Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 26.08.2020 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darum, ob der Kläger die Voraussetzungen des Merkzeichens G (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) im noch allein streitigen Zeitraum ab Antragstellung (06.06.2013) bis 11.12.2019 erfüllt.
Der Prozessbevollmächtigte des 1952 geborenen Klägers beantragte am 06.06.2013 zusätzlich zu einem bereits laufenden Verfahren zur Feststellung des GdB die Feststellung des Merkzeichens G, weil es bislang nicht beantragt worden sei.
In Ausführung eines gerichtlichen Vergleichs vom 28.10.2015 im Berufungsverfahren L 8 SB 1795/14 (streitig war die Höhe des GdB) stellte der Beklagte mit Ausführungsbescheid vom 24.11.2015 einen GdB von 80 ab dem 22.07.2015 fest. Der Bewertung zu Grunde gelegt wurden die Funktionsbeeinträchtigungen „Funktionsbehinderung beider Hüftgelenke, Hüftgelenksendoprothese rechts, Funktionsstörung durch beidseitige Fußfehlform, Gebrauchseinschränkung beider Füße (Morbus Ledderhose); Schlafapnoe-Syndrom, chronische Bronchitis, Lungenblähung; degenerative Veränderung der Wirbelsäule, Bandscheibenschaden, Spinalkanalstenose; Bluthochdruck; Funktionsbehinderung des rechten Schultergelenks, Arthrose, operiert, Funktionsbehinderung beider Ellenbogengelenke, Funktionsstörung des linken Daumens; arterielle Verschlusskrankheit beider Beine, operierte arterielle Verschlusskrankheit“.
Mit Bescheid vom 19.12.2016 lehnte der Beklagte den Antrag auf Feststellung des Merkzeichens G ab. Zur Begründung führte er aus, nach dem Ergebnis der versorgungsärztlichen Überprüfung würden sich die beim Kläger vorliegenden Funktionsstörungen im Bereich der unteren Gliedmaßen nicht in dem Maße auf die Gehfähigkeit auswirken, als dass hierdurch eine Einschränkung des Gehvermögens in dem geforderten Ausmaß eingetreten sei.
Hiergegen legte der Prozessbevollmächtigte des Klägers am 23.01.2017 Widerspruch ein und verwies auf das durch eine beidseitige diabetische Polyneuropathie (PNP) und durch eine COPD beeinträchtigte Gehvermögen des Klägers.
Der Facharzt für Neurologie Dr. W teilte im Arztbrief vom 07.02.2017 mit, beim Kläger bestehe eine leichte, sensible PNP bei Diabetes mellitus ohne Progredienz, vorbestehendes leichtes sensibles Wurzel S1-Syndrom links und Adipositas permagna. Festzustellen sei ein unauffälliges Gangbild.
Der Arzt für Innere Medizin und Pneumologie Dr. R führte im Arztbrief vom 28.02.2017 sowie im Befundbericht vom 21.03.2017 aus, dass beim Kläger eine chronisch obstruktive Lungenerkrankung, ein obstruktives Schlafapnoesyndrom, eine arterielle Hypertonie, eine periphere arterielle Verschlusskrankheit, ein Diabetes mellitus und eine Skoliose zu diagnostizieren seien. Die pneumologischen Befunde hätten sich nicht verschlechtert. Unverändert bestehe eine mäßige obstruktive Ventilationsstörung mit leichter Restriktion. Die Gehstrecke sei durch die Atemnot und durch Schmerzen und Beschwerden in den Füßen bei Morbus Ledderhose [gutartige Wucherung von Bindegewebe an der Fußsohle] eingeschränkt. Eine genaue Gehstrecke könne er nicht angeben.
