L 1 AS 474/19 NZB

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
1.
1. Instanz
SG Neuruppin (BRB)
Aktenzeichen
S 18 AS 1617/16
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 AS 474/19 NZB
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der Berufung in dem Urteil des Sozialgerichts Neuruppin vom 24. Januar 2019 wird zurückgewiesen.

 

Der Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.

 

Gründe:

 

Die gemäß § 145 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der Berufung in dem Urteil des Sozialgerichts Neuruppin (SG) vom 24. Januar 2019 ist unbegründet. Denn weder ist die Berufung gegen das Urteil bereits kraft Gesetzes zulässig noch sind Zulassungsgründe nach § 144 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 SGG gegeben.

 

Nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG bedarf die Berufung der Zulassung, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750,00 € nicht übersteigt. Dies gilt nach § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG nicht, wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft. Im Streit ist hier eine Erstattungssumme in Höhe von nur 184,02 €. Die Berufung ist damit nach dem Gesetz grundsätzlich ausgeschlossen.

 

Die Berufung ist nicht nach § 144 Abs. 2 SGG zuzulassen. Nach § 144 Abs. 2 SGG ist die Berufung zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat, das Urteil von einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des Bundessozialgerichts (BSG), des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

 

Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung. Grundsätzliche Bedeutung kommt einer Rechtsache nur zu, wenn von der Entscheidung der Rechtssache erwartet werden kann, dass sie zur Erhaltung und Sicherung der Rechtseinheit und zur Fortbildung des Rechts beitragen wird. Dies wiederum ist nur dann der Fall, wenn es in einem Rechtsstreit um eine klärungsbedürftige und klärungsfähige Rechtsfrage geht, deren Entscheidung über den Einzelfall hinaus Bedeutung besitzt. Klärungsfähigkeit in diesem Sinne ist gegeben, wenn es auf die als grundsätzlich angesehene Rechtsfrage im konkreten Rechtsfall ankommt, sie also für den zu entscheidenden Streitfall rechtserheblich ist. Nicht klärungsbedürftig ist die Rechtsfrage, wenn die Antwort praktisch außer Zweifel steht, weil sie sich beispielsweise unmittelbar aus dem Gesetz ergibt oder sie bereits höchstrichterlich entschieden ist (vgl. Kummer, Der Zugang zur Berufungsinstanz nach neuem Recht, NZS 1993, S. 337 ff. [341] m. w. Nachw.).

 

Der Beklagte wendet sich gegen die Annahme des SG, der Erstattungsanspruch sei verwirkt. Zu Unrecht sei es davon ausgegangen, dass das sogenannte Umstandsmoment des Vertrauenstatbestandes bestanden habe.

Der Beklagte hat damit keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung formuliert, sondern hält dem Urteil vor, dass die von der obergerichtlichen Rechtsprechung bereits geklärten Voraussetzungen einer Verwirkung im konkreten Fall nicht vorliegen würden.

 

Die Berufung ist auch nicht wegen einer Abweichung von der Rechtsprechung eines Obergerichts zuzulassen (Zulassungsgrund nach § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG). Dieser Zulassungsgrund setzt nach der Rechtsprechung des BSG voraus, dass einerseits ein abstrakter Rechtssatz der angefochtenen Entscheidung und andererseits ein der Entscheidung eines Obergerichts zu entnehmender abstrakter Rechtssatz nicht übereinstimmen. Dabei muss das abweichende Gericht den mit der obergerichtlichen Rechtsprechung nicht übereinstimmenden Rechtssatz seiner Entscheidung zugrunde gelegt, insoweit eine die Entscheidung tragende Rechtsansicht entwickelt und damit der obergerichtlichen Rechtsprechung im Grundsätzlichen widersprochen haben (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Auflage 2020, § 160 Rdnr. 13-14 m. w. Nachw.).

 

Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt. Selbst wenn das Sozialgericht unzutreffend subsumiert haben sollte, läge darin noch keine Abweichung von der höchstrichterlichen Rechtsprechung, da deren Rechtssätze übernommen worden sind.

