L 9 R 3589/19

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Ulm (BWB)
Aktenzeichen
S 4 R 2583/16
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 R 3589/19
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Ulm vom 13. September 2019 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.


 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung streitig.

Der 1963 geborene Kläger türkischer Staatsangehörigkeit lebt seit 1988 in der Bundesrepublik Deutschland. Er hat keine Berufsausbildung abgeschlossen und war bei verschiedenen Arbeitgebern als Arbeiter beschäftigt, zuletzt seit 2001 als Versandmitarbeiter bei der Firma A im Bereich Verpackung und Versand von Autoteilen. Seit 2009 war der Kläger arbeitsunfähig krank, bezog Krankengeld, im Anschluss Arbeitslosengeld und (bis aktuell) Arbeitslosengeld II. Das Arbeitsverhältnis mit der Firma A wurde 2015 durch Auflösungsvertrag mit einer Abfindung in Höhe von 30.000 € beendet.

Im Zusammenhang mit vorangegangenen vom Kläger am 13.01.2012 und 16.10.2012 gestellten Rentenanträgen zog die Beklagte einen Bericht der Rehaklinik B über einen stationären Aufenthalt vom 20.05. bis 10.06.2011 bei und ließ den Kläger auf orthopädischem und neurologisch psychiatrischem Fachgebiet begutachten. Die Diagnosen in der Rehaklinik B lauteten mittelgradige depressive Episode, chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, rezidivierende Lumboischialgien bei bekanntem Bandscheibenvorfall und degenerativen Wirbelsäulenveränderungen. Der Kläger wurde als über sechs Stunden leistungsfähig für seine Tätigkeit als Versandmitarbeiter unter Berücksichtigung qualitativer Einschränkungen entlassen (keine schweren Tätigkeiten, ohne Nachtschicht und ohne überwiegende Körperzwangshaltungen). Der Orthopäde Dr. R diagnostizierte in seinem Gutachten vom 27.02.2012 Lendenwirbelsäulen (LWS)-Beschwerden bei degenerativen Veränderungen, mitgeteilte rezidivierende depressive Episoden sowie eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren. Hinsichtlich des psychischen Befundes teilte der Sachverständige mit, der Proband mache keinen depressiven Eindruck. Er könne leichte bis mittelschwere Wechseltätigkeiten ohne häufige Zwangshaltungen mehr als sechs Stunden je Arbeitstag verrichten. Die Neurologin und Psychiaterin Dr. M-M fand in ihren Gutachten vom 21.11.2012 zwar eine etwas angespannte und nervöse Stimmung, jedoch keine Hinweise für eine ausgeprägte depressive Symptomatik. Sie diagnostizierte eine Dysthymie mit Somatisierungstendenzen, Benzodiapezinabhängigkeit, Zustand nach Spielsucht und ein chronisches LWS-Syndrom bei Zustand nach Spondylodese im Februar 2012. Sie hielt den Kläger für vollschichtig einsatzfähig mit funktionalen Einschränkungen.

Am 24.11.2014 beantragte der Kläger erneut die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung und gab an, er leide unter Rückenproblemen nach Bandscheibenvorfall, Schlafstörungen und Depressionen. Die Beklagte veranlasste eine Begutachtung durch den Allgemeinmediziner G, welcher nach ambulanter Untersuchung vom 27.04.2015 und unter Berücksichtigung der zur Akte gelangten Arztbriefe folgende Gesundheitsstörungen diagnostizierte: Pathologisches Spielen, Benzodiapezipinabusus, anhaltende somatoforme Schmerzstörung bei zugrunde liegendem degenerativen Wirbelsäulenleiden mit Zustand nach Spondylodese L4/5, degeneratives Lendenwirbelsäulensyndrom ohne Hinweis auf Wurzelreizsymptomatik, Keratozyste am Oberkiefer/Zustand nach Zystektomie und Implantation eines Beckenkammspans am 06.09.2013 ohne Nachweis eines Rezidivs. Der Sachverständige hielt den Kläger für in der Lage, leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes unter Beachtung qualitativer Einschränkungen hinsichtlich der geistig-psychischen Belastbarkeit sowie des Bewegungs-/Haltungsapparats mindestens sechs Stunden täglich auszuüben.