Der Hausarzt Dr. K gab im Befundbericht vom 20.03.2017 an, beim Kläger seien ein Diabetes mellitus Typ 2, eine diabetische Polyneuropathie, eine androide Adipositas Grad II bis III, eine arterielle Hypertonie, eine Hypercholesterinämie, eine periphere arterielle Verschlusskrankheit beidseitig, eine Karotissklerose beidseitig, ein obstruktives Schlafapnoesyndrom und eine COPD zu diagnostizieren. Die beginnende diabetische Nervenstörung habe einen Einfluss auf die Gangsicherheit. Es bestünde ein erhöhtes Risiko für Druckstellen und Geschwüre, so dass eine adäquate Schuhversorgung und Fußpflege angebracht sei.
In der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 06.04.2017 führte Dr. M aus, dass nach den in den Arztberichten mitgeteilten aktuellen Befunden beim Kläger eine beginnende, leichte Polyneuropathie bestehe. Diese sei nunmehr in den Tenor für die unteren Extremitäten aufgenommen. Von Seiten der Lunge sei keine Verschlechterung eingetreten. Die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Vorliegen des Merkzeichens G sah Dr. M als nicht erfüllt an. Die beim Kläger vorliegenden Beeinträchtigungen bewertete er wie folgt:
- Funktionsbehinderung beider Hüftgelenke, Hüftgelenksendoprothese rechts, Funktionsstörung durch beidseitige Fußfehlform, Gebrauchseinschränkung beider Füße (Morbus Ledderhose), Polyneuropathie: GdB 40,
- Schlafapnoe-Syndrom, chronische Bronchitis, Lungenblähung: GdB 30,
- degenerative Veränderung der Wirbelsäule, Bandscheibenschaden, Spinalkanalstenose: GdB 30,
- Bluthochdruck: GdB 20,
- Funktionsbehinderung des rechten Schultergelenks, Arthrose, operiert, Funktionsbehinderung beider Ellenbogengelenke, Funktionsstörung des linken Daumens: GdB 20,
- arterielle Verschlusskrankheit beider Beine, operierte arterielle Verschlusskrankheit: GdB 10.
Insgesamt betrage der Gesamt-GdB weiterhin 80 seit dem 06.06.2013.
Mit Widerspruchsbescheid vom 18.04.2017 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt, unter Berücksichtigung der im Widerspruchsverfahren eingeholten Befundauskünfte von Dr. R und Dr. K lägen die Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens G weiterhin nicht vor. Denn die sich auf die Gehfähigkeit auswirkenden Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bedingten für sich allein keinen GdB von wenigstens 50. Eine andere Entscheidung lasse sich auch unter Berücksichtigung der beim Kläger vorliegenden inneren Leiden nicht begründen, da das Ausmaß dieser Funktionsbeeinträchtigungen sich nicht zusätzlich entscheidend auf das Gehvermögen auswirke. Streitunabhängig würden die Funktionsbeeinträchtigungen der unteren Gliedmaßen um den Zusatz „Polyneuropathie“ ergänzt. Eine Auswirkung auf die Höhe des GdB ergebe sich dadurch nicht.
Am 19.05.2017 hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers Klage beim Sozialgericht Freiburg (SG) mit dem Ziel der Zuerkennung des Merkzeichens G erhoben und ausgeführt, aufgrund der Funktionsbeeinträchtigungen auf orthopädischem Fachgebiet lägen beim Kläger die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens G mindestens seit Antragstellung vor.
Das SG hat die behandelnden Ärzte des Klägers als sachverständige Zeugen befragt.
Der Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie Dr. F hat am 05.04.2019 erklärt, beim Kläger bestünden eine fortgeschrittene Coxarthrose links sowie eine fortgeschrittene lateral betonte Gonarthrose rechts. Der Kläger könne eine Wegstrecke von 500 bis 1000m ohne erhebliche Schwierigkeiten zu Fuß bewältigen. Der Gebrauch eines Gehstocks sei dem Kläger aufgrund einer degenerativen Rotatorenmanschettenruptur bei geringer Arthrose der rechten Schulter kaum möglich.
