L 16 R 876/19

Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
16
1. Instanz
SG Cottbus (BRB)
Aktenzeichen
S 5 R 872/16
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 16 R 876/19
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Cottbus vom 5. Dezember 2019 geändert. Die Beklagte wird unter Änderung des Bescheides vom 12. Mai 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. November 2016 verurteilt, dem Kläger Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit ab 1. November 2020 zu gewähren. Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.

 

Die Beklagte trägt drei Viertel der außergerichtlichen Kosten des Klägers im Berufungsverfahren. Im Übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

 

Tatbestand

 

Streitig ist die Gewährung von Versichertenrente wegen Erwerbsminderung (EM).

 

Der 1962 geborene Kläger war als gelernter Maschinen- und Anlagenmonteur / Anlagenbau zuletzt bis 1991 in diesem Beruf tätig. In den Jahren 1992 bis 1994 absolvierte er erfolgreich eine Umschulungsmaßnahme „Garten- und Landschaftsbau“. Zuletzt war der Kläger im Jahr 2003 im Rahmen einer befristeten Teilzeitbeschäftigung als Hausmeistergehilfe tätig. Seitdem steht er im Bezug von Arbeitslosenhilfe bzw. – seit dem 1. Januar 2005 – von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Bei einem Fahrradunfall im August 2009 zog er sich u.a. eine Schulterluxation zu und befand sich vom 28. Januar bis zum 18. Februar 2010 im stationären Heilverfahren im M Reha-Zentrum S.

 

Am 7. September 2015 beantragte der Kläger unter Vorlage diverser Behandlungsunterlagen u.a. mit Hinweis auf die Unfallfolgen und einen im Jahr 2014 erlittenen Bandscheibenvorfall mit neurologischen Ausfällen bei der Beklagten EM-Rente.

 

Die Beklagte lehnte den Rentenantrag nach erfolgter Leistungseinschätzung nach Aktenlage ab (Bescheid vom 12. Mai 2016, Widerspruchsbescheid vom 24. November 2016). Es bestehe weder eine volle noch eine teilweise EM. Das Leistungsvermögen des Klägers reiche aus, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt körperlich leichte bis mittelschwere Arbeiten unter Berücksichtigung qualitativer Einschränkungen mindestens sechs Stunden täglich zu verrichten. Zu einer Begutachtung des Klägers auf orthopädischem Fachgebiet kam es nicht, da der Kläger die von der Beklagten beauftragten insgesamt fünf Sachverständigen nicht aufsuchte bzw. wegen Befangenheit ablehnte.

 

