L 17 R 534/19

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
17
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 97 R 2219/18
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 17 R 534/19
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Die seit 2001 entstandenen Erstattungsansprüche des Rentenver¬sicherungsträgers gegen den Träger der Versorgungslast nach § 225 Abs. 1 SGB 6 verjähren gemäß der seit 1. Juli 2020 gültigen Fassung des § 2 Abs. 4 Satz 1 VAErstV vom 12. Juni 2020 in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem sie angefordert werden sollen.

Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 17. Juni 2019 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

 

Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

 

Tatbestand

 

Die Klägerin und Berufungsbeklagte (im Folgenden: Klägerin) macht 89.792,09 Euro Aufwendungen geltend, die sie der am  1932 geborenen und am .  2013 verstorbenen A F (Versicherte) von 2001 bis 2010 als Teil der Rente gezahlt hat.

 

Nach den von der Klägerin vorgelegten Unterlagen wurde die Versicherte geschieden. Mit Urteil des Amtsgerichts D vom 9. Oktober 1992 – Az: – wurden ihrem Rentenkonto aus einer beim Beklagten und Berufungskläger (im Folgenden: Beklagter) geführten Beamtenversorgung im Rahmen eines Quasi-Splitting 1.104,22 DM (26,6462 Entgeltpunkte) gutgeschrieben. Die Klägerin zahlte der Versicherten ab 1. Oktober 1992 bis zu deren Tod Rente.

 

Ende 27. Oktober 2016 forderte die Klägerin beim Beklagten Anteile aus Versicherungsleistungen bis einschließlich 31. Dezember 2015 für 25 Versicherte (insgesamt 351.576,99 Euro) an. Davon entfielen auf die Versicherte 118.308,84 Euro (109.696,89 Euro und 16.886,17 DM) für die Zeit vom 1. Januar 2001 bis zum 31. Dezember 2013. Der Beklagte erstattete davon 24.538,56 Euro für die Zeit vom 1. Januar 2011 bis 31. Dezember 2013 und lehnte die Erstattung von weiteren 89.792,09 Euro (für die Zeit vom 1. Januar 2001 bis zum 31. Dezember 2010) ab. Die Erstattungs­ansprüche aus der Zeit vor dem 1. Januar 2011 seien verjährt.

 

Die Klägerin hat am 18. Juni 2018 zu dem Sozialgericht Berlin Klage erhoben. Ihre Forderung sei nicht verjährt. Sie verjähre vier Jahre nach Fälligkeit. Die Fälligkeit trete erst sechs Monate nach der Anforderung der Aufwendungen beim Beklagten durch sie, die Klägerin, ein. Dies ergebe sich aus der Verordnung über die Erstattung von Aufwendungen der Träger der Rentenversicherung im Rahmen des Versorgungsaus­gleichs (VAErstV). Ihre Anforderung datiere auf das Jahr 2016. Die dreijährige Verjährungsfrist des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) sei nicht heranzuziehen. Die Forderung sei auch nicht verwirkt. Sie, die Klägerin, habe nie durch aktives Handeln den Eindruck erweckt, auf die Forderung verzichten zu wollen.

 

Der Beklagte ist der Ansicht, dass die Forderung verjährt sei. Die Auffassung der Klägerin führe dazu, dass Verjährung bei einer Erstattungsforderung praktisch nie eintreten könne. Dass Forderungen innerhalb von vier Jahren verjähren, sei im Sozialrecht ein allgemeiner Rechtsgedanke. Er sei auch hier beizubehalten. Die praktische Beseitigung der Verjährung sei im Wege einer normkonkretisierenden Verordnung nicht zulässig. Rechtssicherheit und Rechtsklarheit erforderten einen vom Tätigwerden des Rentenversicherungsträgers (der Klägerin) unabhängigen Verjähr­ungsbeginn. Die Verwirkung ergebe sich hier daraus, dass die Klägerin entgegen ihrer sonstigen Praxis sechszehn Jahre lang keine Forderung angemeldet habe.

 

Das Sozialgericht hat den Beklagten mit Urteil vom 17. Juni 2019 verurteilt, an die Klägerin 89.792,09 Euro zu zahlen. Der Anspruch ergebe sich aus § 225 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch - Gesetzliche Rentenversicherung - (SGB VI). Er sei nicht verjährt. Nach der Verjährungsregelung § 2 Abs. 3 VAErstV trete Verjährung erst nach Fälligkeit ein. Fälligkeit trete erst nach Anforderung ein. § 113 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) sei nicht anwendbar, § 2 Abs. 4 Satz 1 VAErstV sei spezieller und damit vorrangig. Diese Verordnung sei durch die Ermächtigungsgrundlage in § 256 Abs. 1 SGB VI gedeckt.

 

Gegen dieses, ihm am 25. Juni 2019 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 25. Juli 2019 Berufung eingelegt. Zur Begründung hat er seinen bisherigen Vortrag wiederholt und vertieft.

