L 1 AS 1182/21 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
1.
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 157 AS 5603/21 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 AS 1182/21 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 29. September 2021 wird zurückgewiesen.

 

Der Antragsgegner hat der Antragstellerin auch die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

 

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 29. September 2021 ist zulässig, aber nicht begründet. Das Sozialgericht hat den Antragsgegner mit Recht im Wege einer einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu gewähren und die entstehenden Bedarfe für Unterkunft und Heizung zu übernehmen.

 

Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung möglich, wenn andernfalls die Gefahr besteht, dass durch die Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Sicherungsanordnung). Gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn dies zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (sog. Regelungsanordnung). Voraussetzung sind das Bestehen eines Anordnungsanspruches und das Vorliegen eines Anordnungsgrundes. Der Anordnungsanspruch bezieht sich dabei auf den geltend gemachten materiellen Anspruch, für den vorläufiger Rechtschutz begehrt wird. Die erforderliche Dringlichkeit betrifft den Anordnungsgrund. Die Tatsachen, die den Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch begründen sollen, sind darzulegen und glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 S. 4 SGG iVm § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung). Entscheidungen dürfen dabei sowohl auf eine Folgenabwägung als auch auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt werden. Drohen ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen, setzt eine Orientierung an den Erfolgsaussichten der Hauptsache voraus, dass die Sach- und Rechtslage abschließend geklärt ist. Ohne eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage schon im Eilverfahren ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Bei Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende, wie sie hier im Streit sind, ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu beachten, dass der aus Art. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG abzuleitende Anspruch auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums betroffen ist, dessen einmal erfolgte rechtwidrige Beeinträchtigung durch einen erfolgreichen Abschluss des Hauptsacheverfahrens nicht mehr ausgeglichen werden kann, weil der elementare Lebensbedarf eines Menschen grundsätzlich nur im Zeitpunkt seines Bestehens gedeckt werden kann (BVerfG vom 8. Juli 2020 – 1 BvR 932/20 – juris Rn. 13). Wegen fehlender Erfolgsaussichten in der Hauptsache, wie sie vom Antragsgegner mit der Beschwerde geltend gemacht werden, könnte der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung damit nur nach einer abschließenden Prüfung der Sach- und Rechtslage abgelehnt werden.

 

Nach diesen Maßstäben hat das Sozialgericht den Antragsgegner im Wege der Folgenabwägung mit Recht vorläufig zur Gewährung von Grundsicherungsleistungen verpflichtet. Auch unter Beachtung des Urteils des LSG Berlin-Brandenburg vom 9. Juni 2021 – L 34 AS 850/17 kann der Senat hier nicht abschließend feststellen, dass die Antragstellerin aus Rechtsgründen keinen Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende hat.

 

Zutreffend hat das Sozialgericht ausgeführt, dass die Antragstellerin die in § 7 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) geregelten Grundvoraussetzungen für einen Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende erfüllt. Die Antragstellerin ist erwerbsfähig, ihr gewöhnlicher Aufenthaltsort ist im Inland und sie hat ihren Hilfebedarf glaubhaft gemacht.

 

Entgegen der Rechtsauffassung des Antragsgegners steht nicht fest, dass der Anspruch der Antragstellerin nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II ausgeschlossen ist, insbesondere nicht, dass die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2b SGB II erfüllt sind, wonach diejenigen Ausländerinnen und Ausländer keinen Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende haben, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt. Denn die Antragstellerin ist Mutter dreier Kinder, die sich erlaubt im Inland aufhalten. Der Kindsvater und Lebensgefährte der Antragstellerin geht einer Beschäftigung im Inland nach, der Antragstellerin steht die Personensorge über ihre Kinder zu, die sie zusammen mit dem Kindsvater auch tatsächlich im Inland ausübt.

 

Höchstrichterlich ist noch nicht abschließend geklärt, ob einer Mutter, die selbst nicht erwerbstätig ist, in solchen Konstellationen unter Rücksicht auf die Wertungen des Art 6 Grundgesetz und Art 8 Europäische Menschenrechtskonvention ein Aufenthaltsrecht nach § 11 Abs. 14 Satz 1 Freizügigkeitsgesetz/EU iVm. § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Aufenthaltsgesetz zusteht. Das BVerfG hatte in seinem (bereits zitierten) Beschluss vom 8. Juli 2020 – 1 BvR 1094/20 – juris Rn. 15 diese Frage als offen und klärungsbedürftig angesehen. Angesichts des Umstands, dass der Kindsvater in Deutschland arbeitet und ein Kind der Antragstellerin bereits die Schule besucht, kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass die Antragstellerin die Personensorge über ihre Kinder ebenso gut auch im Ausland ausüben könnte (vgl. zu diesem Gesichtspunkt LSG Berlin-Brandenburg vom 9. Juni 2021 – L 34 AS 850/17 – juris Rn. 57. In dem dortigen Sachverhalt hielt sich der Kindsvater im Gegensatz zu dem hier zu entscheidenden Fall bereits im Ausland auf). Wegen des unter besonderem grund- und menschenrechtlichem Schutz stehenden Sorgerechts auch einer nichtehelichen Mutter über ihre minderjährigen Kinder erscheint es zudem nicht von vorneherein ausgeschlossen, dass in einem solchen Fall das in § 3a Abs. 1 Nr. 3 iVm § 1 Abs. 2 Nr. 4c Freizügigkeitsgesetz/EU geregelte Aufenthaltsrecht als nahestehende Person eines Unionsbürgers unabhängig von der nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 Aufenthaltsgesetz regelmäßig erforderlichen Voraussetzung der Sicherung des Lebensunterhalts zu gewähren ist (vgl. Beschluss des LSG Berlin-Brandenburg vom 22. November 2021 – L 29 AS 1199/21 B ER – juris Rn. 8).