Der Arzt für Innere Medizin Kardiologie und Angiologie Dr. T hat am 10.04.2019 bekundet, auf die Gehstrecke wirke sich beim Kläger von kardialer Seite her das deutliche Übergewicht von 124 kg aus. Er glaube nicht, dass der Kläger problemlos 2 km gehen könne. Eine Abschätzung der Belastbarkeit sei sehr schwierig.
Dr. R hat am 11.04.2019 berichtet, den Kläger seit 1999 pneumologisch und schlafmedizinisch in größeren Abständen zu behandeln. Seine Schlafapnoe werde problemlos mit einer Maskentherapie behandelt und wirke sich nicht wesentlich auf die Gehfähigkeit aus. Die Atemwegserkrankungen schränke die Leistungsfähigkeit in gewissem Ausmaß ein. Zum Zeitpunkt der letzten Untersuchung am 19.04.2018 habe der Kläger aus pneumologischer Sicht eine Gehstrecke von 2 km in etwa einer halben Stunde zurücklegen und am Vortag bei der Ergometrie 150 Watt leisten können.
Die Fachärztin für innere Medizin Dr. W1 hat mit einem undatierten, am 17.04.2019 beim SG eingegangenen Schreiben ausgesagt, der Kläger sei bisher erst einmal vorstellig geworden. Deshalb könnten weitere Angaben nicht gemacht werden.
Dr. W hat am 13.04.2019 ausgeführt, den Kläger zuletzt am 06.04.2017 untersucht zu haben. Zu diesem Zeitpunkt habe eine leichte, diabetische Polyneuropathie auf neurologischem Fachgebiet bestanden. Die Gehstrecke sei auf neurologischem Fachgebiet nicht eingeschränkt gewesen.
Der Chefarzt der Klinik für Kardiologie und Angiologie II des Universität Herzzentrums K Prof. Dr. Z hat am 01.07.2019 mitgeteilt, dass beim Kläger diabetische Polyneuropathie beidseits eventuell, Knie-Operation beidseits 2016, Bandscheibenvorfall, Coxarthrose links, Hüft-Totalendoprothese rechts, gelockert und Morbus Lederhose linke Fußsohle zu diagnostizieren seien. Aufgrund der arteriellen Verschlusskrankheit bestehe keine Einschränkung der Gehstrecke. Im Übrigen würden die aufgeführten Diagnosen das Zurücklegen einer Wegstrecke von 2 km in etwa einer halben Stunde unmöglich erscheinen lassen. Diesbezüglich müsse jedoch der Facharzt für Orthopädie die entsprechende Einschätzung vornehmen.
Das SG hat von Amts wegen ein Gutachten beim Facharzt für Chirurgie, Orthopädie und Unfallchirurgie Dr. S eingeholt. Dieser hat am 12.12.2019 nach einer ambulanten Untersuchung des Klägers vom gleichen Tag den GdB der sich jeweils auf die Gehfähigkeit auswirkenden Funktionsstörungen mit 30 eingeschätzt. Dieser setze sich zusammen aus einem GdB 20 für Partialsteife gering bis mittelgradig Hüftgelenk rechts bei einliegendem, im Schaftbereich gelockerter Endo-prothese, einem GdB 20 für fortgeschrittene symptomatische Hüftgelenksarthrose links mit Partialsteife und je einem GdB 10 für Morbus Lederhose links und für die fortgeschrittene symptomatische Kniegelenksarthrose rechts mit Teilsteife. Für Morbus Lederhose rechts sei kein GdB anzusetzen. Der Kläger könne noch 1 bis 1,5 km ohne erhebliche Schwierigkeiten bewältigen. Das Gangbild habe sich aktuell nicht unauffällig gezeigt.
Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat einen Entlassbericht der T-Klinik K vom 28.02.2020 nach dortiger ambulanter Behandlung vom 27.01.2020 bis 14.02.2020 vorgelegt (Anschlussrehabilitation nach Implantation einer Hüft-TEP links 17.01.2020). Beim Kläger bestehe ein leicht hinkendes Gangbild an zwei Unterarmgehstützen bei primär erlaubter Vollbelastung. Der Kläger könne eine ortsübliche Gehstrecken nicht in angemessener Zeit zurücklegen. Schon die innerhäusigen Gehstrecken bis ca. 500 m seien für den Kläger eine Herausforderung gewesen.