Im nachfolgenden Klageverfahren hat das Sozialgericht Cottbus (SG) medizinische Ermittlungen durchgeführt (Befundberichte der den Kläger behandelnden Ärzte Dr. T, Dr. W und Dipl.-Med. K). Sodann hat es ein Sachverständigengutachten nach Aktenlage durch die Fachärztin für Orthopädie und Unfallchirurgie Dr. T vom 26. März 2018 erstatten lassen (keine Untersuchung wegen vom Kläger vorgetragener Reiseunfähigkeit aufgrund eines „wahrscheinlich“ am 23. Dezember 2017 erlittenen „zweiten Bandscheibenprolapses“; Diagnosen laut Gutachten: LWS-Syndrom ohne computertomographisch gesicherten Bandscheibenvorfall, neurologisch festgestellte L5-Reizung mit Fußheberschwäche links, Meralgia parästhetika links; erhöhte Harnsäurewerte, zeitweise auftretende Herzrhythmusstörungen, Schlafapnoesyndrom, chronische Entzündungen der Nasennebenhöhlen, hoher Blutdruck, Übergewicht; Zustand nach Operation am rechten Schultergelenk bei Luxation, Abriss des Tuberculum majors und Schraubenosteosynthese im Zeitintervall 2009/2010 – allenfalls mäßige Funktionsstörungen). Im Anschluss daran hat das SG Cottbus ein weiteres Sachverständigengutachten durch den Facharzt für Psychiatrie und Arzt für Allgemeinmedizin Dipl. Psych. Svom 3. September 2018 erstatten lassen (Untersuchung in der Häuslichkeit am 27. Juli 2018; Ablageflächen in der Küche vollgestellt mit Lebensmitteln und Getränken im Sinne einer Vorratshaltung; Diagnosen laut Gutachten: Generalisierte Angststörung; Depressive Episode, mittelgradig; Zwangsstörung; fachfremd: Adipositas per magna; Hypertonus; Herzinsuffizienz; Paroxysmale Herzrhythmusstörungen; LWS-Syndrom, linksbetont; Fußheberschwäche links; Z. n. traumatischer Schulterluxation und Abriss des Tuberculum majus rechts – behandlungsbedürftiger Zustand bei fehlender Behandlungsbereitschaft; Einschaltung des Sozialpsychiatrischen Dienstes geboten; aufgehobene Leistungsfähigkeit für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit sowie für Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt; im Übrigen keine Leistungsbeurteilung). Eine geplante weitere Begutachtung auf psychiatrischem Fachgebiet (Dr. B) hat nicht stattgefunden, da sich der Kläger nicht in der Lage gesehen hat, sich untersuchen zu lassen. Das SG Cottbus hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 5. Dezember 2019 abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Der Kläger habe keinen Anspruch auf Rente wegen voller oder teilweiser EM. Ein in rentenberechtigendem Umfang eingeschränktes quantitatives Leistungsvermögen liege nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht vor.

 

Mit seiner Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er sei – auch angesichts des wahrscheinlich neuerlich erlittenen Bandscheibenvorfalls mit Fußheberschwäche, des Fehlens einer regenerativen Nachtruhe und seiner Schmerzen, die er mit CBD-Öl behandele – nicht in der Lage, täglich leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt von annähernd drei Stunden zu verrichten, ohne eine weitere Verschlechterung seiner Restgesundheit zu riskieren.

 

Der Kläger beantragt sinngemäß,

 

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Cottbus vom 5. Dezember 2019 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 12. Mai 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. November 2016 zu verurteilen, ihm ab 1. September 2015 Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren.

 

Die Beklagte beantragt,

 

            die Berufung zurückzuweisen.

 

Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.

 