Mit Bescheid vom 11.05.2015 lehnte die Beklagte den Rentenantrag mangels Erfüllung der medizinischen Voraussetzungen für eine Rente wegen Erwerbsminderung ab. Hiergegen erhob der Kläger am 05.06.2015 Widerspruch und trug zur Begründung vor, dass er auf Grund seiner Krankheitsbilder den Anforderungen eines „Normalarbeitsplatzes“ nicht mehr gewachsen sei. Arbeiten von wirtschaftlichem Wert könne er nicht mehr verrichten. Im Widerspruchsverfahren ließ die Beklagte den Kläger durch die Neurologin und Psychiaterin Dr. E-D begutachten. Die Sachverständige diagnostizierte nach ambulanter Untersuchung in ihrem Gutachten vom 12.05.2016 beim Kläger eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, eine Dysthymie, Alkoholabusus (nach den Angaben des Klägers) sowie Spielsucht. Der Medikamentenspiegel im Blut habe unterhalb der Nachweisgrenze gelegen. Im psychischen Untersuchungsbefund fand die Sachverständige eine gedrückte, jedoch nicht schwer depressive Grundstimmung sowie unauffällige affektive Schwingungsfähigkeit, Antrieb und Psychomotorik. Sie erachtete den Kläger für in der Lage, leichte bis mittelschwere Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes für mindestens sechs Stunden täglich auszuüben.

Gestützt auf die Ergebnisse der medizinischen Sachaufklärung, insbesondere die Ausführungen der Sachverständigen in den eingeholten Gutachten, wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 19.07.2016 zurück.

Dagegen hat der Kläger am 17.08.2016 Klage zum Sozialgericht Ulm (SG) erhoben. Zur Begründung hat er vorgetragen, er leide unter den Erkrankungen rezidivierende depressive Störung, psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol und durch Tabak, Zustand nach operativ versorgtem Bandscheibenprolaps, LWS-Syndrom/Reizzustand Unterschenkel links, Schwindel, Zustand nach Spondylodese L4/5, chronifizierte depressive Episode, anhaltende somatoforme Schmerzstörung, hochbetonte sensorineurale Schwerhörigkeit beidseits, chronische Laryngitis. Auf Grund der erwähnten Erkrankungen befinde er sich bereits seit mehreren Jahren erfolglos in ärztlicher Behandlung. Trotz dieser Behandlungen, auch Rehamaßnahmen, sei keine Heilung der Beschwerden eingetreten.

Im Rahmen der Beweisaufnahme hat das SG einen Bericht der Klinik C vom 20.08.2015 über einen stationären Aufenthalt vom 06.08. bis 20.08.2015, sowie Radiologieberichte vom 12.02.2016 und 24.02.2016 (CT BWS, MRT LWS) beigezogen, den behandelnden Allgemeinmediziner Dr. A1 und den Neurologen und Psychiater Dr. K als sachverständige Zeugen gehört sowie den Orthopäden Prof. Dr. K1 und den Neurologen und Psychiater Dr. F mit der Erstattung von Gutachten beauftragt.

