L 14 AS 1948/18 NZB

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
14
1. Instanz
SG Cottbus (BRB)
Aktenzeichen
S 29 AS 1765/17 WA
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 14 AS 1948/18 NZB
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze

Es besteht kein grundsätzlicher Nachrang der Betreibensaufforderung gegenüber anderen Maßnahmen des Gerichts, etwa einer Fristsetzung nach § 106a SGG.

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Berufung im Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 5. September 2018 wird zurückgewiesen.

Kosten des Beschwerdeverfahrens haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.

 

Gründe

I .

 

Der im Bezug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch, Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) stehende Kläger erhob mit Eingang bei Gericht am 12. November 2012 Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 4. Juni 2012 in der Fassung von Änderungsbescheiden und in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Oktober 2012 und führte zur Begründung aus, dass Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe und die Erstattung der Kosten des Vorverfahrens begehrt würden. Auf Nachfragen des Gerichts, womit die Klage begründet werde, und eine sog. Betreibensaufforderung nach § 102 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hin wurde für den Kläger erstmals mit Schriftsatz vom 24. Oktober 2014 ausgeführt, dass insbesondere die durch die Heizanlage verursachten Kosten für Strom nicht in Ansatz gebracht worden seien, ohne Strom sei jedoch ein Betrieb der Wärmepumpe und somit ein Heizen unmöglich. Mit Schreiben vom 12. April 2016, dem Kläger-Bevollmächtigten zugegangen am 14. April 2016, teilte das Gericht daraufhin mit, dass für den geltend gemachten Bedarf für Heizstrom weitergehende Ermittlungen erforderlich seien. Das Gericht folge derzeit nicht der in Teilen der Rechtsprechung vertretenen Auffassung, wonach der Heizstrom mit 5 % der Brennstoffkosten anzusetzen sei. Es bedürfe deshalb wohl einer Schätzung der Stromkosten unter Berücksichtigung der konkreten Heizungsanlage. Es werde um Übersendung einer Kopie der Bedienungsanleitung der im streitigen Zeitraum Mai bis Oktober 2012 verwendeten Heizungsanlage und der hierbei eingesetzten Heizungspumpen sowie um Vorlage einer Abrechnung über die Stromkosten für das Jahr 2012 gebeten. Nach einer erfolglos gebliebenen Erinnerung forderte das Gericht mit Schreiben vom 29. August 2016, dem Bevollmächtigten des Klägers zugegangen am 30. August 2016, zur Erledigung der Verfügung vom 12. April 2016 auf. Es werde darauf hingewiesen, dass nach § 102 Abs. 2 SGG die Klage als zurückgenommen gelte, wenn die Klägerseite das Verfahren trotz der Aufforderung länger als drei Monate nicht betreibe. Diese Klagerücknahmefiktion erledige den Rechtsstreit in der Hauptsache. Erst mit Schriftsatz vom 3. August 2017 wurden in der Folgezeit die angeforderten Unterlagen übermittelt.

 

Mit Urteil vom 5. September 2018 hat das Sozialgericht Cottbus festgestellt, dass der Rechtsstreit in der Hauptsache durch Rücknahme der Klage erledigt ist und die Berufung nicht zugelassen.

 

Gegen dieses Urteil, das der Kanzlei des Klägerbevollmächtigten am 17. September 2018 zugestellt, von diesem jedoch erst am 23. Oktober 2018 zur Kenntnis genommen wurde, wendet sich der Kläger mit der am selben Tag eingegangenen Nichtzulassungsbeschwerde.

 

II.

 

Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung in dem Urteil des Sozialgerichts vom 5. September 2018 ist nicht begründet.

