WR für den streitigen Zeitraum im erfolgten Umfang aufzuheben. Die Rechtswidrigkeit der Bewilligung habe sich der Klägerin mangels Anrechnung von Einkommen aufdrängen müssen. Die von der Beklagten vorgenommene Einkommensanrechnung sei zutreffend.

 

Mit der Berufung verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Sie trägt vor: Sie habe die Rentenberechnung nicht nachvollzogen und keine Zweifel an deren Richtigkeit gehabt. Sie habe auch zu keiner Zeit fehlerhafte Angaben gemacht.

 

Die Klägerin beantragt nach ihrem Vorbringen,

 

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 21. Juli 2020 aufzuheben und den Bescheid der Beklagten vom 4. September 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Februar 2019 aufzuheben, soweit die Beklagte darin den Bescheid vom 16. September 2014 für die Zeit vom 1. Juni 2014 bis 31. August 2018 teilweise zurückgenommen hat und eine Erstattung in Höhe von 9.024,22 € fordert.

 

Die Beklagte beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

 

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch den Berichterstatter ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (vgl §§ 124 Abs. 2, 155 Abs. 3 und 4 Sozialgerichtsgesetz <SGG>).

 

Entscheidungsgründe

 

Die Berufung der Klägerin, mit der sie ihre statthafte isolierte Anfechtungsklage weiter verfolgt, ist begründet. Der streitgegenständliche Bescheid der Beklagten vom 4. September 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Februar 2019 ist rechtswidrig, soweit die Beklagte darin den Bescheid vom 16. September 2014 für die Zeit vom 1. Juni 2014 bis 31. August 2018 teilweise zurückgenommen hat und eine Erstattung in Höhe von 9.024,22 € fordert.

 

Der genannte Teilaufhebungsbescheid entspricht schon nicht dem Gebot der hinreichenden Bestimmtheit iSv § 33 SGB X. Hinreichend bestimmt ist danach ein Verwaltungsakt nur dann, wenn die von ihm getroffene Regelung, die verfügte Rechtsfolge, vollständig, klar und unzweideutig erkennbar ist (vgl Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 20. März 2013 – B 5 R 16/12 R - juris; BSGE 105, 194 = SozR 4-4200 § 31 Nr 2 Rn 13 mwN; BSG SozR 4-4200 § 31 Nr 3 Rn 16 mwN; BSG, Urteil vom 15. Dezember 2010 - B 14 AS 92/09 R - juris Rn 18; BSG SozR 4-1300 § 33 Nr 1 Rn 16 mwN). Diesen Anforderungen genügt der Bescheid vom 4. September 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Februar 2019 in Bezug auf die in diesem Bescheid enthaltene Aufhebungsentscheidung zum Bescheid vom 16. September 2014 mWv 1. Juni 2014 „hinsichtlich der Rentenhöhe“ nicht .

 

Der Ausgangsbescheid vom 16. September 2014 enthielt verschiedene Regelungen: Zum einen stellte er die große WR der Klägerin wegen voller EM für die Zeit ab 1. Juni 2014 fest. Er regelte insoweit insbesondere die Rentenart, den Beginn der Rente und die Höhe der Rente in Gestalt eines monatlichen Zahlungsanspruchs ab 1. Oktober 2014 iHv 493,91 €.

 

Die Auslegung eines Verwaltungsakts hat ausgehend von seinem Verfügungssatz und der Heranziehung des in § 133 Bürgerliches Gesetzbuch ausgedrückten allgemeinen Rechtsgedankens zu erfolgen, dass es nicht auf den Buchstaben, sondern auf den wirklichen Willen der Behörde bzw des Verwaltungsträgers ankommt, soweit er im Bescheid greifbar seinen Niederschlag gefunden hat. Für die Ermittlung des erklärten Willens sind dabei auch die Umstände und Gesichtspunkte heranzuziehen, die zur Aufhellung des Inhalts der Verfügung beitragen können und die dem Beteiligten bekannt sind, wenn der Verwaltungsakt sich erkennbar auf sie bezieht. Maßstab der Auslegung ist insofern der verständige und Zusammenhänge berücksichtigende Beteiligte (vgl BSG, Urteil vom 20. März 2013 - B 5 R 16/12 R -; BSG SozR 4-5075 § 3 Nr 1 Rn 15 mwN).

 