In der Klinik C erfolgte die Behandlung unter den Diagnosen pathologisches Spielen, rezidivierende depressive Störung (gegenwärtig mittelgradige Episode), psychische und Verhaltensstörung durch Alkohol und durch Tabak, COPD, Zustand nach operativ versorgtem Bandscheibenprolaps. Es wurde zur Anbindung an eine Suchtberatungsstelle geraten. Der Allgemeinmediziner Dr. A1 hat mit Auskunft vom 16.03.2017 mitgeteilt, den Kläger regelmäßig seit dem 19.12.2003, zuletzt am 24.02.2017 wegen Depression, wahnhafter Störung, pathologischen Spielens, Verhaltensstörungen durch Alkohol und Tabak, Lumbalgie, Schwerhörigkeit beidseits und COPD durch „verbale Intervention“ zu behandeln. Seiner Befunderhebung nach sei der Patient nicht in der Lage, leichte Tätigkeiten auf dem Arbeitsmarkt mindestens sechs Stunden täglich zu verrichten. Er könne wegen mangelnder Schulausbildung und seelischen sowie andauernden körperlichen Krankheiten keinen neuen Beruf erlernen und sei seit dem 28.07.2015 durchgängig von ihm arbeitsunfähig geschrieben worden. Ergänzend hat Dr. A1 Facharztbriefe hinsichtlich erfolgter Überweisungen zu Radiologen, Orthopäden und Neurologen vorgelegt, auf die Bezug genommen wird. Der Neurologe und Psychiater Dr. K hat mit Auskunft vom 06.11.2017 mitgeteilt, den Kläger seit dem 28.09.2017 zu behandeln (vorher sei in den Jahren 2011 bis 2013 eine Behandlung durch die Neurologin und Psychiaterin Dr. S erfolgt). Nach den Angaben des Patienten und mitgebrachten Berichten zeige sich psychopathologisch ein Bild mit niedergedrückter Grundstimmung, Insuffizienzgefühlen, Anhedonie, diffus verteilten körperbezogenen Beschwerden, Vitalitätsstörungen mit Einschlafstörungen, Antriebslosigkeit, gehemmtem bis grübelndem formalem Denken, fokussiert auf Schmerzgefühle, Insuffizienzgefühle und Zukunftsängste. Die Frage nach der Leistungsfähigkeit solle erst nach einer psychosomatischen Rehabehandlung mit muttersprachlichem Angebot beantwortet werden.

Prof. Dr. K1 hat in seinem fachorthopädischen Gutachten vom 27.07.2017 nach ambulanter  Untersuchung des Klägers eine Versteifung des Bandscheibenfachs zwischen dem vierten und fünften Lendenwirbel mit Funktions- und Belastungsminderung der LWS ohne neurologische Ausfälle und einen Verschleiß mehrerer Bandscheiben der Halswirbelsäule mit Funktions- und Belastungsminderung ohne aktuelle neurologische Defizite diagnostiziert und den Kläger aus orthopädischer Sicht für leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes in einem Umfang von mindestens sechs Stunden leistungsfähig gehalten. Zu verzichten sei auf Wirbelsäulenzwangshaltungen, Tätigkeiten in gebückter Position sowie überwiegend im Stehen und Gehen. Insgesamt hat Prof. Dr. K1 eine sehr betonte Beschwerdedarstellung wahrgenommen; auch das sehr schmerzbetonte Gangbild sei eher auf dem Boden einer Leidensbetonung entstanden.

Der Neurologe und Psychiater Dr. F hat in seinem Gutachten vom 13.03.2018 die Diagnose einer Depression nicht zu stellen vermocht. Während der Untersuchung habe sich keines der Kernsymptome einer Depression (gedrückte Stimmung, Affektlabilität, Resonanz, Antrieb, Kraftlosigkeit, Freudefähigkeit, auch nicht die sog. weiteren Symptome) bestätigen lassen. Er habe auch keine Hinweise für eine Dysthmie gefunden. Eine somatoforme Störung sei nicht auszuschließen. Die Diagnose pathologisches Glücksspielen sei zu bestätigen. Diese Gesundheitsstörung wirke sich jedoch nicht wesentlich nachteilig auf die Leistungsfähigkeit des Klägers aus.