 

Gemäß § 144 Abs. 1 SGG bedarf die Berufung der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluss des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes, also dessen, was mit der Berufung weiterverfolgt wird, bei einer Geld- oder Sachleistung oder einem entsprechenden Verwaltungsakt 750 € nicht übersteigt und es sich nicht um wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr handelt. Das angefochtene Urteil des Sozialgerichts ist nicht bereits grundsätzlich berufungsfähig. Ein bezifferter Antrag war nicht gestellt worden. Bei einem unbezifferten Antrag muss das Gericht den Wert ermitteln (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 144 Rd. 15b m.w.N.) bzw. diesen anhand des wirtschaftlichen Interesses des Klägers am Ausgang des Rechtsstreits schätzen (§ 202 SGG i.V.m. § 3 Zivilprozessordnung). Vorliegend ist die Berufungssumme ersichtlich nicht erreicht, wie im Beschluss des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 9. März 2018 zum Aktenzeichen L 32 AS 88/18 B PKH dargestellt, den Ausführungen in dem Beschluss schließt sich der Senat an. Auch ist nicht auf den fortdauernden Leistungsbezug abzustellen, da es vorliegend lediglich um den Zeitraum von Mai bis Oktober 2012 geht und sich anschließende Zeiträume nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens sind. Wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr sind damit auch nicht Gegenstand des Verfahrens.

 

Die Berufung war nicht zuzulassen. Nach § 144 Abs. 2 SGG ist die Berufung zuzulassen, wenn
 

  1. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Abs. 2 Nr. 1),
     
  2. das Urteil von einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht (Abs. 2 Nr. 2)
     
  3. oder ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die Entscheidung beruhen kann (Abs. 2 Nr. 3).

 

Die Voraussetzungen des § 144 Abs. 2 Nrn. 1 bis 3 SGG für eine Zulassung der Berufung liegen nicht vor. Eine grundsätzliche Bedeutung des Rechtsstreits ist nicht geltend gemacht worden und auch sonst nicht ersichtlich. Auch eine Divergenz im Sinne von § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG ist nicht gegeben. Der Kläger trägt zwar vor, dass sich das Gericht über die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 3. Dezember 2015 zum Az. B 4 AS 47/14 RA (Rechtsprechung hier und im Folgenden zitiert nach juris) hinweg gesetzt habe. Divergenz im genannten Sinne liegt jedoch nur vor, wenn das Sozialgericht einen abstrakten Rechtssatz aufgestellt hat, mit dem es von einem durch ein übergeordnetes Gericht in seiner Entscheidung aufgestellten tragenden abstrakten Rechtssatz abweicht, und die Entscheidung des Sozialgerichts auf dieser Abweichung beruht (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, Kommentar, 13.  Auflage 2020, § 144 Rn. 30 unter Hinweis auf § 160 Rn. 10  ff.). Eine Abweichung liegt folglich nicht schon dann vor, wenn die Entscheidung nicht den Kriterien entspricht, die das BSG aufgestellt hat, sondern erst, wenn das Gericht diesen Kriterien widersprochen, also eigene rechtliche Maßstäbe entwickelt hat. Nicht die Unrichtigkeit der Entscheidung im Einzelfall, sondern die Nichtübereinstimmung im Grundsätzlichen begründet die Zulassung wegen Abweichung. Das Sozialgericht hat vorliegend im Urteil vom 5. September 2018 ersichtlich keinen Rechtssatz aufgestellt, mit dem es grundsätzlich von den Ausführungen des BSG in der genannten Entscheidung oder in einer anderen Entscheidung oder von einem Rechtssatz eines der in § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG genannten Obergerichte abgewichen wäre. Auf die Berechnung von Stromkosten zum Betrieb einer Heizungsanlage ist das Gericht in dem Urteil gar nicht mehr eingegangen, ein Rechtssatz wurde nicht aufgestellt.

