L 3 U 49/20

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3.
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 115 U 479/19 WA
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 3 U 49/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

 

Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 10. Februar 2020 aufgehoben.

 

Der Rechtsstreit wird an das Sozialgericht Berlin zurückverwiesen.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

 

 

Tatbestand

 

 

Streitig zwischen den Beteiligten ist, ob der beim Sozialgericht Berlin unter dem Aktenzeichen S 115 U 26/19 geführte Rechtsstreit auf Grund des Eintritts einer Klagerücknahmefiktion nach § 102 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beendet worden ist.

 

In dem Ausgangsverfahren S 115 U 26/19 stritten die Beteiligten um die Anerkennung einer Berufskrankheit nach der Nr. 4105 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung sowie die Gewährung von Entschädigungs- und Hinterbliebenenleistungen.

 

Der im Jahr 1944 geborene Ehemann der Klägerin war während der Ausübung seiner beruflichen Tätigkeiten als Maschinenschlosser in den Jahren 1962 bis 1986 in der Seeschifffahrt asbesthaltigen Stäuben ausgesetzt und entsprechend exponiert. Er verstarb am 15. November 2017 an den Folgen eines metastasierten Bronchialkarzinoms.

 

Mit – hier nicht streitgegenständlichem – Bescheid vom 25. März 2017 hatte es die Beklagte abgelehnt, bei ihm eine Berufskrankheit nach der Nr. 4104 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (Lungenkrebs in Verbindung mit Asbestose) anzuerkennen. Auf Grund des Vortrags im Rahmen des hierzu geführten Widerspruchsverfahrens, wonach ein durch Asbest verursachtes Mesotheliom vorgelegen haben könnte, leitete die Beklagte entsprechende Ermittlungen ein. Zu der Frage, ob eine Berufskrankheit nach Nr. 4104 anzuerkennen ist, wurde das gerichtliche Verfahren S 67 U 399/18 beim Sozialgericht Berlin geführt.

 

Mit Bescheid vom 23. August 2018 lehnte es die Beklagte ab festzustellen, dass die Erkrankung des Ehemanns der Klägerin eine Berufskrankheit nach der Nr. 4105 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung darstellt. Sie lehnte die Gewährung von Entschädigungsleistungen (Leistungen als Sonderrechtsnachfolgerin sowie Hinterbliebenenleistungen) ab. Aus den übersandten Unterlagen des Instituts für Gewebediagnostik Berlin am MVZ des H Klinikums E von B gehe zweifelsfrei hervor, dass ein Pleuramesotheliom durch die histologischen Untersuchungen des entnommenen Gewebes nicht habe nachgewiesen werden können. Auch die seit dem 07. Juni 2016 durchgeführten computertomografischen Untersuchungen hätten keine Hinweise auf das Vorliegen eines Pleuramesothelioms ergeben. Darüber hinaus habe durch die am 23. November 2017 im Institut für Pathologie der C durchgeführte Sektion das Vorliegen eines Pleuramesothelioms  des Bauchfells oder des Pericards nicht nachgewiesen werden können (Sektionsbericht vom 16. Juli 2018). Eine Berufskrankheit nach Nr. 4105 der Berufskrankheiten-Liste könne somit nicht wahrscheinlich gemacht werden.

 

Den hiergegen gerichteten Widerspruch der Klägerin wies die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 17. Dezember 2018 zurück. Die Gewerbeärztin im Landesamt für Gesundheit und Soziales M, Dr. K, habe in ihrer Stellungnahme vom 03. November 2017 mitgeteilt, dass auch aus ihrer Sicht die medizinischen Voraussetzungen für die Anerkennung einer Berufskrankheit nach Nr. 4105 nicht vorlägen. Bei den pleuralen Veränderungen handele es sich nicht um ein Pleuramesotheliom, sondern um eine Pleurakarzinose (Befall des Brustfells mit Metastasen) bei Adenokarzinom (Tumor im Drüsengewebe) des linken Lungenoberlappens.

 

Am 14. Januar 2019 hat die Klägerin über ihren Bevollmächtigten Klage vor dem Sozialgericht (SG) Berlin erhoben, mit der sie ihr Begehren in Bezug auf die Berufskrankheit Nr. 4105 weiter verfolgt und hilfsweise die Anerkennung und Entschädigung der Berufskrankheit Nummer 4104 begehrt hat (Aktenzeichen: S 115 U 26/19).