 

Der Beklagte beantragt,

 

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 17. Juni 2019 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

 

Die Klägerin beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Ihre Forderung sei weder verjährt noch verwirkt. Da sie als Organ der Exekutive an Recht und Gesetz gebunden sei, werde die Anforderungsfrist aus § 2 Abs. 1 VAErstV regelmäßig eingehalten. Ohnehin habe sie, da sie regelmäßig in Vorleistung gehe, grundsätzlich Interesse an einer schnellen Geltendmachung.

 

Unter dem 17. Februar 2022 wurden die Beteiligten vom Gericht darauf hingewiesen, dass die Verjährungsregelung in der VAErstV zum 1. Juli 2020 geändert worden ist.

 

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten im Einzelnen und des Sachverhalts im Übrigen wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte und die Verwaltungs­vorgänge. Diese haben vorgelegen und waren Gegenstand der Beratung.

 

Entscheidungsgründe

 

Die Berufung des Beklagten ist statthaft, form- und fristgerecht eingelegt und auch im Übrigen zulässig (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG). Der Senat darf gemäß § 124 Abs. 2 SGG auf Grund des Einverständnisses der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden.

 

Statthaft ist die (echte) Leistungsklage (§ 54 Abs. 5 SGG), denn für den von der Klägerin geltend gemachten Zahlungsanspruch hat kein Verwaltungsakt zu ergehen (Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 14. März 2006 – B 4 RA 8/05 R –, Rn. 10 in juris; Landessozialgericht [LSG] Berlin-Brandenburg, Urteil vom 30. Juni 2020 – L 6 R 161/20 –, Rn. 16 in juris; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 26. Februar 2020 – L 16 R 670/19 –, Rn. 13 in juris; LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 18. März 2015 – L 4 U 71/13 –, Rn. 26 in juris; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 19. März 2010 – L 13 R 12/05 –, Rn. 19 in juris). Das Sozialgericht Berlin war gemäß § 57 Abs. 1 Satz 1 1. Halbsatz SGG örtlich zuständig.

 

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei einer Leistungsklage „naturgemäß“ die letzte Tatsacheninstanz (so BSG, Urteil vom                   29. September 2009 – B 8 SO 16/08 R –, Rn. 21 in juris). Bei einer echten Leistungsklage ist dies der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (Söhngen, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl., § 54 SGG [Stand: 30. Juni 2020], Rn. 51; Böttiger, in: Fichte/Jüttner, SGG, 3. Aufl. 2020, § 54 SGG [Klagebegehren], Rn. 132; Keller, in: Meyer-Ladewig/ders./Leith­erer/Schmidt, SGG 13. Auflage 2020; Rn. 34 zu § 54). Soweit keine mündliche Verhandlung stattfindet, ist der Zeitpunkt der Entscheidung maßgeblich  zur Berücksichtigung von Schriftsätzen, die vor Absetzen der Entscheidung ergehen, vgl. aber (BSG, Urteil vom 8. Mai 1981 – 9 RV 2/81 –, Rn. 19 in juris).

 

Zu diesem Zeitpunkt darf der Beklagte die Leistung gemäß § 2 Abs. 4 Satz 2 VAErstV in Verbindung mit § 214 Abs. 1 BGB verweigern. Der Erstattungsanspruch der Klägerin ist verjährt. Ob er zusätzlich verwirkt ist, ist nicht mehr entscheidungs­erheblich. Er beruht auf § 225 Abs. 1 Satz 1 SGB VI. Danach werden die Aufwendungen des Trägers der Rentenver­sicherung aufgrund von Rentenanwart­schaften, die durch Entscheidung des Familien­gerichts begründet worden sind, von dem zuständigen Träger der Versorgungslast erstattet. In § 226 Abs. 1 SGB VI wird die Bundesregierung ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates das Nähere über die Berechnung und Durchführung dieser Erstattung zu bestimmen. Von dieser Ermächtigung hat die Bundesregierung Gebrauch gemacht und die VAErstV erlassen. Diese enthält, anders als die Vorgängerverordnung VersorgAusglErstV, die den Ausgleich nach § 1304b Reichsversicherungs­ordnung (RVO) regelte, auch Verjährungsvorschriften. In der seit 1. Juli 2020 gültigen Fassung vom 12. Juni 2020 lautet § 2 Abs. 4 Satz 1 VAErstV:

 

Der Erstattungsanspruch des Trägers der Rentenversicherung verjährt in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Aufwendungen angefordert werden sollen.

 

Nach dem (unveränderten) § 2 Abs. 1 VAErstV sollen die Aufwendungen innerhalb von vier Kalendermonaten nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Aufwendungen entstanden sind, angefordert werden.