Nach vorheriger Anhörung der Beteiligten hat das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 13.09.2019 abgewiesen. Es hat zur Begründung ausgeführt, dass die – näher dargelegten – Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung nicht erfüllt seien. Der Kläger sei unter Berücksichtigung qualitativer Einschränkungen noch in der Lage, eine leichte Tätigkeit des allgemeinen Arbeitsmarktes für mindestens sechs Stunden täglich zu verrichten. Nicht mehr leidensgerecht seien Arbeiten mit Zeitdruck oder mit Zwangshaltungen der Wirbelsäule, in gebückter Position mit überwiegendem Stehen oder Gehen. Die Kammer stütze ihre Überzeugung auf die Gutachten von Prof. Dr. K1 und Dr. F. Diese hätten anhand der von ihnen erhobenen Befunde unter Berücksichtigung der vorhandenen ärztlichen Unterlagen nachvollziehbar und schlüssig dargelegt, dass der Kläger mit den bei ihm vorhandenen Gesundheitsstörungen bei Beachtung bestimmter qualitativer Einschränkungen noch eine leichte Tätigkeit des allgemeinen Arbeitsmarktes verrichten könne. So habe Dr. K1 in seinem Gutachten überzeugend dargelegt, dass die von dem Kläger geltend gemachten Wirbelsäulenbeschwerden mittelschwere Tätigkeiten oder Tätigkeiten mit Zwangshaltungen ausschlössen, jedoch leichte Tätigkeiten leidensgerecht seien. Dr. F habe in seinem sehr ausführlichen Gutachten überzeugend dargelegt, dass von der Spielsucht oder etwaigen Depressionen, welche aber im Zeitpunkt der Untersuchung nicht festzustellen gewesen seien, keine qualitativen Einschränkungen für leichte Tätigkeiten ausgingen. Auch die chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren schlösse nach Dr. F eine leichte Tätigkeit nicht aus. Prof. Dr. K1 und Dr. F hätten damit die Leistungsbeurteilung der den Kläger im Verwaltungsverfahren begutachtenden Ärzte G und Dr. E-D bestätigt. Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Beurteilung der Sachverständigen oder konkrete Einwände des Klägers gegen die gutachterlichen Beurteilungen lägen nicht vor. Den am 01.04.2019 gestellten Antrag des Klägers auf Einholung eines weiteren Gutachtens nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bei Prof. Dr. V hat das SG als verspätet abgelehnt. Auf Grund gerichtlicher Schreiben vom 27.03. und 25.07.2018 habe der Kläger bzw. sein Prozessbevollmächtigter erkennen können, dass keine weiteren Ermittlungen von Amts wegen mehr durchgeführt würden.

Gegen den ihm am 27.09.2019 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 23.10.2019 Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg eingelegt. Zur Berufungsbegründung hat er nochmals auf die bei ihm bestehenden Erkrankungen unter Auflistung der bereits im Klageverfahren genannten Diagnosen verwiesen. Vom 12.09.2019 bis 10.10.2019 habe unter der Kostenträgerschaft der Beklagten eine Rehabilitationsmaßnahme in der S-Klinik stattgefunden. Von dort sei er arbeitsunfähig entlassen worden.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Ulm vom 13. September 2019 sowie den Bescheid der Beklagten vom 11. Mai 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Juli 2016 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm ab dem 1. November 2014 Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Zur Begründung verweist sie auf eine sozialmedizinische Stellungnahme des Neurologen und Psychiaters B1, wonach im erstinstanzlichen Verfahren doch erhebliche Diskrepanzen bestanden hätten zwischen der Angabe einer schweren depressiven Symptomatik seitens der Behandler einerseits und einer nicht nachweisbaren relevanten depressiven Symptomatik im Gutachten von Dr. F.