Der Senat hat Befundberichte des Facharztes für Neurologie  / Psychiatrie Dipl. med. S vom 21. April 2020 (Konsultation zuletzt am 23. April 2018), des Facharztes für Innere Medizin / Kardiologie Dipl.-Med. K vom 19. Mai 2020 (Konsultation zuletzt am 2. Januar 2012) sowie des Facharztes für Allgemeinmedizin Dipl.-Med. K vom 17. Juni 2020 (monatliche Konsultationen, zuletzt am 2. Juni 2020; Verordnung von Ibuprofen 800 dreimal tgl.) eingeholt, auf deren Inhalt Bezug genommen wird. Sodann hat er nach § 106 Sozialgerichtsgesetz (SGG) die Fachärztin für Nervenheilkunde, Psychotherapie, Sozialmedizin, Suchtmedizin und Traumatherapie Dr. H zur Sachverständigen ernannt. Diese Ärztin hat in ihrem Gutachten vom 1. November 2020 (Untersuchungstag: 27. Oktober 2020) nebst ergänzender Stellungnahme vom 8. März 2021 beim Kläger das Vorliegen einer kombinierten Persönlichkeitsstörung mit schizoiden und selbstunsicheren Anteilen ausgehend von ihren Untersuchungsergebnissen und folgendem Vortrag des Klägers festgestellt: Er verlasse das Haus so gut wie gar nicht. Er habe auch kein Interesse daran, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. Er habe zuhause Essen in Dosen als Vorrat für mindestens einen Monat eingelagert. Sein einziger sozialer Kontakt sei seine 79-jährige Mutter, die ihn gelegentlich anrufe. Hin und wieder gehe er bei ihr am Sonntag vorbei, um mit ihr gemeinsam zu Mittag zu essen; manchmal stelle sie ihm auch das Essen nur vor die Tür. In seine Wohnung lasse er sie nicht herein. Im Wesentlichen sei sein Tag dadurch strukturiert, dass er vormittags sehr lange auf Toilette sitze. Nachmittags sei er aufgrund der Einnahme seiner Wassertablette erneut immer wieder auf der Toilette. Den Rest des Tages sitze er im Sessel. Er bereite sich unregelmäßig Mahlzeiten zu, indem er Essen aus der Dose erwärme. Er habe keine regelmäßigen Termine, keine sozialen Kontakte, keine Hobbies. Gelegentlich gehe er zum Hausarzt, nehme aber die von dort verordneten Tabletten nur in reduzierter Form ein. Er informiere sich über die aus seiner Sicht notwendigen Themen in der Welt durch Selbststudium. Die Meinung anderer Menschen interessiere ihn nicht. In ihrem Gutachten hat die Sachverständige ausgeführt: Die Fähigkeit des Klägers, sich an gesellschaftliche Regeln und soziale Interaktionsmuster anzupassen, bestehe nur auf sehr engem und eingegrenzten Niveau. Der Kläger sei nach dem zweistündigen ärztlichen Gespräch nicht mehr in der Lage gewesen, die Fassade eines halbwegs zugewandten Gespräches aufrechtzuerhalten. Sein Auffassungsvermögen und seine Konzentration seien in der Begutachtungssituation nach zwei Stunden deutlich reduziert gewesen. Er habe sich mit dem Hinweis auf notwendige Toilettengänge (dortige Aufenthalte über 30 Minuten) der weiteren Untersuchung entzogen. Seine Fähigkeit, die mit der Fehlausbildung seiner Persönlichkeit mit vorrangig schizoiden und selbstunsicheren Strukturen verbundenen Interaktionsprobleme und Kommunikationsstörungen aufzufangen und eine kontinuierliche Adaption an die Umwelt vorzunehmen, erschöpfe sich sehr rasch. Dies sei vor allem in Situationen, in denen es um ein empathisches Einfühlungsvermögen in das Gegenüber gehe, gänzlich unmöglich.

 

Das verbliebene Leistungsvermögen des Klägers reiche für eine Arbeitszeit von mindestens sechs Stunden täglich aus. Einschränkungen des Leistungsvermögens im Hinblick auf die – nicht heilbare – festgestellte seelische Erkrankung seien ab der aktuellen Begutachtung anzunehmen. Es seien einfache Anforderungen an das Umstellungs- und Anpassungsvermögen zu stellen. Es gebe z.B. aufgrund der Ödembildung und Wundheilungsstörung an den Beinen des Klägers Hinweise auf internistische Krankheitsbilder (Bluthochdruck, Zuckererkrankung, Schlaf-Apnoe-Syndrom, Übergewicht, Fettstoffwechselstörung), die – auch wegen der Selbstmedikation des Klägers – ggf. weitere Funktionseinschränkungen begründen könnten.

 

Einen Befangenheitsantrag des Klägers gegen die Sachverständige hat die zuständige Berichterstatterin mit Beschluss vom 26. März 2021, auf dessen Inhalt Bezug genommen wird, zurückgewiesen.

Auf den Hinweis der Berichterstatterin, dass im Hinblick auf die Ausführungen der Sachverständigen besondere Schwierigkeiten der Gewöhnung und Anpassung an einen neuen Arbeitsplatz beim Kläger vorliegen dürften, mithin eine schwere spezifische Leistungsminderung, die eine Benennungspflicht für Verweisungstätigkeiten auslöse, hat die Beklagte mitgeteilt, dass sie den Ausführungen im Gutachten von Frau Dr. Henze keine schwere spezifische Leistungsminderung entnehmen könne.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes sowie des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf deren vorbereitende Schriftsätze nebst Anlagen, wegen der medizinischen Feststellungen insbesondere auf die eingeholten Befundberichte der den Kläger behandelnden Ärzte und das Sachverständigengutachten der Ärztin Dr. Henze vom 1. November 2020 nebst ergänzender Stellungnahme vom 8. März 2021 Bezug genommen. Sie sind, soweit erforderlich, Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes sowie des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf deren vorbereitende Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen. Die Gerichtsakten (3 Bände) und die Verwaltungsakte der Beklagten (1 Band) haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