Der Beklagte hat am 30.04.2020 ein Vergleichsangebot bezüglich der Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens G ab 12.12.2019 auf der Grundlage einer versorgungsmedizinischen Stellungnahme von Dr. B vom 15.03.2020 abgegeben. Dieses hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers nicht angenommen.
Mit Gerichtsbescheid vom 26.08.2020 hat das SG den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 19.12.2016 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 18.04.2017 verurteilt, beim Kläger die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens G ab dem 12.12.2019 festzustellen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, nachvollziehbar und in sich schlüssig habe Dr. S in seinem Gutachten ausgeführt, dass der fortgeschrittene Gelenksverschleiß des linken Hüftgelenks und des rechten Kniegelenks mit Bewegungseinschränkungen, sowie das Funktionsdefizit durch die festgestellte Lockerung der im rechten Hüftgelenk einliegenden Endoprothese es derzeit nicht möglich erscheinen lasse, dass der Kläger eine Gehstrecke von 2 km zu Fuß innerhalb von einer halben Stunde zurücklegen kann. Diese Einschätzung habe auch Dr. B in seiner versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 15.03.2020 geteilt. Soweit der Kläger eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit bereits ab dem 06.06.2013 behaupte, fänden sich weder in den Verwaltungs- noch in den Gerichtsakten Befunde, die zur Überzeugung des Gerichts zur Feststellung des Merkzeichens G ab diesem Zeitpunkt ausreichten.
Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat gegen den ihm am 08.09.2020 zugestellten Gerichtsbescheid am 29.09.2020 Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt. Zur Begründung hat er ausgeführt, Beweismittel und Unterlagen lägen alle vor. Wie ein roter Faden ziehe sich die Bestätigung aller behandelnden und begutachtenden Ärzte durch die Akte, dass eine entsprechende Gehbeeinträchtigung bestehe. Seit 2010 sei dokumentiert, dass eine Gehbehinderung im merkzeichenberechtigendem Umfang vorliege. Weitere Ermittlungen von Amts wegen ergäben daher keinen Sinn. Bei der Zuerkennung des Merkzeichens G für rückwirkende Zeiten bis 10 Jahre könne rückwirkend die Kfz-Steuerzahlung korrigiert werden. Der Kläger sei aus multiplen Gründen gehbehindert.
Der Prozessbevollmächtigte des Klägers beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichtes Freiburg vom 26.08.2020 und den Bescheid vom 19.12.2016 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 18.04.2017 dahingehend abzuändern, dass der Beklagte dazu verurteilt wird, das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr — Merkzeichen G — bereits ab dem 06.06.2013 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Beklagte erachtet die angefochtene Entscheidung für zutreffend und weist darauf hin, es dürfte fraglich sein, ob der Kläger von einer noch früheren Zuerkennung des Merkzeichens G vor dem zuerkannten Zeitpunkt wirtschaftliche Vorteile habe.
Der Berichterstatter hat mit den Beteiligten den Rechtsstreit am 08.06.2021 nicht-öffentlich erörtert.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte dieses Verfahrens sowie des erstinstanzlichen Verfahrens und auf den Inhalt der Verwaltungsakten des Beklagten sowie auf die beigezogenen Akten aus vorangegangenen Verfahren (L 8 SB 5658/10 und L 6 SB 5658/10) Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Der Senat entscheidet im Einverständnis der Beteiligten nach § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung.
Die nach § 151 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist gemäß §§ 143, 144 SGG auch im Übrigen zulässig, jedoch nicht begründet. Der Gerichtsbescheid vom 26.08.2020 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung des Merkzeichens G bereits ab dem 06.06.2013.