Der Senat hat den Entlassungsbericht der S-Klinik vom 21.10.2019 beigezogen und bei Dr. B2 ein weiteres Gutachten auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet eingeholt. Aus der S-Klinik wurde der Kläger nach stationärem Aufenthalt vom 12.09.2019 bis 10.10.2019 (Diagnosen: rezidivierende depressive Störung, chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, psychische und Verhaltensstörungen durch Sedativa oder Hypnotika: Abhängigkeitssyndrom, psychische und Verhaltensstörungen durch Opioide: Abhängigkeitssyndrom, Asthma bronchiale) arbeitsunfähig entlassen. Es sei während des Aufenthalts noch nicht zu einer wesentlichen Veränderung der Symptome gekommen. Der Kläger habe zwar seinen Rückzug etwas vermindern und seine Stimmung etwas stabilisieren können. Es bestünden jedoch voraussichtlich überdauernde Einschränkungen in den Bereichen des Antriebs, der Flexibilität und Umstellungsfähigkeit, der Durchhaltefähigkeit, der Selbstbehauptungsfähigkeit und der Gruppenfähigkeit – auch die Wegefähigkeit sei eingeschränkt gewesen. Gegenüber dem Sachverständigen Dr. B2 hat der Kläger ausweislich des Gutachtens vom 21.01.2021, gefragt nach seinen Beschwerden, Probleme mit den Zähnen (nach Operation im Mundbodenbereich), Schlafstörungen (auf Grund von Schmerzen beim Liegen auf der Seite), Rückenschmerzen, Asthma, Tinnitus/Schwerhörigkeit und Panikattacken in Form einer Abneigung gegen Menschenmengen angegeben. Sein größtes psychisches Problem seien die Probleme mit seiner Frau, die ständig mit ihm schimpfe, weil er nicht arbeite, nur zu Hause sei und hässlich sei. Im psychischen Befund hat Dr. B2 den Kläger als bewusstseinsklar, sicher in allen Qualitäten orientiert, im Denken formal geordnet beschrieben. Auffassung, Konzentration, Merkfähigkeit, Gedächtnis- und Aufmerksamkeit seien im mehrstündigen gutachterlichen Untersuchungsgang (von 9.50 Uhr bis 14.10 Uhr) bis zuletzt ungestört gewesen. Der Proband sei im Antrieb lebendig gewesen, inhaltsabhängig zwar affektlabil, je nach angesprochenem Thema jedoch durchaus affektiv und auch inhaltlich lebendig auslenkbar gewesen. Eine weiterreichende und überdauernde depressive Symptomatik hat Dr. B2 weder über den gutachterlichen Querschnitt noch über die Angaben des Klägers zur Teilhabe abzubilden vermocht. Der Beschwerdevalidierungstest habe ausgeprägte Hinweise für nicht-authentische Beschwerdeanteile ergeben. Auf der Basis der im Rahmen seiner Untersuchung erhobenen Befunde sowie in Auswertung des medizinischen Akteninhalts hat Dr. B2 beim Kläger die Diagnosen Persönlichkeitsakzentuierungen bei gleichzeitig sehr niedrigem Persönlichkeitsstrukturniveau (jedoch nicht im Sinne einer krankhaften Störung), Dysthymia (im Kontext mit problematischem biographischem Hintergrund), anklingende agoraphobisch gefärbte Panikattacken (jedoch ohne richtungsweisendes Vermeidungsverhalten), iatrogen begünstigte Benzodiazepingewöhnung (auf niedrigem Niveau: regelmäßige Einnahme des Schlafmittels Tafil), Spielsucht, Zustand nach LWS-Spondylodese-Operation 2012, berichtete Asthmabeschwerden bei gleichwohl fortdauerndem erheblichem Nikotinabusus mit 30 Zigaretten täglich, mit Hörgeräten gut kompensierte Hypakusis und Zustand nach Operation einer Keratozyste am Kiefer gestellt. Aus nervenärztlicher Sicht könne der Kläger leichte bis mittelschwere Tätigkeiten zu ebener Erde, nicht an unmittelbar gefährdenden Maschinen, ohne besonderen Zeitdruck, ohne regelmäßige nervöse Anspannung, insbesondere auch ohne besondere Anforderungen an die Konfliktfähigkeit, ohne fordernde soziale Interaktionen, auch ohne andere Stressfaktoren wie Nacht- oder Wechselschicht bzw. direktem Publikumsverkehr vollschichtig verrichten. Den Ausführungen im Abschlussbericht der S-Klinik mit der Hauptdiagnose einer gegenwärtig schweren depressiven Symptomatik und der Annahme eines nur unter dreistündigen Leistungsvermögens auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vermöge der Sachverständige nicht zu folgen.

Mit Schriftsatz vom 18.01.2021 hat der Kläger die Einholung eines Gutachtens nach § 109 SGG bei Prof. Dr. V, in G, beantragt. Nach Anforderung eines Kostenvorschusses durch den Senat in Höhe von 2.000,00 € hat der Kläger mit Schriftsatz vom 19.03.2021 mitteilen lassen, er könne die Kosten für die Einholung des Gutachtens nicht auf einmal, sondern nur in monatlichen Raten zu je 200,00 € bezahlen. Mit Beschluss vom 26.05.2021 wurde die Einholung des Gutachtens davon abhängig gemacht, dass der Kläger 500,00 € bis zum 30.06.2021 bei der Landesoberkasse Baden-Württemberg einzahlt, für den restlichen Betrag wurde ihm Ratenzahlung gestattet (sechs monatliche Raten von Juli bis Dezember 2021 in Höhe von monatlich 250,00 €). Zahlungseingänge wurden bis zum Tag der mündlichen Verhandlung von der Landesoberkasse nicht mitgeteilt.