 

In der Folge ist zwischen dem Vorsitzenden der 115. Kammer und dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin Schriftverkehr in Bezug auf die Zulässigkeit der Klage bzw. der Geltendmachung einzelner Streitgegenstände im Rahmen des vorliegenden Klageverfahrens und das Verhältnis zum Klageverfahren S 67 U 399/18 geführt worden. Auf den mit der Eingangsverfügung erteilten Hinweis des Gerichts vom 17. Januar 2019 antwortete der Prozessbevollmächtigte mit Schreiben vom 25. Januar 2019. Die weitere prozessuale Nachfrage des Vorsitzenden mit Schreiben vom 31. Januar 2019, mit welchem auch die Klageerwiderung übersandt wurde, beantwortete der Prozessbevollmächtigte mit Schreiben vom 15. Februar 2019. Auf den weiteren Hinweis des Gerichts zur prozessualen Situation vom 19. Februar 2019 antwortete der Prozessbevollmächtigte der Klägerin mit seinem Schreiben vom 14. März 2019. Der Vorsitzende hat erneut mit seinem Schreiben vom 17. April 2019, abgesandt am 23. April 2019, bezugnehmend auf einen Schriftsatz der Beklagten vom 25. März 2019, die prozessuale Situation erörtert und den Prozessbevollmächtigten der Klägerin zur Stellungnahme hierzu sowie zur Anpassung der Klageanträge binnen drei Wochen aufgefordert. Mit Schreiben vom 23. Mai 2019, abgesandt am 24. Mai 2019, wurde der Prozessbevollmächtigte an die Erledigung des Schreibens vom 17. April 2019 unter Fristsetzung von zwei Wochen erinnert. Unter dem 24. Juni 2019 hat der Vorsitzende sodann eine Aufforderung nach § 102 Abs. 2 SGG erlassen mit der Aufforderung, das Schreiben vom 17. April 2019 zu beantworten, die Aufforderung wurde am selben Tag zugestellt. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat hierzu am 26. Juni 2019 Stellung genommen und die Klageanträge neu formuliert und unter dem 27. Juni 2019 weitere Unterlagen zur Rechtsnachfolge der Klägerin nach dem Versicherten übersandt.

 

Mit Schreiben vom 27. Juni 2019, abgesandt am 28. Juni 2019, hat der Vorsitzende den Bevollmächtigten der Klägerin darauf hingewiesen, dass derzeit die medizinischen Voraussetzungen der Berufskrankheit Nr. 4105 nicht als erwiesen gelten könnten, da nach den bisherigen Ermittlungen der Beklagten ein Mesotheliom nicht vorgelegen habe. Zugleich hat der Vorsitzende der Kammer um Mitteilung gebeten, welche weiteren konkreten (medizinischen) Ermittlungsansätze der Bevollmächtigte der Klägerin erkenne. Insbesondere hat er um Beantwortung der Fragen gebeten, ob es noch Gewebeproben des verstorbenen Versicherten gebe, wo diese gegebenenfalls lagerten und ob diese dem Gericht übersandt werden könnten, um Grundlage weiterer Ermittlungen zu werden. Weiterhin hat er um Mitteilung gebeten, welche Bildaufnahmen der Pleura des verstorbenen Versicherten – insbesondere CT-Aufnahmen – gefertigt worden seien und ob die Klägerin diese beiziehen und dem Gericht übersenden könne. Nach fruchtlosem Ablauf der hierfür gesetzten Frist von vier Wochen hat der Vorsitzende am 09. August 2019 an die Beantwortung seines Schreibens vom 27. Juni 2019 erinnert und um Erledigung binnen drei Wochen gebeten.

 

Nachdem auch hierauf keine Reaktion erfolgte, hat der Vorsitzende den Prozessbevollmächtigten der Klägerin mit Schreiben vom 06. September 2019, zugestellt am selben Tage, darauf hingewiesen, dass die Klage gemäß § 102 Abs. 2 SGG als zurückgenommen gelte, wenn er bzw. die Klägerin das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibe, er also ungeachtet einer Aufforderung des Gerichts nicht fristgemäß die vom Gericht als geboten angesehene Mitwirkungshandlung erbringe oder hinreichend durch Tatsachen darlege und begründe, warum die geforderte Handlung nicht vorgenommen werden könne. Dabei hat er sein Schreiben vom 27. Juni 2019 in Bezug genommen und eine Kopie dieses Schreibens übersandt. Die entsprechende Verfügung ist von dem Kammervorsitzenden in den Gerichtsakten mit vollem Namenszug unterzeichnet worden. In der dem Bevollmächtigten der Klägerin übermittelten Ausfertigung ist der volle Name des Richters wiedergegeben.