 

Entscheidungsgründe

 

Die Berufung des Klägers, mit der er seine erstinstanzlich erhobene kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage i.S.v § 54 Abs. 4 SGG auf Gewährung von Rente wegen voller EM nach dem Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Rentenversicherung – (SGB VI) für die Zeit ab 1. September 2015 (Rentenantragsmonat, vgl. § 99 Abs. 1 SGB VI) zulässigerweise weiterverfolgt, ist überwiegend begründet. Dem Kläger ist ein Anspruch auf Rente wegen voller EM für die Zeit ab 1. November 2020 zuzuerkennen; soweit die Beklagte dies abgelehnt hat, ist ihr Bescheid vom 12. Mai 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. November 2016 rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Die weitergehende, auf Gewährung von Rente wegen voller Erwerbsminderung bereits ab Rentenantragstellung gerichtete Berufung des Klägers war zurückzuweisen.

 

Der Kläger hat im tenorierten Umfang einen Anspruch auf eine Rente wegen voller EM gemäß § 43 Abs. 2 SGB VI. Die erforderlichen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen (Erfüllung der allgemeinen Wartezeit gemäß den §§ 50 Abs. 1, 51 Abs. 1 SGB VI; Vorhandensein von drei Jahren mit Pflichtbeiträgen für eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit in den letzten fünf Jahren vor etwaigem Eintritt der EM gemäß § 43 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 2 und 3, Abs. 1 Satz 1 Nrn. 2 und 3 SGB VI <sog. Drei-Fünftel-Belegung>) sind für die Zeit ab Antragstellung und auch fortlaufend gegeben, wie der von der Beklagten eingeholte aktuelle Versicherungsverlauf vom 1. Dezember 2021 zeigt. Auch liegen die weiteren – medizinischen – Voraussetzungen für eine Rente wegen voller EM (vgl. § 43 Abs. 2 Satz 2, Abs. 1 Satz 2 SGB VI) bei dem Kläger nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens zur Überzeugung des Senats seit dem 27. Oktober 2020 vor. Der Rentenbeginn folgt aus § 99 Abs. 1 Satz 1 SGB VI.

 

Voll bzw. teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei bzw. mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein (vgl. § 43 Abs. 2 Satz 2, Abs. 1 Satz 2 SGB VI). Nach § 43 Abs. 3 SGB VI ist nicht erwerbsgemindert, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

 

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme lässt sich im zu fordernden Vollbeweis das Vorliegen der dargelegten tatbestandlichen Voraussetzungen voller EM bei dem Kläger seit dem 27. Oktober 2020 (Untersuchungstermin bei der Sachverständigen Dr. Henze) feststellen. Ab diesem Zeitpunkt lag bei dem Kläger zur vollen Überzeugung des Senats eine überdurchschnittlich starke Leistungsminderung in Gestalt einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung vor, die daran hindert, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes i.S.v. § 43 Abs. 3 SGB VI erwerbstätig zu sein und die zu einer Benennungspflicht der Beklagten im Hinblick auf eine konkrete Verweisungstätigkeit führt. Weder hat aber die Beklagte dem Kläger wenigstens eine konkrete zumutbare Verweisungstätigkeit mit ihren typischen, das Anforderungsprofil bestimmenden Merkmalen benannt, noch sind Tätigkeiten, die der Kläger mit dem dargestellten Leistungsvermögen verrichten könnte, ersichtlich. 