Schließlich hat der Kläger noch die fachärztliche Stellungnahme des behandelnden Neurologen und Psychiaters Dr. K vom 07.10.2021 vorgelegt. Dr. K hat hierin ausgeführt, dass das Ergebnis der Begutachtung durch Dr. B2 mit Blick auf die von ihm selbst bereits mitgeteilten und auch im Rahmen der Behandlung in der S-Klinik erhobenen Beschwerden nicht nachvollziehbar sei, soweit der Gutachter (nur) von einer Dysthymie bei gut erhaltener affektiver Auswertbarkeit sowie ungestörter Antriebslage ausgehe. Er empfehle die nochmalige Begutachtung durch einen muttersprachlichen Sachverständigen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten und der Gerichtsakten beider Instanzen Bezug genommen.

 


Entscheidungsgründe

Die nach § 151 Abs. 1 und 2 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig. Berufungsausschließungsgründe gemäß § 144 SGG liegen nicht vor.

Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung.

Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung haben gemäß § 43 Abs. 2 Satz 1 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze, wenn sie voll erwerbsgemindert sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit zurückgelegt und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI).
 
Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung haben Versicherte gemäß § 43 Abs. 1 Satz 1 SGB VI bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze, wenn sie teilweise erwerbsgemindert sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit zurückgelegt und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein, § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI.

Eine volle Erwerbsminderung liegt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) auch dann vor, wenn der Versicherte täglich mindestens drei bis unter sechs Stunden erwerbstätig sein kann, der Teilzeitarbeitsmarkt aber verschlossen ist (Gürtner in KassKomm, 108. EL Dezember 2020, SGB VI, § 43 Rn. 58 und 30 ff.).

Nach § 43 Abs. 3 SGB VI ist generell nicht erwerbsgemindert, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

Der Nachweis für die den Anspruch begründenden Tatsachen muss hierbei im Wege des sog. Vollbeweises erfolgen. Dies erfordert, dass bei vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens der volle Beweis für das Vorliegen der genannten Tatsachen als erbracht angesehen werden kann. Dies bedeutet, das Gericht muss von der zu beweisenden Tatsache mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit ausgehen können; es darf kein vernünftiger, in den Umständen des Einzelfalles begründeter Zweifel mehr bestehen. Von dem Vorliegen der entscheidungserheblichen Tatsachen muss insoweit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgegangen werden können (vgl. BSG, Urteil vom 14.12.2006 - B 4 R 29/06 R -; Bayerisches LSG, Urteil vom 26.07.2006 - L 16 R 100/02 -, beide in juris; BSGE 45, 285; BSGE 58, 80). Können die genannten Tatsachen trotz Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten nicht im erforderlichen Vollbeweis nachgewiesen werden, so geht dies nach dem im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Grundsatz der objektiven Beweislast zu Lasten des Beteiligten, der aus diesem Sachverhalt Rechte herleiten möchte. Für das Vorliegen der Voraussetzungen der Erwerbsminderung trägt insoweit der Versicherte die Darlegungs- und objektive Beweislast (vgl. BSG, Urteil vom 23.10.1996 - 4 RA 1/96 -, juris).

Nach diesen Grundsätzen erfüllt der Kläger die Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung nicht.

Der angefochtene Gerichtsbescheid des SG vom 13.09.2019 ist nicht zu beanstanden. Der Bescheid vom 11.05.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19.07.2016 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Er hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung.