 

Der Bevollmächtigte der Klägerin hat daraufhin mit Schreiben vom 09. Oktober 2019 mitgeteilt, dass die Klägerin gebeten worden sei mitzuteilen, wo gegebenenfalls noch Gewebeproben oder CT-Aufnahmen der Lunge beigezogen werden könnten.

 

Am 10. Dezember 2019 hat der Vorsitzende dem Bevollmächtigten der Klägerin mitteilen lassen, dass die Klage nach § 102 Abs. 2 SGG als zurückgenommen gelte. Mit seinen Schreiben vom 11. Dezember 2019, bei Gericht eingegangen am 12. Dezember 2019, und vom 17. Dezember hat der Bevollmächtigte der Klägerin mitgeteilt, dass es nicht zutreffe, dass das Verfahren nicht betrieben worden sei. Die Anfrage des Gerichts vom 27. Juni 2019 entbinde es nicht von eigenständigen Ermittlungen. Von den behandelnden Ärzten des verstorbenen Versicherten, die von der Schweigepflicht entbunden worden seien, habe ohne weiteres erfragt werden können, ob von dort bildgebende Aufnahmen von Lunge und Pleura oder Gewebsproben beigezogen werden könnten. Entsprechende Nachfragen stellten eine Kernaufgabe der Amtsermittlung dar. Es könne unmöglich richtig sein, eine Witwe mit derartigen Anforderungen zu belasten. Sie selbst sei nicht die untersuchte Person gewesen, sondern der Verstorbene. Mit weiterem Schreiben vom 19. Dezember 2019 hat der Bevollmächtigte der Klägerin unter anderem ein Schreiben vom 25. Oktober 2017 überreicht, aus dem sich der Verbleib eines Paraffinblocks im Institut von Frau Dr. T ergebe. Zudem hat er radiologische Aufnahmen auf mehreren CDs überreicht, wie diese die Klägerin noch habe auffinden können. Er hat darauf hingewiesen, dass sich die Anfrage des Gerichts zu Gewebeproben aus der Verwaltungsakte des Beklagten hätte beantworten lassen. Ebenso seien die nunmehr übersandten radiologischen Aufnahmen Gegenstand der im Verwaltungsverfahren erfolgten fachradiologischen Begutachtung gewesen. Die Anfragen hätten sich durch ein Aktenstudium des Vorsitzenden selbst beantworten lassen, die Vorschrift des § 102 Abs. 2 SGG sei missbräuchlich angewandt worden.

 

In dem Verfahren hat die Klägerin einen Antrag in der Sache gestellt und zwar unter Aufhebung des ablehnenden Bescheides der Beklagten festzustellen, dass bei ihrem verstorbenen Ehemann eine Berufskrankheit nach der Nr. 4105 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung vorlag, weiterhin die Beklagte zu verurteilen, sie wegen der anzuerkennenden Berufskrankheit zu entschädigen und Hinterbliebenenleistungen zu erbringen.

 

Das Sozialgericht hat mit Gerichtsbescheid vom 10. Februar 2020 festgestellt, dass die Klage unter dem Aktenzeichen S 115 U 26/19 als zurückgenommen gilt und der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt ist. Die unter dem Aktenzeichen S 115 U 26/19 geführte Klage gelte gemäß § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG als zurückgenommen, denn die Voraussetzungen für den Erlass einer Betreibensaufforderung seien erfüllt gewesen, die Betreibensaufforderung habe den formellen und materiellen Anforderungen entsprochen und sei zugestellt worden. Die Klägerin habe aber nicht innerhalb der gesetzlichen Frist von drei Monaten die mit gerichtlichem Schreiben vom 27. Juni 2019 bezeichneten Mitwirkungshandlungen erbracht. Das Schreiben des Prozessbevollmächtigten der Klägerin vom 09. Oktober 2019 erbringe nicht die erbetene Mitwirkungshandlung.