 

Unter einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung sind in erster Linie die Fälle zu subsumieren, in denen bereits eine einzige schwerwiegende Behinderung ein weites Feld von Verweisungsmöglichkeiten versperrt (BSG, Urteil vom 10. Dezember 2003 - B 5 RJ 64/02 R, juris Rn. 15). Anerkannt sind nach der Rechtsprechung des BSG z.B. besondere Schwierigkeiten hinsichtlich der Gewöhnung und Anpassung an einen neuen Arbeitsplatz (BSG, Urteil vom 30. November 1982 – 4 RJ 1/82 –, juris Rn. 9). Dass seit dem 27. Oktober 2020 bei dem Kläger eine solche Leistungsbehinderung vorliegt, folgt zur vollen Überzeugung des Senats aus dem Ergebnis der medizinischen Ermittlungen, und zwar insbesondere aus dem im Gerichtsverfahren von Amts wegen eingeholten Sachverständigengutachten der Fachärztin für Nervenheilkunde, Psychotherapie, Sozialmedizin, Suchtmedizin und Traumatherapie Dr. H. Diese Sachverständige hat in der Gesamtschau Gesundheitsstörungen des Klägers, aus denen sich besondere Schwierigkeiten hinsichtlich der Gewöhnung und Anpassung an einen neuen Arbeitsplatz ableiten lassen, nachvollziehbar und schlüssig begründet. Im Ergebnis der am 27. Oktober 2020 durchgeführten psychiatrisch-neurologischen Untersuchung hat die Sachverständige festgestellt, dass der Kläger nur auf sehr engem und eingegrenzten Niveau fähig sei, sich an gesellschaftliche Regeln und soziale Interaktionsmuster anzupassen. Seine Fähigkeit, die mit der Fehlausbildung seiner Persönlichkeit verbundenen Interaktionsprobleme und Kommunikationsstörungen aufzufangen und eine kontinuierliche Adaption an die Umwelt vorzunehmen, erschöpfe sich sehr rasch. Dies sei vor allem in Situationen, in denen es um ein empathisches Einfühlungsvermögen in das Gegenüber gehe, gänzlich unmöglich. Diesen Befund hat die Sachverständige schlüssig aus ihren Beobachtungen im Rahmen der Untersuchung des Klägers in Zusammenschau mit seinen Einlassungen im Hinblick auf seine sozialen Kontakte abgeleitet. Der Kläger hat insoweit vorgetragen, das Haus so gut wie gar nicht zu verlassen, niemanden in seine Wohnung zu lassen und kein Interesse daran zu haben, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. Sein einziger sozialer Kontakt sei seine 79-jährige Mutter, die ihn gelegentlich anrufe; auch sie lasse er indes nicht in seine Wohnung. Hiermit in Einklang stehen die Beobachtungen der Sachverständigen, dass der Kläger nach dem zweistündigen ärztlichen Gespräch mit ihr nicht mehr in der Lage gewesen, die Fassade eines halbwegs zugewandten Gespräches aufrechtzuerhalten; vielmehr habe er sich mit dem Hinweis auf notwendige Toilettengänge (dortige Aufenthalte über 30 Minuten) der weiteren Untersuchung entzogen. Der Vortrag des Klägers, seine Wohnung praktisch nicht mehr zu verlassen, wird zudem durch die Aufzeichnungen des erstinstanzlich beauftragten Facharztes für Psychiatrie und Arzt für Allgemeinmedizin Dipl. Psych. Sgestützt, wonach die Ablageflächen in der Küche des Klägers mit Lebensmitteln und Getränken im Sinne einer Vorratshaltung vollgestellt gewesen seien. Dass der Kläger ein Verlassen der Häuslichkeit vermeidet, belegen auch die eingeholten Befundberichte, wonach der Kläger seine ehemals behandelnden Ärzte, den Facharzt für Neurologie  / Psychiatrie Dipl. med. S und den Facharzt für Innere Medizin / Kardiologie Dipl.-Med. K letztmals am 23. April 2018 bzw. am 2. Januar 2012 konsultiert hat. Soweit die Sachverständige Dr. H davon ausgeht, dass der Kläger noch einfache Anforderungen an das Umstellungs- und Anpassungsvermögen erfüllen könne, erschließt sich dies angesichts der von ihr geschilderten Auswirkungen der diagnostizierten Persönlichkeitsstörung und des sich aus den durchgeführten Ermittlungen ergebenden Gesamtbildes nicht. Vielmehr ergibt sich in der Gesamtschau beim Kläger ein so erheblicher Mangel an sozialer Teilhabe sowie an Flexibilität im Hinblick auf seinen Tagesablauf und in seiner Interaktion, dass zur Überzeugung des Senats auch einfachste Anforderungen an das Umstellungs- und Anpassungsvermögen von ihm nicht mehr erfüllt werden können.