Dieses Merkzeichen ist nach § 3 Abs. 1 Nr. 7 der Schwerbehindertenausweisverordnung einzutragen, wenn der schwerbehinderte Mensch in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt im Sinne des § 229 Absatz 1 Satz 1 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch oder entsprechender Vorschriften ist. Der Kläger ist nach der bestandskräftigen Feststellung des Beklagten in dem Bescheid vom 24.11.2015 bei einem GdB von 80 schwerbehindert (§ 2 Abs. 2 SGB IX).
Im Hinblick auf die den vorliegend zu beurteilenden Zeitraum betreffenden unterschiedlichen Gesetzesfassungen sind diese – da Übergangsregelungen fehlen – nach dem Grundsatz anzuwenden, dass die Entstehung und der Fortbestand des sozialrechtlichen Anspruchs auf Leistungen nach dem Recht zu beurteilen ist, welches zur Zeit der anspruchsbegründenden Ereignisse oder Umstände jeweils gegolten hat (BSG, Urteil vom 16.12.2014 – B 9 SB 2/13 R; BSG, Urteil vom 04.09.2013 – B 10 EG 6/12 R –, beide in juris; hingegen auf die Rechtslage zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung abstellend: LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 18.03.2021 – L 6 SB 3843/19 –, in juris Rn. 53).
Gemäß § 229 Abs. 1 SGB IX in der seit 01.01.2018 geltenden Fassung (n.F.), (§ 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX alte Fassung - a. F. -), werden schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt oder hilflos oder gehörlos sind, von Unternehmern, die öffentlichen Personenverkehr betreiben, gegen Vorzeigen eines entsprechend gekennzeichneten Ausweises nach § 152 Abs. 5 SGB IX n.F. (§ 69 Abs. 5 SGB IX a.F.), im Nahverkehr im Sinne des § 230 Abs. 1 SGB IX n.F., (§ 147 Abs. 1 SGB IX a.F.), unentgeltlich befördert. In seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr ist erheblich beeinträchtigt nach § 229 Abs. 1 SGB IX n.F. (§ 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX a.F.), wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden.
Seit 01.01.2009 ist an die Stelle der „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht“ (Teil 2 SGB IX), Ausgabe 2008 (AHP) die Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ (VG) zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung; VersMedV) getreten. Damit hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales von der Ermächtigung nach § 30 Abs. 17 BVG zum Erlass einer Rechtsverordnung Gebrauch gemacht und die maßgebenden Grundsätze für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG aufgestellt.
Allerdings konnte sich der Beklagte hinsichtlich der Voraussetzungen für die Feststellung des Nachteilsausgleichs G bis 14.01.2015 nicht auf die VG berufen. Eine gesetzliche Ermächtigung für den Verordnungsgeber, die Grundsätze für die nach dem Schwerbehindertenrecht zu beurteilenden Nachteilsausgleiche durch Verordnung regeln zu können, enthielten weder § 30 Abs. 17 BVG, der nicht auf die im Schwerbehindertenrecht im SGB IX geregelten Nachteilsausgleiche verweist (vgl. Dau, jurisPR-SozR 4/2009), noch andere Regelungen des BVG. Eine Rechtsgrundlage zum Erlass einer Verordnung über Nachteilsausgleiche war auch nicht in den einschlägigen Vorschriften des SGB IX vorhanden. Die Regelungen der VG zum Nachteilsausgleich G waren damit mangels entsprechender Ermächtigungsgrundlage rechtswidrig. Dies entspricht ständiger Rechtsprechung des Senats (vgl. z.B. Urteil des Senats vom 23.07.2010 - L 8 SB 3119/08, juris). Rechtsgrundlage waren bis 14.01.2015 allein die genannten gesetzlichen Bestimmungen.