Das SG hat weiter ausgeführt, dass die Rücknahmefiktion zwar in das Prozessgrundrecht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) bzw. in die entsprechenden Verfahrensgehalte der im Einzelfall betroffenen materiellen Grundrechte eingreife, dies aber grundsätzlich zulässig sei. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) dürfe ein Gericht im Einzelfall von einem Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses ausgehen, wenn das Verhalten eines Verfahrensbeteiligten Anlass zu der Annahme biete, dass ihm an einer Sachentscheidung nicht mehr gelegen sei. Das BVerfG habe zugleich aber betont, dass Vorschriften über eine Fiktion der Klagerücknahme Ausnahmecharakter hätten, der bei ihrer Auslegung und Anwendung besonders zu beachten sei. Die Vorschrift des § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG diene nicht als Sanktion für einen Verstoß gegen prozessuale Mitwirkungspflichten oder für ein unkooperatives Verhalten eines Beteiligten. Die Rücknahmefiktion solle nur die Voraussetzungen für die Annahme eines weggefallenen Rechtsschutzinteresses festlegen und gesetzlich legitimieren. § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG bezwecke indes nicht, einen Kläger zu einer Substantiierung seines Klagebegehrens anzuhalten, sondern diene (nur) der Klärung aufgekommener Zweifel am Fortbestehen seines Rechtsschutzinteresses. Gemessen an diesen Vorgaben sei aus der Gesamtschau des Ablaufes des Klageverfahrens zu erkennen, dass das Rechtsschutzinteresse der Klägerin weggefallen sei. Mit gerichtlichem Schreiben vom 27. Juni 2019 sei die Klägerin darauf hingewiesen worden, dass derzeit die medizinischen Voraussetzungen der Berufskrankheit Nr. 4105 nicht als erwiesen gelten könnten, da nach den bisherigen Ermittlungen ein Mesotheliom nicht vorgelegen habe. Zugleich sei die Klägerin bzw. ihr Bevollmächtigter um Mitteilung gebeten worden, welche weiteren konkreten (medizinischen) Ermittlungsansätze sie erkennen würden. Insbesondere sei um Beantwortung der Fragen gebeten worden, ob es noch Gewebeproben des verstorbenen Versicherten gebe, wo diese gegebenenfalls lagerten und ob diese dem Gericht übersandt werden könnten, und welche Bildaufnahmen der Pleura des verstorbenen Versicherten – insbesondere CT-Aufnahmen – gefertigt worden seien und ob die Klägerin diese beiziehen und dem Gericht übersenden könne. Mit Schreiben vom 06. September 2019 sei die Klägerin – nachdem Schreiben vom 27. Juni 2019 und vom 09. August 2019 ohne Resonanz geblieben waren – aufgefordert worden, die vom Gericht als geboten angesehenen Mitwirkungshandlungen zu erbringen oder hinreichend durch Tatsachen darzulegen und zu begründen, warum die geforderten Handlungen nicht vorgenommen werden können. Die Klägerin habe jedoch trotz der wiederholten und deutlichen Aufforderungen, ihr Wissen mit dem Gericht nicht teilen wollen, es vielmehr nicht einmal für erforderlich gehalten, sich auch nur bei dem Gericht zu melden und jedwede Erklärung zu der erbetenen Mitwirkungshandlung abzugeben. Aus diesem nicht nur unkooperativen Verhalten, sondern darüber hinaus zutage tretenden Desinteresse an dem Klageverfahren habe das Gericht auf einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses der Klägerin schließen dürfen. Das Gericht sei entgegen der Auffassung der Klägerin bzw. ihres Bevollmächtigten auch nicht gehalten gewesen, sich im Rahmen der Amtsermittlung des § 103 SGG die aus den Verwaltungsakten ersichtlichen – zahlreichen – Ärzte und Krankenhäuser anzuschreiben und sich nach dem Verbleib der erbetenen ärztlichen Dokumentation und Bildaufnahmen und der Asservate bzw. Gewebeproben zu erkundigen. Von dem Gericht könne nicht erwartet werden, eine beliebige Anzahl von Ärzten anzuschreiben, um herauszufinden, wo sich ggf. entsprechende Unterlagen befinden. Es handele sich hierbei um Wissen, über das ausschließlich die Klägerin verfüge und das diese dem Gericht mit deutlich geringerem Aufwand vermitteln könne. Dass dies mit nur ein klein wenig Mühe zu bewerkstelligen gewesen sei, ergebe sich auch daraus, dass der Bevollmächtigte der Klägerin mit weiterem Schreiben vom 19. Dezember 2019 unter anderem ein Schreiben vom 25. Oktober 2017 übersandt habe, aus dem sich der Verbleib eines Paraffinblocks ergebe. Zudem habe er radiologische Aufnahmen auf mehreren CDs überreicht, die die Klägerin noch habe auffinden können. Es treffe demnach nicht zu, dass die Klägerin und ihr Bevollmächtigter mit der durch das Gericht erbetenen Mitwirkung überfordert worden gewesen seien.