Unter Beachtung dieser Vorgaben sind die angefochtenen Bescheide dahin zu verstehen, dass der Bescheid vom 16. September 2014 mWv 1. Juni 2014 teilweise hinsichtlich des monatlichen Einzelanspruchs auf Zahlung zurückgenommen worden ist. Ausweislich der Begründung des Bescheides hat die Beklagte lediglich die Höhe des monatlichen Zahlungsanspruchs wegen Nichtberücksichtigung erzielten Einkommens verringern wollen und nicht die Voraussetzungen für die Bewilligung großer WR dem Grunde nach in Frage gestellt. In welcher Höhe der  Zahlungsanspruch auf große WR indes für den hier letztlich nur noch streitigen Zeitraum vom 1. Juni 2014 31. August 2018 zurückgenommen wird, lässt sich indes weder dem Tenor noch der Begründung des Bescheides vom 4. September 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Februar 2019 entnehmen. Denn hieraus lässt sich die konkrete Kürzung des monatlichen Zahlungsanspruchs auf große WR bzw die Höhe des infolge der Kürzung verbleibenden Einzelanspruchs auf Zahlung für den Streitzeitraum gerade nicht ersehen. Der Bescheid vom 4. September 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Februar 2019 bezeichnet in seinen Verfügungssätzen lediglich die Neufeststellung der großen WR für die Zeit ab 1. Juni 2014, die Höhe der laufenden mtl Zahlung ab 1. September 2018, eine Überzahlung mit daraus resultierender Erstattungsforderung und eine Rücknahmeentscheidung „hinsichtlich der Rentenhöhe“, und zwar – ohne dass dies im Verfügungssatz konkret für die einzelnen betroffenen Zeiträume beziffert worden wäre und ohne dass ersichtlich wäre, ob sich dies auf den Bruttorentenbetrag oder den tatsächlichen Rentenzahlbetrag oder die gesamte Überzahlung beziehen sollte - „in hälftigem Umfang“.

 

Erst in der Anlage des Bescheides wird die Berechnung des jeweils maßgebenden Zahlbetrages im von der Änderung betroffenen Zeitraum dargestellt. Zudem wird dort ausgeführt, dass die monatliche Rente im Ermessenswege nur teilweise zurückgenommen werde und sodann monatliche Zahlungsbeträge ausgewiesen, die offensichtlich den Beträgen nach Abzug des hälftigen Anrechnungsbetrages vom Monatsbetrag der vor Einkommensanrechnung berechneten Bruttorente entsprechen. Es ergibt sich zudem im Abschnitt „Abrechnung für abgelaufene Zeiträume“ der jeweilige Verrechnungsbetrag, welcher von der jeweils errechneten „Nachzahlung“ für den Zeitraum subtrahiert wurde, um die jeweilige Überzahlung zu ermitteln. Die jeweiligen Verrechnungs- und Überzahlungsbeträge finden sich damit lediglich „als in keiner Weise hervorgehobenes Element eines nicht unbeträchtlichen Zahlenwerks“ (so BSG, Urteil vom 20. März 2013 - B 5 R 16/12 R - Rn 22). Ein verständiger Beteiligter muss nicht damit rechnen, dass der für ihn letztlich maßgebliche monatliche Aufhebungsbetrag an derart "versteckter Stelle" geregelt wird (vgl BSG aaO).

 

Das Gericht verweist schließlich auch darauf, dass auch begründete Zweifel daran bestehen, ob der Klägerin zumindest eine grobe Fahrlässigkeit iSv § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X – die anderen Tatbestandsalternativen des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X dürften ohnehin nicht in Betracht zu ziehen sein - nach dem insoweit anzuwendenden subjektiven Fahrlässigkeitsmaßstab anzulasten ist. Denn die dafür erforderliche, aber auch ausreichende Parallelwertung in der Laiensphäre, dass der Betreffende weiß oder wissen muss, dass ihm die Leistung so nicht zusteht, kann von vornherein nur insoweit zum Tragen kommen, „soweit“ (vgl § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X) diese Sorgfaltspflichtverletzung reicht. Hier war aber zu beachten, dass die Klägerin bei Antragstellung sämtliche Einkommensunterlagen vorgelegt hatte, auch zu den Einnahmen aus Vermietung und Verpachtung. Zudem ist zu fordern, dass der Klägerin aufgrund einfachster, nahe liegender Überlegungen augenfällig war, dass ihr die große WR nicht in der bewilligten Höhe zustand. Gerade bei komplizierten Einkommensanrechnungen (vgl hier § 97 SGB VI) kann hiervon nicht ohne Weiteres ausgegangen werden. Insoweit auch nach der Sachaufklärung des SG verbleibende tatsächliche Zweifel am Vorliegen grober Fahrlässigkeit der Klägerin gehen zu Lasten der Beklagten, die den angefochtenen Aufhebungsbescheid erlassen hat.

 

Der Bewilligungsbescheid vom 16. September 2014 war zudem (auch) schon deshalb rechtswidrig, weil die Beklagte gegen das verfahrensrechtliche Verbot des vorzeitigen Verfahrensabschlusses verstoßen hat, indem sie entgegen § 20 Abs. 1 und 2 SGB X trotz dessen Einkommensabhängigkeit abschließend über den monatlichen Zahlbetrag der großen WR der Klägerin entschieden hatte, obwohl sie weder selbst die erforderlichen Feststellungen getroffen hatte noch ihr die für Folgezeiträume maßgeblichen Einkommensunterlagen bzw Einkommensteuerbescheide vorlagen, denen sie die erforderlichen Informationen jedenfalls mittelbar hätte entnehmen können (vgl grundlegend BSG SozR 3-1300 § 32 Nr 4 S 34 f; BSG, Urteil vom 9. Dezember 2012 – B 5 R 8/12 R = SozR 4-1300 § 45 Nr 10 – Rn 20). Dass die Klägerin Einkommen erzielte, war der Beklagten indes schon aus der Bewilligung der kleinen WR bekannt.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.

Rechtskraft
Aus
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