Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Neuruppin vom 22. Mai 2019 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind im gesamten Verfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Beklagte bewilligte dem Kläger mit Bescheid vom 19. August 2015 für die Monate Oktober 2015 bis März 2016 Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch –Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) in Höhe von (iHv) monatlich 535,07 €. Mit Sanktionsbescheid vom 10. November 2015 minderte der Beklagte das Arbeitslosengeld II (Alg II) des Klägers für die Monate Dezember 2015 bis Februar 2016 vorbehaltlich der Kosten der Unterkunft und Heizung (KdU) um 100 %. Die Leistungen für KdU iHv 175,07 € wurden direkt an den Vermieter des Klägers gezahlt. Der Widerspruch des Klägers wurde mit Widerspruchsbescheid vom 25. November 2015 zurückgewiesen. Die hiergegen am 1. Dezember 2015 erhobene Klage, mit der der Kläger begehrte, ihm den vollen Regelbetrag iHv „364,- €“ für die Monate Dezember 2015 bis Februar 2016 zu zahlen, wurde mit Gerichtsbescheid des Sozialgerichts (SG) Neuruppin vom 4. Oktober 2018 - S 13 AS 2768/15 - abgewiesen. Zur Begründung wurde ausgeführt: Die zulässige Anfechtungsklage sei unbegründet. Die zusätzliche Leistungsklage sei unzulässig, da das Klageziel bereits mit der Anfechtungsklage erreicht werden könne. Der Beklagte habe mit Schreiben vom 18. Mai 2017 zugesagt, im Falle des Erfolgs des Klägers die einbehaltenen Leistungen an ihn nachzuzahlen. Im Berufungsverfahren vor dem Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg – L 14 AS 2063/18 – verfolgte der Kläger sein Begehren weiter und beantragte den Beklagten unter Aufhebung des Sanktionsbescheids vom 1. November 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. November 2015 zur Zahlung des jeweiligen Regelbetrags für die Monate Dezember 2015 bis Februar 2016 zu verurteilen. Der Beklagte erkannte mit Schreiben vom 19. Februar 2020 den Klageantrag insoweit an, als die Sanktionierung auf 30 % begrenzt wurde und kündigte eine Nachzahlung unter Anrechnung ausgezahlter Wertgutscheine an. Das Verfahren wurde, nachdem der Kläger dieses Teilanerkenntnis angenommen hatte, unstreitig beendet und dem Kläger mit Beschluss des LSG vom 3. Dezember 2020 ein Erstattungsanspruch betreffend der Hälfte seiner außergerichtlichen Kosten zuerkannt.
Im vorliegenden Verfahren hat der Kläger mit seiner am 16. November 2017 erhobenen Klage vor dem SG Neuruppin zuletzt begehrt, ihm aus dem Bewilligungsbescheid vom 19. August 2015 Beträge iHv jeweils 360,- € für die Monate Dezember 2015 bis Februar 2016 zu zahlen. Das SG hat mit Urteil vom 22. Mai 2019 den Beklagten zur Zahlung eines weiteren Betrags iHv insgesamt 1.080,- € aus dem Bewilligungsbescheid vom 19. August 2015 verurteilt. Zur Begründung ist ausgeführt: Die Klage sei als echte Leistungsklage gemäß § 54 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) trotz der anderweitig erhobenen Klage S 13 AS 2768/15 zulässig. Denn es handele sich nicht um denselben Streitgegenstand. Die Leistungen würden unabhängig davon verlangt, ob die verhängte Sanktion rechtmäßig gewesen wäre oder nicht. Die Anfechtungsklage gegen einen Sanktionsbescheid habe keine unmittelbare Auswirkung auf die bestandskräftige Bewilligungsentscheidung. Der Kläger wäre vielmehr von der Gunst des Beklagten abhängig, danach die bewilligten Leistungen auszuzahlen. Die Leistungsklage sei begründet. Der Zahlungsanspruch des Klägers sei durch den Sanktionsbescheid vom 10. November 2015 nicht untergegangen. Der Sanktionsbescheid sei weder selbstvollziehend noch sei durch ihn der Bewilligungsbescheid vom 19. August 2015 aufgehoben worden. Es bedürfe nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) einer formellen Umsetzung der festgestellten Minderung durch eine förmliche Änderung entgegenstehender Bewilligungsbescheide nach § 48 Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) im Umfang der eingetretenen Minderung (vgl. BSG, Urteile vom 29. April 2015 – B 14 AS 19/14 R – und -B 14 AS 20/14 R -), welche hier weder ausdrücklich noch konkludent erfolgt sei.