 

Die überdurchschnittlich starke Leistungsminderung des Klägers führt zu einem Anspruch auf EM-Rente. Die Beklagte hat es insoweit entgegen ihrer Verpflichtung versäumt, zumindest eine Tätigkeit (Verweisungstätigkeit) konkret zu benennen, die die den Rentenfall begründende Minderung der Erwerbsfähigkeit ausschließen könnte, weil der Versicherte diese Tätigkeit noch ausüben kann (vgl. BSG, Urteil vom 19. Oktober 2011 – B 13 R 78/09 R –, juris Rn. 37). Zu benennen ist eine Berufstätigkeit mit ihren typischen, das Anforderungsprofil bestimmenden Merkmalen, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tatsächlich in ausreichendem Umfang vorkommt, d.h. es müssen grundsätzlich mehr als 300 Stellen (besetzt oder offen) vorhanden sein. Weder hat aber die Beklagte dem Kläger wenigstens eine konkrete zumutbare Verweisungstätigkeit mit ihrem typischen, das Anforderungsprofil bestimmenden Merkmalen benannt – insoweit hat sie lediglich die Vermeidung von Publikumsverkehr und einen Einzelarbeitsplatz als erforderlich erachtet –, noch sind Tätigkeiten, die der Kläger mit dem dargestellten Leistungsvermögen verrichten könnte, ersichtlich. Vielmehr ist der Kläger den Bedingungen und Anforderungen, unter denen eine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zur Erzielung eines Erwerbseinkommens ausgeübt wird, zur vollen Überzeugung des Senats nicht mehr gewachsen; denn jegliche Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erfordert eine kontinuierliche Adaption an die Umwelt sowie Interaktion und Kommunikation mit den Mitmenschen und jedenfalls ein Mindestmaß an Einfühlungsvermögen in sein Gegenüber. Alle diese Fähigkeiten erschöpfen sich nach den Feststellungen der Sachverständigen Dr. Henze beim Kläger indes sehr rasch, so dass seine Einsatzfähigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes ausgeschlossen ist.

 

Die zur Überzeugung des Senats vorliegende überdurchschnittlich starke Leistungsminderung des Klägers führt zu einem Anspruch auf EM-Rente auf Grund eines Leistungsfalles vom 27. Oktober 2020. Die Sachverständige Dr. Henze hat insoweit angegeben, dass die Einschränkungen des Leistungsvermögens in Bezug auf die von ihr festgestellte seelische Erkrankung ab der aktuellen Begutachtung und damit seit diesem Zeitpunkt vorliegen.

 

Da nicht wahrscheinlich ist, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden kann, kam die Gewährung einer Zeitrente (vgl. § 102 Abs. 2 Sätze 1 und 5 SGB VI) nicht in Betracht.

 

Die weitergehende Berufung war zurückzuweisen. Die Voraussetzungen einer unbefristeten EM-Rente ab Antragstellung liegen nicht vor.

 

Anspruch auf (Dauer-)Rente wegen teilweiser EM bei Berufsunfähigkeit hat der Kläger schon aufgrund seines Geburtsjahres nicht (vgl. § 240 SGB VI).

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt das überwiegende Obsiegen des Klägers im Berufungsverfahren.

 

Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.

 

Rechtskraft
Aus
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