 

Auch ein Verfahrensmangel liegt nicht vor. Ein Verfahrensmangel ist ein Verstoß gegen eine Vorschrift, die das sozialgerichtliche Verfahren regelt; der Mangel bezieht sich nicht auf den sachlichen Inhalt des Urteils, es geht nicht um die Richtigkeit der Entscheidung, sondern um das prozessuale Vorgehen des Gerichts auf dem Weg zum Urteil. Ein Verfahrensmangel liegt hingegen nicht vor, wenn u. a. die Anwendung des materiellen Rechts oder die Beweiswürdigung fehlerhaft ist, da solche Fehler nicht dem äußeren Verfahrensgang, sondern dem  materiellen Recht zuzurechnen sind. Bei der Beurteilung, ob dem Gericht ein die Zulassung der Berufung rechtfertigender Verfahrensmangel unterlaufen ist, muss von der Rechtsauffassung des Sozialgerichts zum materiellen Recht ausgegangen werden (BSG, Urteil vom 4. April 2017, Az. B 4 AS 2/16 R, Rn. 29, m.w.N., BSG, Beschluss vom 28. Februar 2007, Az. B 3 KR 38/06 B zum insoweit gleichlautenden § 160 Abs. 2 Nr. 3 SGG jeweils juris, Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, 13. Auflage 2020, § 144 Rn. 32a, 35 und § 160 Rn. 16b, m.w.N.). Der Verfahrensmangel muss ferner tatsächlich vorliegen und die Entscheidung muss auf ihm beruhen können. Der Verfahrensmangel ist nur beachtlich, wenn er vom Beschwerdeführer gerügt wird, wobei es genügt, dass Tatsachen substantiiert vorgetragen werden, aus denen sich schlüssig der Mangel des Verfahrens ergibt (so insgesamt Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, 13. Auflage 2020, § 144 Rdnr. 31 ff., m.w.N., und z.B. Bayerisches LSG, Beschluss vom 11.  September 2014, L 10 AL 169/14 NZB, LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 17. Februar 2014, L 12 AS 1208/13 NZB, jeweils zitiert nach juris und m.w.N.).

 

Der Kläger rügt, dass die Betreibensaufforderung vom 29. August 2016 unwirksam sei, weil sich das Gericht damit über das Urteil des BSG zum Az. B 4 AS 47/14 RA hinweggesetzt habe, die Anforderung irgendwelcher weiteren Nachweise sei von vornherein nicht erforderlich gewesen. Das Gericht habe eine Begründung für seine Rechtsauffassung nicht geliefert. Auch sei § 106a SGG für die Anforderung von Tatsachenvortrag und Beweismitteln die vorrangige Regelung, sodass der Erlass einer Betreibensaufforderung deshalb unverhältnismäßig sein dürfte.

 