 

Die Klägerin hat gegen den ihrem Prozessbevollmächtigten am 11. Februar 2020 zugestellten Gerichtsbescheid am 04. März 2020 Berufung eingelegt. Sie ist der Auffassung, dass der Gerichtsbescheid an einer schweren Verletzung der Amtsermittlungspflicht des Gerichts leide. Das Sozialgericht hätte selbst Beweis erheben und die nötigen Dinge beiziehen müssen.

 

Die Klägerin beantragt,

 

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 10. Februar 2020 aufzuheben und den Rechtsstreit an das Sozialgericht Berlin zurückzuverweisen, hilfsweise nach den Anträgen aus der I. Instanz zu erkennen, d.h. auf die Verurteilung der Beklagten eine Berufskrankheit Nr. 4105 „Pleuramesotheliom“ anzuerkennen und zu entschädigen, insbesondere in Form der Lebzeitenleistungen und der Hinterbliebenenleistungen.

 

Die Beklagte beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Sie verweist auf die Gründe des angegriffenen Gerichtsbescheides.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten zum vorliegenden Verfahren sowie auf die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, ergänzend Bezug genommen.

 

 

Entscheidungsgründe

 

Die gemäß § 151 SGG form- und fristgerecht erhobene und auch im Übrigen zulässige Berufung hat im Sinne der Zurückverweisung an das SG Berlin Erfolg.

 

Das SG Berlin hat in seinem angegriffenen Gerichtsbescheid vom 10. Februar 2020 zu Unrecht festgestellt, dass das Klageverfahren durch Klagerücknahmefiktion erledigt ist. Die Voraussetzung einer Klagerücknahmefiktion lagen nicht vor.

 

Gemäß § 102 Abs. 2 SGG gilt die Klage als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung (sog. Betreibensaufforderung) des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 155 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen. Nach § 102 Abs. 1 Satz 2 SGG erledigt die Klagerücknahme den Rechtsstreit in der Hauptsache.

 

Das SG Berlin hat  mit seinem Schreiben vom 06. September 2019 eine Betreibensaufforderung erlassen. Diese ist formell nicht zu beanstanden; insbesondere ist sie nach Aktenlage vom zuständigen Richter verfügt und mit vollem Namen unterzeichnet worden (vgl. Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 01. Juli 2010 – B 13 R 58/09 R –, zitiert nach juris Rn. 49) und dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin auch förmlich zugestellt worden.

 

Die Betreibensaufforderung ist jedoch in materieller Hinsicht fehlerhaft, mit der Folge, dass sie eine Rücknahmefiktion nicht auslösen konnte. Es ist das für eine Klagerücknahmefiktion im Zeitpunkt der Betreibensaufforderung geforderte ungeschriebene Tatbestandsmerkmal des Wegfalls des Rechtsschutzinteresses nicht erfüllt (vgl. dazu BSG, Urteil vom 01. Juli 2010 – B 13 R 58/09 R –, zitiert nach juris Rn. 40 ff., 46 mit Hinweis auf BVerfG, Beschluss vom 27. Oktober 1998 – 2 BvR 2662/95 –, zitiert nach juris).

 