 

Danach sind die im Jahr 2010 entstanden Erstattungsansprüche im Jahr 2015 verjährt. Der Erstattungsanspruch soll gemäß § 2 Abs. 1 VAErstV in den ersten vier Monaten des Jahres 2011 angefordert werden. Die Verjährungsfrist begann gemäß § 2 Abs. 4 Satz 1 VAErstV mit dem Jahr 2012 und endet vier Jahre später mit dem Jahr 2015. Die zuvor entstandenen Aufwendungen sind entsprechend früher verjährt. Innerhalb dieser Verjährungsfrist ist weder eine Hemmung noch eine Unterbrechung der Verjährung eingetreten. Die Klägerin hat die Aufwendungserstattung erst mit Schriftsatz vom 27. Oktober 2016 angefordert. Der Beklagte hat sich auch auf die Verjährung berufen.

 

Ob nach der vom 1. Januar 2002 bis zum 30. Juni 2020 gültigen Fassung der VAErstV vom 9. Oktober 2001 diese Frage anders zu beurteilen gewesen wäre, ist nicht entscheidungs­erheblich, weil diese Fassung der Norm, die noch für das Sozialgericht maßgeblich war, nicht mehr anzuwenden ist. Damals lautete § 2 Abs. 4 Satz 1 VAErstV:

 

 Der Erstattungsanspruch des Trägers der Rentenversicherung verjährt in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem er fällig geworden ist.

 

Die Fälligkeit bestimmt der unveränderte § 2 Abs. 3 VAErstV auf sechs Monate nach Eingang der Erstattungs­anforderung beim zuständigen Träger der Versorgungslast.  

 

Die neue Regelung ist – wie zuvor die alte Bestimmung – gemäß § 3 VAErstV erstmals auf die Erstattung der im Jahre 2001 entstehenden Aufwendungen anwendbar (zur zeitlichen Abgrenzung gegenüber der bis zum Jahr 2001 gültigen Regelung: BSG, Urteil vom 3. April 2003 – B 13 RJ 29/02 R –, Rn. 15 in juris). Eine zeitliche Gültigkeit der Neuregelung auf Aufwendungen, die erst später entstanden sind, ist der Verordnung nicht zu entnehmen. Sie gilt für alle Aufwendungen, die erstmals im Jahre 2001 entstanden sind. Um eine Gesetzeslücke anzunehmen, bedürfte es insoweit besonderer Anhaltspunkte dafür, dass der Verordnungsgeber diese Wirkung der Neuregelung übersehen hätte. Für bereits erstattete Aufwendungen ändert sich durch die Neuregelung gemäß § 214 Abs. 2 BGB nichts, weil es sich um beglichene Ansprüche handelt.

 

Schon weil die Neuregelung zu Lasten der Rentenversicherungsträger, die nicht Grundrechtsträger sind, geht und so nicht in Grundrechte eingreifen kann, ist für eine ggf. weitreichende Auslegung  mit Blick auf die Grundrechte und die rückwirkende Geltung der Neuregelung , die zur Folge hat, das bislang nicht verjährte Forderungen schlagartig verjähren, kein Raum. Die Verordnung ist nicht gegen ihren Wortlaut auszulegen. § 3 VAErstV bestimmt, dass die Verordnung in der geänderten Fassung erstmals auf die Erstattung der im Jahre 2001 entstehenden Aufwendungen anzuwenden ist. Der Verordnungsgeber wollte mit der Änderung eine Verfahr­ens­beschleunigung sicherstellen (BT-Drs. 19/17586 S. 130; BR-Drs. 2/20 S. 149). Weitere Überlegungen des Gesetzgebers sind den Drucksachen nicht zu entnehmen. Eine umfassendere Geltung, nämlich für alle seit dem Jahr 2001 entstandenen Ansprüche, führt jedenfalls zur Beschleunigung schon laufender Verfahren. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass die mit der Änderung eingeführte, vom Handeln der Rentenver­sicherungsträger unabhängige Verjährung und ihre zeitliche Geltung ein Versehen des Verordnungsgebers wäre. Es ist gut möglich, dass die alte Regelung als unbefriedigend eingestuft wurde, gerade weil sie den Beginn der Verjährung von einer Handlung des Rentenver­sicherungsträgers abhängig machte und deswegen möglichst umfassend aufgehoben werden sollte. Dafür sprechen systematische und teleologische Überlegungen. Systematisch entspricht die neue Regelung mit der Anknüpfung an die Entstehung des Anspruchs eher den im Sozialrecht üblichen Verjährungsregelungen (vgl. § 45 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner Teil - SGB I), insbesondere für Erstattungsansprüche (vgl. § 34a Abs. 2 und § 34b Abs. 3 Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - SGB II;  § 27 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Viertes Buch - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung - SGB IV; § 113 Abs. 1 SGB X; § 111 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - SGB XII). In § 50 Abs. 4 SGB X ist die Verjährung zwar auch vom Tätigwerden des Gläubigers abhängig. Aber auch dort ist durch die in den §§ 44 ff SGB X kodifizierten Fristen die Durchsetzung der Ansprüche – anders als bei der alten Fassung des § 2 Abs. 4 Satz 1 VAErstV – nur in einem begrenzten Zeitraum nach dem Entstehen möglich.

 

Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a SGG in Verbindung mit § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).

 

Gründe für die Zulassung der Revision (vgl. § 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.

 

 

 

Rechtskraft
Aus
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