Ein beachtlicher Verfahrensmangel ist dadurch nicht gerügt worden. Die Aufforderung des Sozialgerichts an einen Beteiligten, Mitwirkungshandlungen vorzunehmen, ist rechtlich möglich und zulässig. Es gehört zu den Aufgaben des Gerichts, den Rechtsstreit bis zur Entscheidungsreife zu fördern, dabei unklare Anträge auszuräumen, auf die Stellung sachlicher Anträge hinzuwirken und die wesentlichen Einwendungen des Klägers zu klären (§ 106 Abs. 1 und 2 SGG). Allerdings genügt für den Eintritt der Wirkungen einer Betreibensaufforderung nicht jegliche Verletzung der Mitwirkungsobliegenheit; vielmehr ist nur das Unterlassen solcher prozessualen Handlungen oder Äußerungen beachtlich, die z.B. für die Feststellung von Tatsachen bedeutsam sind, die das Gericht nach seiner Rechtsansicht für entscheidungserheblich und deren Klärung es für notwendig hält (BSG, Urteil vom 4. April 2017 - B 4 AS 2/16 R, juris Rd. 29, m.w.N.). Ausgehend von der – wie dargestellt: insoweit allein maßgebenden - Rechtsauffassung des Gerichts kam es auf die mit der Betreibensaufforderung angeforderten Unterlagen an. Es kann dahingestellt bleiben, ob die Betreibensaufforderung überhaupt jeweils mit einer Rechtsauffassung des Gericht begründet werden muss, denn vorliegend hat das Gericht seine Rechtsauffassung im Richterbrief vom 12. April 2016 durchaus dargelegt. Lediglich ergänzend sei darauf hingewiesen, dass auch nach der seitens des Klägers zitierten Entscheidung des BSG vom 3. Dezember 2015 (Az. B 4 AS 47/14 RA) eine Schätzung des Stromverbrauchs der Heizungsanlage zulässig ist, wofür ebenfalls die angeforderten Unterlagen benötigt worden wären. Die Betreibensaufforderung war entgegen der Auffassung der Klägerseite auch nicht etwa deshalb rechtswidrig, weil auch ein Vorgehen nach § 106a SGG in Betracht gekommen wäre. Ob eine Betreibensaufforderung erfolgt, steht im Ermessen des Gerichts, wobei zwar die Ermessenserwägungen - anders als bei Ausübung materiellen Ermessens in Verwaltungsakten - ebenso wie behördliches Verfahrensermessen nicht in der Betreibensaufforderung dokumentiert sein müssen, im Gegenzug aber bei späterer Überprüfung im Instanzenzug, ob die Klagerücknahmefiktion eingetreten ist, die Ermessensentscheidung voll überprüfbar bleibt (Burkiczak in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl., § 102 SGG (Stand: 14.10.2020), Rn. 72, m.w.N.). Das Ausbleiben einer Reaktion auf eine Aufforderung, bestimmte Unterlagen vorzulegen, ist dabei als Beispiel für eine Konstellation, die eine Betreibensaufforderung unter Berücksichtigung der Umstände des jeweiligen Einzelfalles rechtfertigen können, anerkannt (Sächsisches Landessozialgericht, Urteil vom 14. Januar 2016, Az. L 3 AS 976/14, juris Rn. 20, Burkiczak in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl., § 102 SGG (Stand: 14.10.2020), Rn. 62, m.w.N.). Angesichts des Umstandes, dass die vorliegende Klage bereits am 12. November 2012 erhoben und bis zur Betreibensaufforderung vom 29. August 2016 trotz wiederholter Aufforderungen des Gerichts über drei ¾ Jahre nicht ansatzweise bis zur Entscheidungsreife - für die wiederum auf die Rechtsauffassung des Gerichts abzustellen ist, die dem Kläger bekannt gegeben worden war, und nicht auf seine eigene Rechtsauffassung -  betrieben worden war, bestanden auch ausreichende Anhaltspunkte für den Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses seitens des Klägers, jedoch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Wahl der Betreibensaufforderung durch das Gericht ermessenswidrig gewesen wäre. Entgegen der Ansicht des Klägers besteht auch kein grundsätzlicher Nachrang der Betreibensaufforderung gegenüber anderen Maßnahmen des Gerichts, etwa einer Fristsetzung nach § 106a SGG (Burkiczak in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl., § 102 SGG (Stand: 14.10.2020), Rn. 67, a.A. Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom  17. April 2013, Az. L 5 KR 605/12). Ein derartiger grundsätzlicher Nachrang ist weder dem Wortlaut des Gesetzes noch dem Gesetzeszweck des § 102 Abs. 2 SGG zu entnehmen. Dem für die Begründung der anderslautenden Auffassung herangezogenen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wird ausreichend dadurch genügt, dass die von der Rechtsprechung aufgestellten Voraussetzungen für die Zulässigkeit der Betreibensaufforderung wie z.B. das Bestehen sachlich begründeter Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses bei einer Gesamtwürdigung von Betreibensaufforderung und Verhalten des Klägers (hierzu insgesamt Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, 13.  Auflage 2020, SGG, § 102 Rn. 8a ff., m.w.N.) im Einzelfall zu prüfen sind.

 

Dahingestellt bleiben kann nach allem, ob die am 23. Oktober 2018 eingegangene Nichtzulassungsbeschwerde überhaupt fristgemäß erhoben wurde, nachdem ein Mitarbeiter des Kläger-Bevollmächtigten den Empfang des Urteils bereits unter dem 17. September 2018 bestätigt hatte.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

 

Gegen diesen Beschluss ist keine Beschwerde an das Bundessozialgericht statthaft (§ 177 SGG).

 

Das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 5. September 2018 ist damit rechtskräftig.

Rechtskraft
Aus
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