Die Vorschrift des § 102 Abs. 2 SGG ist als Ausnahmevorschrift eng auszulegen. Das vom Bundesverfassungsgericht und ebenso vom Bundessozialgericht für die gesetzliche Rechtsmittelrücknahmefiktionen aus verfassungsrechtlichen Gründen geforderte ungeschriebene Tatbestandsmerkmal besagt, dass zum Zeitpunkt der Betreibensaufforderung sachlich begründete Anhaltspunkte für den Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses bestanden haben müssen (BVerfG, Beschluss vom 27. Oktober 1998 - 2 BvR 2662/95 -; Bundesverwaltungsgericht <BVerwG>, Urteil vom 23. April 1985 - 9 C 48/84 -; st. Rspr. BSG, zuletzt Beschluss vom 08. Dezember 2020 – B 4 AS 280/20 B -, Rn. 12,  zitiert nach juris m. w. N.). Solche Anhaltspunkte können sich im sozialgerichtlichen Verfahren aus einer Verletzung der prozessualen Mitwirkungspflichten des Klägers ergeben. Stets muss sich daraus aber der Schluss auf einen Wegfall des Sachbescheidungsinteresses, also auf ein Desinteresse des Klägers an der weiteren Verfolgung seines Begehrens, ableiten lassen. Denn die Klagerücknahmefiktion ist "kein Hilfsmittel zur bequemen Erledigung lästiger Verfahren oder zur vorsorglichen Sanktionierung prozessleitender Verfügungen". Damit aber genügt für den Erlass einer Betreibensaufforderung i. S. d. § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG nicht jegliche Verletzung einer Mitwirkungspflicht; vielmehr ist nur das Unterlassen solcher prozessualen Mitwirkungshandlungen erheblich, die für die Feststellung von entscheidungserheblichen Tatsachen bedeutsam sind, die also für das Gericht - nach seiner Rechtsansicht - notwendig sind, um den Sachverhalt zu klären und eine Sachentscheidung zu treffen. Nach der Rechtsprechung des BVerfG (vgl. Kammer-Beschluss vom 27. Oktober 1998 - 2 BvR 2662/95 –, DVBl. 1999, 166, 168) wird ausdrücklich darauf abgestellt, ob bestimmte Erklärungen der Beschwerdeführer "für die weitere Förderung des Verfahrens notwendig" waren (BSG, Urteil vom 01. Juli 2010 – B 13 R 74/09 R –, zitiert nach juris Rn. 50 ff.). Da die streitentscheidende Norm im Lichte der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG eng auszulegen ist, kann das Gericht vom Wegfall eines ursprünglich gegebenen Rechtsschutzinteresses jedoch nur dann ausgehen, wenn das prozessuale Verhalten eines rechtsschutzsuchenden Verfahrensbeteiligten begründeten Anlass zu der Annahme bietet, dass ihm an einer Sachentscheidung mangels eines Sachbescheidungsinteresses nicht mehr gelegen ist (BVerfG, Beschlüsse vom 27. Oktober 1998 - 2 BvR 2662/95 - und 17. September 2012 – 1 BvR 2254/11 -; BSG Urteile vom 01. Juli 2010 – B 13 R 58/09 -  und - B 13 R 74/09 -; jeweils zitiert nach juris). Diese Anhaltspunkte müssen so gravierend sein, dass der spätere Eintritt der Klagerücknahmefiktion als gerechtfertigt erscheint (vgl. Gesetzentwurf,  BT-Drucks. 16/7716, S. 19). Ohne derartige Anhaltspunkte ist für eine fingierte Klagerücknahme kein Raum.

 

Dies zugrunde gelegt, hat im Hinblick auf das prozessuale Verhalten der Klägerin im Zeitpunkt der Abfassung der Betreibensaufforderung am 06. September 2019 kein hinreichender Anlass bestanden, von einem Wegfall des Rechtsschutzinteresses  der Klägerin auszugehen. Der Betreibensaufforderung vom 06. September 2019 ging die Aufklärungsverfügung des Vorsitzenden vom 27. Juni 2019 voraus. Auf diese dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 28. Juni 2019 elektronisch übersandte Verfügung hat die Klägerin bzw. deren Prozessbevollmächtigter nicht innerhalb der darin gesetzten Vierwochenfrist reagiert. Auch auf die Erinnerung, mit welcher eine erneute Frist von drei Wochen gesetzt wurde, erfolgte keinerlei Reaktion. Mithin ist die Klägerin bei Erlass der Betreibensaufforderung auf die gerichtliche Verfügung vom 27. Juni 2019 trotz Erinnerung zwei Monate und neun Tage untätig geblieben. Hieraus kann im konkreten Fall allerdings nicht der Wegfall des Rechtsschutzinteresses abgeleitet werden.