Das Tatbestandsmerkmal der im Ortsverkehr üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegten Wegstrecke des § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX umfasste nach ständiger Rechtsprechung der Sozialgerichte (grundlegend BSG Urt. vom 10.12.1987 - 9a RVs 11/87 -, SozR 3870 § 60 Nr. 2; BSG Urteil vom 13.08.1997 - 9 RVS 1/96 -, SozR 3 - 3870 § 60 Nr. 2) die Bewältigung von Wegstrecken von 2 km in einer halben Stunde ohne Berücksichtigung von geographischen Besonderheiten im Einzelfall. Sowohl die Gesetzesmaterialien zur gleichlautenden Vorgängervorschrift des § 58 Abs. 1 Satz 1 SchwbG 1979 als auch die AHP 1983 (Seite 123, 127f) enthielten keine Festlegung zur Konkretisierung des Begriffs der im Ortsverkehr üblichen Wegstrecke. Diese Festlegung geht auf eine in der Verwaltungs- und Gerichtspraxis angenommene Größe von 2 km zurück, die als allgemeine Tatsache, welche zur allgemeingültigen Auslegung der genannten Gesetzesvorschrift herangezogen wurde, durch verschiedene Studien (vgl. die Nachweise in BSG Urt. vom 10.12.1987 a.a.O.) bestätigt worden ist. Der außerdem hinzukommende Zeitfaktor enthält den in ständiger Rechtsprechung bestätigten Ansatz einer geringeren Durchschnittsgeschwindigkeit als die von 5 bis 6 km pro Stunde zu erwartende Gehgeschwindigkeit rüstiger Wanderer, da im Ortsverkehr in der Vergleichsgruppe auch langsam Gehende, die noch nicht so erheblich behindert sind wie die Schwerbehinderten, denen das Recht auf unentgeltliche Beförderung zukommt, zu berücksichtigen sind (vgl. BSG, Urteil vom 10.12.1987, a.a.O.). Anhaltspunkte dafür, dass infolge des Zeitablaufs sich die Tatsachengrundlage geändert haben könnte, hat der Senat nicht. Der Senat legt daher in ständiger Rechtsprechung (vgl. Urteil des Senats vom 02.10.2012 - L 8 SB 1914/10 -, juris) diese Erkenntnisse weiter der Auslegung des Tatbestandsmerkmals der ortsüblichen Wegstrecken i.S.v. § 146 Abs. 1 SGB IX (§ 229 Abs. 1 SGB IX in der seit 01.01.2018 geltenden Fassung) zugrunde, auch wenn die entsprechenden Regelungen der VG zu dem Nachteilsausgleich „G“ unwirksam sind, wie oben ausgeführt (ebenso der 6. Senat des LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 04.11.2010 - L 6 SB 2556/09 -, unveröffentlicht).
Nach Auffassung des Senats hat der Gesetzgeber mit der Übergangsregelung des § 159 Abs. 7 SGB IX jedoch ab dem 15.01.2015 wirksam und mit hinreichend bestimmtem Gesetzeswortlaut eine ausreichende Rechtsgrundlage für die Feststellung des Merkzeichens G geschaffen. Die so geschaffene Rechtsgrundlage für die Feststellung des Merkzeichens G entfaltet nach der Rechtsprechung des Senats jedoch keine Rückwirkung, sondern ist erst ab dem Datum des Inkrafttretens am 15.01.2015 wirksam (vgl. Senatsurteil vom 22.05.2015 - L 8 SB 70/13 - zum Merkzeichen aG, juris). Folglich stellt der Senat für die Zeit ab dem 15.01.2015 auf die in den VG geregelten Kriterien ab (vgl. zur Rechtslage bis 14.01.2015 auch Urteil des Senats vom 22.05.2015 - L 8 SB 70/13 -. juris und Internet sozialgerichtsbarkeit.de, zum Merkzeichen aG). Diese Grundsätze zur Anwendung des VG gelten auch über den 31.12.2017 hinaus.
Nach § 153 Absatz 2 SGB IX in der ab 01.01.2018 geltenden Fassung wird das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die Bewertung des Grades der Behinderung, die Kriterien für die Bewertung der Hilflosigkeit und die Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Nach der Übergangsvorschrift des § 241 Absatz 5 SGB IX geltend die Maßstäbe des § 30 Absatz 1 des Bundesversorgungsgesetzes und der auf Grund des § 30 Absatz 16 des Bundesversorgungsgesetzes erlassenen Rechtsverordnungen entsprechend.