Mit seiner Berufung trägt der Beklagte vor: Es liege ein Verstoß gegen den Grundsatz „ne bis in idem“ vor. Im Verfahren S 13 AS 2768/15 sei vom SG Neuruppin mit Gerichtsbescheid vom 4. Oktober 2018 über den Leistungsantrag des Klägers negativ entschieden worden. Die Klage sei unzulässig und im Übrigen unbegründet. Bei einem Sanktionsbescheid handele es sich auch um einen Änderungsbescheid bezüglich der Leistungshöhe. Einem jeden sei hier klar gewesen, dass die ursprüngliche Leistungsbewilligung für die streitbefangenen Monate keinen Bestand mehr gehabt habe.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Neuruppin vom 22. Mai 2019 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verteidigt das angegriffene Urteil.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie die Gerichtsakten dieses Verfahrens sowie die in Kopien auszugsweise vorliegenden Gerichtsakten des Verfahrens S 13 AS 2768/15 (SG Neuruppin) verwiesen. die vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidungsfindung waren.
Die Beteiligten haben sich mit einer schriftlichen Entscheidung durch den Berichterstatter gemäß § 124 Abs. 2, 155 Abs. 3 und 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung des Beklagten ist begründet.
Das SG hat den Beklagten zu Unrecht zur Zahlung eines Betrages iHv 1.080,- € aus dem Bewilligungsbescheid vom 19. August 2015 verurteilt.
Die statthafte Leistungsklage war wegen doppelter Rechtshängigkeit unzulässig. Den Leistungsanspruch aus dem Bewilligungsbescheid vom 19. August 2015 hatte der Kläger bereits ausdrücklich mit der früher erhobenen Klage S 13 AS 2768/15 geltend gemacht (vgl. den im Tatbestand des Gerichtsbescheides vom 4. Oktober 2018 wiedergegebenen Klageantrag) und das SG hatte hierüber auch mit dem die Klage in vollem Umfang abweisenden Gerichtsbescheid vom 4. Oktober 2018 unter Hinweis auf die Unzulässigkeit der Leistungsklage entschieden. Dies verkennt das SG im hier angegriffenen Urteil, wenn es davon ausgeht, im Verfahren S 13 AS 2768/15 sei nur um die Rechtmäßigkeit des Sanktionsbescheides gestritten worden. Das SG hatte in jenem Verfahren lediglich in Abrede gestellt, dass dieses Leistungsbegehren mit der Leistungsklage zulässig verfolgt werden konnte. Dieses Leistungsbegehren hat der Kläger auch im anschließenden Berufungsverfahren zunächst aufrechterhalten. Nach der zwischenzeitlich erfolgten Beendigung des Berufungsverfahrens L 14 2063/18 ist die Leistungsklage weiterhin unzulässig, soweit dieses Verfahren durch das angenommene Teilanerkenntnis des Beklagten seine Erledigung gefunden hat, denn insoweit fehlt es jedenfalls an einem Rechtschutzbedürfnis für die Leistungsklage.