 

Es kommt hinzu, dass vorliegend einiges dafür spricht, dass der Antragstellerin ein Aufenthaltsrecht aus Art 10 VO (EU) Nr 492/2011 zusteht. Auch ein solches Aufenthaltsrecht würde einem aus § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II begründeten Ausschluss des Leistungsanspruch entgegenstehen (BSG vom 27. Januar 2021 – B 14 AS 42/19 R – juris Rn. 15). Nach der Rechtsprechung des EuGH gewährt Art. 10 VO (EU) Nr. 492/2011 den Kindern eines im Inland arbeitenden Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedsstaates ein eigenständiges Aufenthaltsrecht (EuGH vom 6. Oktober 2020 – C-181/18 – Rn. 36, 39). Die VO verfolgt nämlich das Ziel der bestmöglichen Integration der Familie eines Wanderarbeitnehmers. Aus diesem Grund haben auch die Eltern, wenn sie tatsächlich die Personensorge im Inland ausüben, ein eigenständiges Aufenthaltsrecht aus Art. 10 VO (EU) Nr. 492/2011, damit sie ihre Kinder während der Schulausbildung im Inland bestmöglich unterstützen und betreuen können. Die Voraussetzungen eines solchen Aufenthaltsrechts sind hier insoweit erfüllt, als das älteste Kind der Antragstellerin (M-F S) bereits die Schule besucht und die Antragstellerin die Personensorge (auch) über dieses Kind tatsächlich ausübt.

 

Entgegen der Rechtsauffassung des Antragsgegners ist nicht eindeutig, dass das Aufenthaltsrecht aus Art. 10 VO (EU) Nr. 492/2011 nur demjenigen Elternteil zustehen kann, der im Inland Arbeitnehmer ist oder zumindest war. Der Antragsgegner verkennt insoweit, dass der EuGH (a.a.O.) das eigenständige Aufenthaltsrecht der Eltern aus dem Aufenthaltsrecht des Kindes ableitet und Zweck sowie wesentliche Voraussetzung eines Aufenthaltsrechts der Eltern die Sicherung der Ausübung der Personensorge ist. Entsprechend erscheint es zumindest nicht ausgeschlossen, dass jedem die Personensorge ausübenden Elternteil ein eigenes Aufenthaltsrecht allein wegen der Betreuung eines die Schule besuchenden minderjährigen Kindes zukommen kann, sofern das Kind ein eigenes Aufenthaltsrecht hat. Dieses wird regelmäßig aus der Beschäftigung zumindest eines Elternteils im Inland herrühren. Das BSG geht in seinem Urteil vom 27. Januar 2021 – B 14 AS 42/19 R – juris Rn. 24 gleichermaßen davon aus, dass für ein aus Art. 10 VO (EU) Nr. 492/2011 abzuleitendes Aufenthaltsrecht beider Eltern ausreichen kann, dass nur einer der Elternteile in einem Arbeitsverhältnis steht. Soweit der EuGH in seinem Urteil vom 6. Oktober 2021 – C-181/19 - ein Aufenthaltsrecht lediglich für einen (ehemaligen) Arbeitnehmer erörtert, erklärt sich das daraus, dass in dem dortigen Sachverhalt der andere Elternteil Deutschland bereits wieder verlassen hatte.

 

Nach dem Sozialgericht kann damit auch der Senat nicht mit der erforderlichen Sicherheit feststellen, dass der von der Antragstellerin im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes geltend gemachte Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende aus Rechtsgründen ausgeschlossen ist. Entsprechend besteht kein Anlass, die von dem Sozialgericht im Wege einer Folgenabwägung begründete zusprechende Entscheidung aufzuheben. Hinsichtlich der in dem angefochtenen Beschluss vorgenommenen Berechnung der Höhe der Leistungen und der Leistungsdauer sind Fehler weder ersichtlich noch von dem Antragsgegner geltend gemacht worden.

 

Nach alledem war die Beschwerde zurückzuweisen.

 

Die Kostenentscheidung ergeht entsprechend § 193 SGG.

Einer Entscheidung über den Antrag des Antragsgegners nach § 199 SGG bedurfte es nicht mehr.

 

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das BSG angefochten werden, § 177 SGG.

Rechtskraft
Aus
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