Gemäß den Grundsätzen der VG Teil D 1b) Satz 1 für die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für Nachteilsausgleiche ist ein schwerbehinderter Mensch in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, der infolge einer Einschränkung des Gehvermögens, auch durch innere Leiden, oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit, nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Für die Bewegungseinschränkung ist nicht die Dauerhaftigkeit entscheidend (BSG, Urteil vom 11.8.2015 - B 9 SB 2/14 R -, juris). Bei der Prüfung der Frage, ob die weiteren Voraussetzungen vorliegen, kommt es zudem nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalles an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein - d.h. altersunabhängig von nicht behinderten Menschen - noch zu Fuß zurückgelegt werden (VG Teil D 1b) Satz 2). Als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa 2 Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (VG Teil D 1b) Sätze 3, 4). Nähere Umschreibungen für einzelne Krankheitsbilder und Behinderungen enthalten die VG Teil D 1 d), e) und f). Die Voraussetzungen für die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung des Gehvermögens sind nach den VG Teil D 1 d) als erfüllt anzusehen, wenn auf die Gehfähigkeit sich auswirkende Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bestehen, die für sich einen GdB von wenigstens 50 bedingen. Darüber hinaus können die Voraussetzungen bei Behinderungen an den unteren Gliedmaßen mit einem GdB unter 50 gegeben sein, wenn diese Behinderungen sich auf die Gehfähigkeit besonders auswirken, z.B. bei Versteifung des Hüftgelenks, Versteifung des Knie- oder Fußgelenks in ungünstiger Stellung, arteriellen Verschlusskrankheiten mit einem GdB von 40. Auch bei inneren Leiden kommt es bei der Beurteilung entscheidend auf die Einschränkung des Gehvermögens an. Dementsprechend ist eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit vor allem bei Herzschäden mit Beeinträchtigung der Herzleistung wenigstens nach Gruppe 3 und bei Atembehinderungen mit dauernder Einschränkung der Lungenfunktion wenigstens mittleren Grades anzunehmen. Auch bei anderen inneren Leiden mit einer schweren Beeinträchtigung der körperlichen Leistungsfähigkeit, z.B. chronische Niereninsuffizienz mit ausgeprägter Anämie, sind die Voraussetzungen als erfüllt anzusehen. Besonderheiten gelten für hirnorganische Anfälle - VG Teil D 1e) - und Orientierungsstörungen infolge von Sehstörungen, Hörstörungen oder geistiger Behinderung - VG Teil D 1f) -. Bei hirnorganischen Anfällen ist die Beurteilung von der Art und Häufigkeit der Anfälle sowie von der Tageszeit des Auftretens abhängig. Im Allgemeinen ist auf eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit erst ab einer mittleren Anfallshäufigkeit mit einem GdB von wenigstens 70 zu schließen, wenn die Anfälle überwiegend am Tage auftreten. Analoges gilt beim Diabetes mellitus mit häufigen hypoglykämischen Schocks.
Die VG beschreiben in Teil D 1 d) bis f) Regelfälle, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ als erfüllt anzusehen sind und die bei der Beurteilung einer dort nicht erwähnten Behinderung als Vergleichsmaßstab dienen können. Die VG geben an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen müssen, bevor angenommen werden kann, dass ein Behinderter infolge einer Einschränkung des Gehvermögens „in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist“. Damit tragen die VG dem Umstand Rechnung, dass das menschliche Gehvermögen keine statische Messgröße ist, sondern von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert wird. Darunter sind neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also Körperbau und etwaige Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens (ökonomische Beanspruchung der Muskulatur, Gehtempo und Rhythmus) sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, zu nennen. Von diesen Faktoren filtern die VG all jene heraus, die nach dem Gesetz außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des schwerbehinderten Menschen im Straßenverkehr nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung seines Gehvermögens, sondern möglicherweise aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen (BSG, Urteil vom 24.04.2008 - B 9/9a SB
7/06 R -, juris, zu den mit den VG vergleichbaren AHP; BSG, Beschluss vom 17.08.2010 - B 9 SB 32/10 B -, juris, zu den VG und AHP).