 

Das Schreiben vom 27. Juni 2019, mit dem die Klägerin gebeten worden ist, „mitzuteilen welche weiteren konkreten (medizinischen) Ermittlungsansätze“ sie erkenne und hierzu insbesondere um Stellungnahme gebeten worden ist, ob es noch Gewebeproben gebe, wo diese lagerten und ob sie dem Gericht übersandt werden können, sowie dazu, welche Bildaufnahmen der Pleura des Verstorbenen gefertigt worden seien, ob die Klägerin diese beiziehen und dem Gericht übersenden könne, war bereits nicht geeignet, eine konkrete Mitwirkungspflicht der Klägerin zu begründen. Die damit von der Klägerin begehrte Mitwirkung war für die Förderung des weiteren Verfahrens nicht notwendig. Aus Sicht des insoweit maßgeblichen objektiven Empfängerhorizontes war nicht erkennbar, dass das SG in Bezug auf die damit verfolgte weitere Sachaufklärung auf die Mitwirkung der Klägerin tatsächlich angewiesen gewesen war. Die letztlich von der Klägerin (nach Ablauf der Frist in der Betreibensaufforderung) übersandten Unterlagen und Erkenntnisse ergaben sich bereits aus den Verwaltungsakten der Beklagten (Bl. 96 ff. 129, 141).

 

Zudem stellte die zunächst ausbleibende Reaktion der Klägerin auf diese Anforderung keinen Anlass dar, der Grund zu der Annahme bot, dass der Klägerin an einer Sachentscheidung mangels eines Sachbescheidungsinteresses nicht mehr gelegen wäre. Bei der insoweit vorzunehmenden Beurteilung ist nicht nur die fehlende Reaktion von etwas über zwei Monaten auf die Verfügung des Vorsitzenden, sondern der gesamte bisherige Verfahrensablauf in den Blick zu nehmen. Zum Zeitpunkt des Erlasses der Betreibensaufforderung war das gerichtliche Verfahren knapp acht Monate anhängig. Bis zum Zeitpunkt der ersten Aufforderung zur Mitteilung, ob Erkenntnisse über den Verbleib weiterer bildgebender Diagnostik oder von Gewebeproben vorliegen bzw. ob diese von der Klägerin beigezogen werden können, am 27. Juni 2019 hat ein reger Schriftwechsel zum zulässigen Gegenstand des Verfahrens und die richtige Antragstellung zwischen dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin und dem Vorsitzenden der Kammer stattgefunden. Die überarbeitete Antragstellung und die letzten Unterlagen zur Rechtsnachfolge der Klägerin nach ihrem verstorbenen Ehemann wurden mit Schreiben vom 26. Juni 2019 bzw. vom  27. Juni 2019, eingegangen bei Gericht am 01. Juli 2019, übersandt. Bis zu diesem Zeitpunkt hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin - wenn zuletzt auch nicht innerhalb der relativ knapp bemessenen Fristen - auf die mehrfachen Anfragen des Vorsitzenden sachgerecht reagiert und war ersichtlich um die Führung des Verfahrens bemüht. Anhaltspunkt für das ein Entfallen des Rechtsschutzinteresses kann daher allein die unterbliebene Beantwortung der gerichtlichen Verfügung vom 27. Juni 2019 gewesen sein. In Anbetracht der Tatsache, dass sich bereits umfangreiche medizinische Unterlagen in den Verwaltungsakten der Beklagten befanden und dass sich die vom Gericht erbetene Mitteilung allein auf „weitere konkrete(n) (medizinische(n)) Ermittlungsansätze“ und entsprechende bildgebende Diagnostik und Gewebeproben bezog, sowie dass die entsprechenden Untersuchungsbefunde nicht die Klägerin selbst, sondern ihren Ehemann betrafen, kann nach fruchtlosem Ablauf der vom Gericht gesetzten 4- bzw. 3-Wochenfrist noch nicht von einem Fortfall des Sachbescheidungsinteresses ausgegangen werden. Unter diesen Umständen musste auch das Gericht davon ausgehen, dass die Beantwortung der Frage nach weiteren Unterlagen einen erheblichen Zeitraum in Anspruch nehmen könnte. In Anbetracht dessen, dass das Verfahren in der Zeit zuvor zügig betrieben worden ist, stellt das Unterlassen der Beantwortung der gerichtlichen Verfügung (auch nach Setzen einer Nachfrist von drei Wochen) noch kein Verhalten dar, das den Erlass einer Betreibensaufforderung rechtfertigt. Vielmehr scheint, worauf auch der zuvor erfolgte Erlass einer Betreibensaufforderung bereits am 24. Juni 2019 schließen lassen könnte, der Vorsitzende an einer besonders zügigen Verfahrensführung interessiert gewesen zu sein. Eine zügige Verfahrensführung wird in der Regel im Interesse der Klägerseite sein, kann jedoch nicht dazu führen, dass jegliche Fristversäumnisse mit einer Betreibensaufforderung sanktioniert werden.