Eine Erwerbsminderung des Klägers, d.h. ein Absinken seiner beruflichen und körperlichen Leistungsfähigkeit auf ein Leistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt von weniger als sechs Stunden täglich, lässt sich zur Überzeugung des Senats nicht belegen. Vielmehr ist der Kläger unter Berücksichtigung aller vorliegenden medizinischen Unterlagen und Gutachten noch in der Lage, zumindest leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts bei Beachtung qualitativer Einschränkungen mehr als sechs Stunden arbeitstäglich zu verrichten. Dies folgt für den Senat insbesondere aus den im Klageverfahren vom SG eingeholten Gutachten des Prof. Dr. K1 und des Dr. F sowie dem vom Senat eingeholten Gutachten des Dr. B2.

Auf psychiatrischem Fachgebiet leidet der Kläger an einer Dysthymia. Zurückliegend bestanden Phasen depressiver Episoden, die jedoch jedenfalls im Zeitpunkt der jeweiligen gutachterlichen Untersuchungen im Verwaltungs- und Klageverfahren nicht fortbestanden. Hierdurch ist der Kläger in seiner Konfliktfähigkeit und sozialen Interaktionsfähigkeit eingeschränkt. Tätigkeiten mit besonderem Zeitdruck, unter nervöser Anspannung, im direkten Publikumskontakt sowie in Nacht- oder Wechselschicht sind nicht mehr zumutbar. Über diese qualitativen Einschränkungen hinaus besteht jedoch keine Leistungseinschränkung in quantitativer Hinsicht. Sowohl hinsichtlich der diagnostischen Einschätzung als auch hinsichtlich der Leistungseinschätzung stützt sich der Senat auf die Gutachten von Dr. B2, Dr. F und – im Wege des Urkundsbeweises – Dr. M-M. Zwar stimmen Dr. F und Dr. B2 in der diagnostischen Einordnung nur teilweise überein. So vermochte Dr. F noch nicht einmal Hinweise für die Diagnose einer Dysthmie zu finden, auch die Kernsymptome einer Depression wie gedrückte Stimmung, Affektlabilität, Einschränkungen von Resonanz, Antrieb, Kraftlosigkeit und Freudefähigkeit konnte er nicht bestätigen, wohingegen Dr. B2 bei Verneinung einer weiterreichenden und überdauernden depressiven Symptomatik doch (im Kontext mit dem problematischen biographischen Hintergrund) die Diagnose einer Dysthymia bestätigt hat. Es kommt aber bei der Feststellung einer zur Rentengewährung führenden Erwerbsminderung nicht nur auf eine Diagnosestellung oder Bezeichnung von Befunden an. Vielmehr ist die Beeinflussung des Leistungsvermögens durch dauerhafte Gesundheitsstörungen zu prüfen (BSG, Beschluss vom 09.09.2019 - B 5 R 21/19 B -, juris m.w.N.). Damit sind nicht die Diagnosen an sich maßgeblich, sondern Art und Ausmaß der mit den vorliegenden Erkrankungen verbundenen funktionellen Einschränkungen und Beeinträchtigungen in Bezug auf das berufliche Leistungsvermögen. Insoweit stimmen alle befassten Sachverständigen auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet darin überein, dass der Kläger weder an einer überdauernden depressiven Erkrankung, einer chronischen Schmerzstörung noch an einer sonstigen psychischen Erkrankung in einer solchen Ausprägung leidet, dass sie sich auf nicht absehbare Zeit auf das zeitliche Leistungsvermögen auswirken würde.