Hiervon ausgehend liegen - sowohl nach den bis 31.12.2017 als auch nach ab 01.01.2018 - anzuwendenden geltenden Vorschriften in Übereinstimmung mit der versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. B vom 15.03.2020 die Voraussetzungen des Merkzeichens G nicht bereits für den allein noch streitigen Zeitraum vom 06.06.2013 bis 11.12.2019, sondern erst ab der gutachterlichen Untersuchung am 12.12.2019 vor. So bestand beim Kläger im streitigen Zeitraum, wie Dr. W im Arztbrief vom 07.02.2017 nachvollziehbar bestätigte, zwar u.a. eine leichte, sensible PNP bei Diabetes mellitus ohne Progredienz, vorbestehende leichtes sensibles Wurzel S1-Syndrom links und Adipositas permagna, jedoch ein unauffälliges Gangbild. Unter Berücksichtigung der im Widerspruchsverfahren eingeholten Befundauskünfte von Dr. R und Dr. K sowie der weiteren medizinischen Unterlagen bedingten im streitigen Zeitraum die sich auf die Gehfähigkeit auswirkenden Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und der Lendenwirbelsäule für sich allein keinen GdB von wenigstens 50, was klägerseits auch gar nicht geltend gemacht wird. Es ist auch nicht erkennbar, dass die beim Kläger vorliegenden inneren Leiden sich bereits im fraglichen Zeitraum zusätzlich entscheidend auf das Gehvermögen auswirken würden. Anderes ergibt sich auch nicht aus den eingeholten Befundberichten von Dr. R und Dr. K sowie den eingeholten Zeugenaussagen. So konnte Dr. R im Arztbrief vom 28.02.2017 eine Gehstrecke des Klägers nicht angeben, und Dr. K nahm lediglich einen Einfluss der beginnenden diabetischen Nervenstörung auf die Gangsicherheit an, ohne dies näher zu konkretisieren. Vielmehr hat Dr. W in seiner Zeugenaussage vor dem SG nachvollziehbar eine auf neurologischem Fachgebiet nicht eingeschränkte Gehstrecke bestätigt. Zwar hat Dr. F bereits in seiner Zeugenaussage vom 05.04.2019 ohne nähere Erläuterung eine Wegstrecke von nur 500 bis 1000m angenommen. Der Senat ist aber erst für den Zeitraum ab der gutachterlichen Untersuchung bei Dr. S am 12.12.2019 und in Übereinstimmung mit der versorgungsmedizinischen Stellungnahme von Dr. B vom 15.03.2020 vom Vorliegen der Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens G überzeugt. Denn der Gerichtssachverständige Dr. S hat aufgrund der gutachterlichen Untersuchung vom 12.12.2019 und nachvollziehbar abgeleitet aus dem „aktuell“ nicht unauffälligen Gangbild (S. 22 des Gutachtens) die Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens G angenommen. Dies stimmt auch mit der Aussage von Prof. Dr. Z überein, welcher die Einschätzung auf orthopädischem Fachgebiet für maßgeblich erachtet hat.
Der Sachverhalt ist vollständig aufgeklärt. Der Senat hält weitere Ermittlungen von Amts wegen (insoweit in Übereinstimmung mit dem Prozessbevollmächtigten des Klägers) nicht für erforderlich. Die vorliegenden ärztlichen Unterlagen haben dem Senat zusammen mit den im erstinstanzlichen Verfahren eingeholten sachverständigen Zeugenaussagen die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen sachlichen Grundlagen vermittelt (§ 118 Abs. 1 Satz 1 SGG, § 412 Abs. 1 ZPO).
Die Berufung war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.