 

Da mithin die Voraussetzungen für eine Klagerücknahmefiktion nicht vorliegen, ist das angefochtene Urteil aufzuheben.

 

Der Rechtsstreit ist an das SG zurückzuverweisen. Nach § 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG kann das Landessozialgericht durch Urteil die angefochtene erstinstanzliche Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn dieses die Klage abgewiesen hat, ohne in der Sache selbst zu entscheiden. Zwar hat das SG Cottbus die Klage nicht als unzulässig abgewiesen, sondern die Beendigung des Rechtsstreits festgestellt. § 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG ist jedoch entsprechend anwendbar, wenn das SG zwar in der Sache selbst, aber aus Gründen, die das LSG nicht für zutreffend hält, die Klage abgewiesen und zu den eigentlichen Sachfragen nicht Stellung genommen hat, weil es in einer rechtlichen Vorfrage die Weiche falsch gestellt hat (BSG, Urteil vom 18. Februar 1981 – 3 RK 61/80 –, juris; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 159 Rn. 2b). Ein solcher Fall ist hier gegeben.

 

Es bedurfte hier auch einer Zurückverweisung. Der Senat folgt nicht der Auffassung, dass allein mit der Aufhebung der die Beendigung des Verfahrens feststellenden erstinstanzlichen Entscheidung das Verfahren weiter in erster Instanz anhängig ist, ohne dass es einer Zurückverweisung nach § 159 Abs. 1 SGG bedürfte  (so Burkiczak in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl., § 102 SGG (Stand: 25.Juni 2021), Rn. 100; Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, Rn. 13 zu § 102; jeweils m. w. N.). Bei dem die Beendigung des Rechtstreits (durch fiktive Klagrücknahme) feststellenden Urteil handelt es sich vielmehr prozessual um ein Endurteil. Mit der Berufung gegen dieses Urteil sind damit auch die im Ausgangsverfahren erhobenen prozessualen Ansprüche in vollem Umfang in der Berufungsinstanz anhängig geworden. Sofern das Berufungsgericht die Prozessbeendigung verneint, ist es ist daher befugt und grundsätzlich auch verpflichtet, über die prozessualen Ansprüche der Kläger in der Sache zu entscheiden, obwohl das SG über diese - von seinem Standpunkt aus folgerichtig - nicht befunden hat  (Landessozialgericht <LSG> Berlin-Brandenburg, Urteil vom 21. August 2020 – L 10 AS 868/20 –, juris; LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 22. Mai 2019 – L 12 SO 641/18 –, Rn. 24, juris). Der Entscheidungsumfang bzw. die Entscheidungsbefugnis des Berufungsgerichts reichen gemäß § 157 Satz 1 SGG genauso weit wie die des Ausgangsgerichts. Deshalb wäre, wenn der Eintritt der Rücknahmefiktion verneint worden ist, das Berufungsgericht – ebenso wie das SG -  auch befugt, in der Sache zu entscheiden sein.

 

Der Senat macht jedoch von seinem in § 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG eingeräumten Ermessen Gebrauch, den Rechtsstreit nicht in der Sache selbst zu entscheiden, sondern ihn stattdessen an das Sozialgericht zurückzuverweisen. Ermessensleitend ist dabei der Gesichtspunkt, dass vorliegend bisher keinerlei Ermittlungen in der Sache durchgeführt wurden. Nur auf diesem Wege kann im Ergebnis der Verlust einer Tatsacheninstanz im Sinne einer ernsthaften inhaltlichen Prüfung des Klagebegehrens vermieden werden. Angesichts der überschaubaren Dauer des vorliegenden Berufungsverfahrens steht einer Zurückverweisung auch nicht die Besorgnis einer insgesamt unverhältnismäßig langen Verfahrensdauer entgegen.

 

Eine Kostenentscheidung war durch den Senat nicht zu treffen. Sie muss der Entscheidung des SG vorbehalten bleiben (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, Rn. 5f zu § 159).

 

Gründe für eine Zulassung der Revision im Sinne von § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.

Rechtskraft
Aus
Saved