Es kann offenbleiben, ob Klage nach Beendigung des Verfahrens L 14 AS 2063 nunmehr zulässig ist, soweit die Zahlung weiterer Beträge über die vom Beklagten mit dem Teilanerkenntnis zugestandenen hinaus begehrt wird. Denn insoweit ist die Klage jedenfalls unbegründet. Einer weiteren Zahlung steht zumindest derzeit der insoweit bestandskräftig gewordene, durch das Teilanerkenntnis des Beklagten modifizierte Sanktionsbescheid vom 10. November 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. November 2015 entgegen. Unter Berücksichtigung der vom SG angeführten Rechtsprechung des BSG ist zwar davon auszugehen, dass der Zahlungsanspruch des Klägers aus dem Bewilligungsbescheid vom 19. August 2015 durch den Sanktionsbescheid nicht untergegangen ist, weil jeder Sanktionsbescheid einer – hier nicht erfolgten - Umsetzung bedarf. Der Geltendmachung dieses Zahlungsanspruchs steht aber zumindest derzeit der rechtshemmende Einwand der unzulässigen Rechtsausübung entgegen. Es handelt sich um einen Rechtsgrundsatz, der in der vom Grundgesetz (GG) konstituierten Rechtsordnung alle positiven Rechtsnormen des Bundes oder der Länder und alle unterstaatlichen Rechtsnormen und deren Inhalt als Wirksamkeits-, Auslegungs-, Anwendungs- oder Durchsetzbarkeitsvoraussetzung mitbestimmt, soweit diese Normen oder ihre konkrete Anwendung übermäßig von ihm abweichen. In diesem Sinne ist der Grundsatz von Treu und Glauben eine allen subjektiven Rechten, Rechtsverhältnissen, Rechtslagen und Rechtsnormen immanente Inhaltsbegrenzung). Er wird anwendbar, wenn zwischen zwei Rechtssubjekten eine rechtliche Sonderverbindung besteht, soweit diese nach Inhalt und Dauer - auch bei entgegengesetzter Interessenlage - auf ein Zusammenwirken angelegt ist, das den Rechtszweck der Sonderverbindung nur erreichen kann, wenn das jeweils erforderliche Mindestmaß an Rücksichtnahme auf die Interessen des anderen nicht außer Acht gelassen wird (vgl. BSG, Urteil vom 7. September 2006 – B 4 RA 43/05 = SozR 4-2600 § 118 Nr. 4 Rn. 67). Zwischen dem Kläger und dem beklagten SGB II-Leistungsträger bestand eine solche rechtliche Sonderverbindung, weil der Beklagte berechtigt und verpflichtet war, eine Leistungsminderung iHv 30 % der Regelleistung festzusetzen und ein Zahlungsanspruch des Klägers allein darauf beruhen kann, dass der Beklagte die Minderung des Alg II nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 iVm §§ 31a Abs. 2 Satz1, 31 b SGB II nicht im Wege einer teilweise Aufhebung des Bewilligungsbescheides vom 19. August 2017 umgesetzt hat. Sind – wie vom BSG mit Urteil vom 29. April 2015 – B 14 AS 19/14 R -, juris Rn. 20 ausgeführt – einerseits die Feststellung der Obliegenheitsverletzung und die Änderung der Leistungsbewilligung materiell so aufeinander bezogen, dass die rechtzeitige Anfechtung des Minderungsbescheides ein Aufhebungsbegehren im Hinblick auf den Umsetzungsverwaltungsakt einschließt, um einer effektiven Rechtsschutzgewährung im Lichte des Art 19 Abs. 4 GG Rechnung zu tragen, muss dies andererseits auch dazu führen, dass nur im Falle der erfolgreichen Anfechtung des Minderungsbescheid bzw. sonstiger Erledigung des Minderungsbescheides das Leistungsbegehren durchgesetzt werden kann. Sofern und solange es der Betroffene - wie hier –unterlässt, seinen Anspruch auf (vollständige) Aufhebung des Sanktionsbescheides (weiter) durchzusetzen, kann es auch kein schutzwürdiges Interesse seinerseits an der (vollständigen) Auszahlung der bewilligten Leistung geben. Dies entspricht auch der Rechtsprechung des BSG zum Leistungsrecht im Bereich der Arbeitslosenversicherung (vgl. BSG, Urteil vom 21. März 2002 – B 7 AL 44/01 R – juris Rn. 24), die davon ausgeht, dass zwar im Verfahren um eine Sperrzeit uU die Rechtmäßigkeit eines vorangegangenen (ersten) Sperrzeitbescheid auf der Grundlage eines (inzident abgelehnten) Überprüfungsantrags zu prüfen ist, damit aber zugleich klarstellt, dass ohne ein solches zur Kassation des ersten Sperrzeitbescheids führendes Verfahren nach § 44 Abs. 1 SGB X ein bestandskräftig gewordener erster Sperrzeitbescheid eine Verurteilung zur Leistung hindern würde. Solange keine Verpflichtung zur Aufhebung des (geänderten) Sanktionsbescheides besteht, mit dem eine 30 % Leistungsminderung für die streitbefangene Zeit bestandskräftig festgestellt worden ist, kann der Beklagte daher die Auszahlung weiterer Leistungen aus dem Bewilligungsbescheid vom 19. August 2017 verweigern.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG
Gründe für eine Zulassung der Revision nach § 160 Absatz 2 Nrn. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.