Eine Verwirkung als Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben (§ 242 Bürgerliches Gesetzbuch) ist auch für das Sozialversicherungsrecht anerkannt. Sie setzt als Unterfall der unzulässigen Rechtsausübung voraus, dass der Berechtigte die Ausübung seines Rechts während eines längeren Zeitraums unterlassen hat und weitere besondere Umstände hinzutreten, die nach den Besonderheiten des Einzelfalls und des in Betracht kommenden Rechtsgebietes das verspätete Geltendmachung des Rechts dem Verpflichteten gegenüber nach Treu und Glauben als illoyal erscheinen lassen. Solche, die Verwirkung auslösenden "besonderen Umstände" liegen vor, wenn der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten (Verwirkungsverhalten) darauf vertrauen durfte, dass dieser das Recht nicht mehr geltend machen werde (Vertrauensgrundlage) und der Verpflichtete tatsächlich darauf vertraut hat, dass das Recht nicht mehr ausgeübt wird (Vertrauenstatbestand) und sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat (Vertrauensverhalten), dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde (vgl. BSG, Urteil vom 21. April 2015 - B 1 KR 7/15 R -. Juris-Rdnr. 17 mit weiteren Nachweisen; LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 24. November 2015 -L 14 AS 3260/14- juris-Rdnr. 37).

Entgegen der Auffassung des Beklagten geht auch das SG davon aus, dass eine Verwirkung regelmäßig nicht nur einen Zeitablauf voraussetzt, sondern darüber hinaus Umstände vorliegen müssen, aufgrund dessen der an sich Verpflichtete vertrauen durfte, der an sich Berechtigte wolle sein Recht nicht mehr ausüben, insbesondere aufgrund der Untätigkeit des Berechtigten. Diese Voraussetzung wird üblicherweise als Umstandsmoment und/oder Vertrauenstatbestand bezeichnet. Soweit der BSG in dem von dem Beklagten angeführten Urteil des BSG vom 8. Oktober 2014 (B 3 KR 7/14 R, juris-Rdnr. 44) die Untätigkeit als eigene Tatbestandsvoraussetzung aufführt, stellt es inhaltlich keine davon abweichende Voraussetzung auf.

Das SG hat hier sowohl das Zeitmoment bejaht als auch ein „langes Schweigen“ des Beklagten als Widerspruchsbehörde konstatiert. Es hat darüber hinaus auch Umstände aus dem Verhalten des Beklagten aufgezählt, aufgrund dessen die Klägerin den Eindruck habe gewinnen dürfen, der Beklagte mache die Erstattungsforderung nicht mehr geltend (vgl. S. 7f des Urteils).

 

Schließlich ist die Berufung auch nicht wegen eines Verfahrensmangels (Zulassungsgrund § 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG) zuzulassen. Ein Verfahrensmangel ist ein Verstoß gegen eine Rechtsvorschrift, die das sozialgerichtliche Verfahren regelt. Der geltend gemachte Mangel muss sich auf das Vorgehen des Gerichts auf dem Weg zum Urteil und nicht auf den sachlichen Inhalt des Urteils beziehen. Der Verfahrensmangel muss wesentlich sein, d. h. das angefochtene Urteil muss auf diesem Mangel beruhen können. Dies ist schon dann der Fall, wenn die Möglichkeit besteht, dass der Verfahrensmangel das Urteil beeinflusst hat, das Gericht also ohne diesen Verfahrensmangel zu einem für den Kläger günstigeren Urteil gekommen wäre. Dabei ist bei der Prüfung, ob ein Verfahrensmangel vorliegt, von der Rechtsauffassung des Gerichts auszugehen, dem der Verfahrensmangel unterstellt wird. Ein solcher möglicherweise erheblicher Verfahrensmangel auf dem Weg zum Urteil liegt hier aber nicht vor. Der Beklagte hat weder solche Gründe geltend gemacht noch sind Anhaltspunkte für deren Vorliegen auch nur im Ansatz ersichtlich.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

 

Dieser Beschluss kann gemäß § 177 SGG nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden. Nach § 145 Abs. 4 Satz 5 SGG wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts mit der Ablehnung der Beschwerde durch das Landessozialgericht rechtskräftig.

 

Rechtskraft
Aus
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