Dies haben die Sachverständigen für den Senat widerspruchsfrei und nachvollziehbar anhand der von ihnen erhobenen Befunde abgeleitet. Bei der Untersuchung durch Dr. B2 hat der Kläger, gefragt nach relevanten Beschwerden, an erster Stelle Augen- und Zahnprobleme genannt, sodann Schlafstörungen (auf Grund von Schmerzen), Schmerzen im Brustwirbelsäulen- und Nackenbereich, teilweise auch im linken Bein sowie Panikattacken in Form einer Abneigung gegen Menschenmengen angegeben. Insbesondere wenn er nervös sei, steige der Zucker (Angabe gegenüber Dr. F). Darüber hinaus führte er ein Asthma mit Atemnot an. Hinsichtlich des Tagesablaufs und Alltagsaktivitäten gab der Kläger an, morgens zwischen 9 und 10 Uhr aufzustehen, zu frühstücken, fernzusehen (Serien, Nachrichten, Tierfilme, Abenteuerfilme), teilweise für sich zu kochen, den Müll wegzubringen, nach der Post zu sehen, im Garten zu sitzen, sich gelegentlich auch eine Flasche Bier oder einen Kaffee im Einkaufszentrum zu holen. Gelegentlich nehme er Arzttermine wahr und gehe – insbesondere, wenn er Geld vom Jobcenter bekommen habe – in die Spielhalle. Die Spielhalle besuche er auch gelegentlich, ohne über Mittel zum Spielen zu verfügen; er schaue dann zu oder rede mit Bekannten. Solange er noch ein Auto gehabt habe (das alte sei vor zwei Monaten verschrottet worden), habe er seine Frau jeden Tag zur Arbeit gebracht und wieder abgeholt. Darüber hinaus hat der Kläger angegeben, dass er regelmäßig Kontakt zu seiner Tochter habe, die ihn und seine Frau entweder mit den beiden Enkeln besuche oder ihn zu sich hole. An diesen Angaben zeigt sich, dass der Kläger über – wenn auch reduzierte – soziale Kontakte verfügt, einen strukturierten Tagesablauf hat und über Alltagskompetenz verfügt. Es sind auch Interessengebiete (wie z.B. Tiere und Tierfilme) erhalten geblieben. Der Senat hält es für nachvollziehbar, wenn weder Dr. B2 noch Dr. F aus diesen Angaben eine weiterreichende und überdauernde depressive Symptomatik ableiten konnten. Sowohl bei der Untersuchung durch Dr. F als auch durch Dr. B2 waren Auffassung, Konzentration und Merkfähigkeit ungestört. Der Affekt war im Wesentlichen stabil, nur teilweise inhaltsabhängig affektlabil, dies nachvollziehbar vor dem problematischen psychosozialen Hintergrund. Es fanden sich im Laufe der mehrstündigen Begutachtung weder Zeichen von Erschöpfung, noch ein Nachlassen der Konzentrationsfähigkeit. Zwar nannte der Kläger einige Aspekte, die auf einen gewissen sozialen Rückzug schließen lassen könnten. So hat er sich in den letzten Jahren weniger mit Freunden getroffen, ist seltener ins Café oder in Spielhallen gegangen und hat auch weniger Reisen etwa in die Türkei unternommen. Als Gründe hierfür hat er allerdings selbst eher äußerlich limitierende Faktoren, wie z.B. mangelnde finanzielle Mittel, Konflikte mit Freunden, denen er Geld schulde oder das nicht mehr vorhandene Auto angegeben. Depressive Komponenten wie Antriebslosigkeit, schnelle Erschöpfung oder Schmerzen als Hinderungsgrund hat der Kläger weder positiv benannt noch vermag der Senat solche aus den übrigen Schilderungen des Klägers abzuleiten. Mit Dr. F und Dr. B2 vermag daher auch der Senat keine überdauernde depressive oder die Diagnose einer Schmerzstörung stützende Symptomatik zu erkennen, die das Leistungsvermögen des Klägers – über die von Dr. B2 hinaus angenommenen Einschränkungen – in zeitlicher Hinsicht einschränken. Der von Dr. B2 (abweichend von Dr. F) angenommenen Dysthymia kann durch die von dem Sachverständigen genannten qualitativen Einschränkungen (kein besonderer Zeitdruck, keine fordernden sozialen Interaktionen oder sonstige Stressfaktoren) hinreichend Rechnung getragen werden. In zeitlicher Hinsicht kann der Kläger auch nach der Überzeugung des Senats mit Blick auf die diagnostizierte Dythymia vollschichtig arbeiten. Nachdem Auffassung, Konzentration, Merkfähigkeit, Gedächtnis- und Aufmerksamkeit im Rahmen der jeweils mehrstündigen gutachterlichen Untersuchungen bei Dr. F und Dr. B2 bis zuletzt ungestört waren, vermag der Senat insbesondere in zeitlicher Hinsicht keine Einschränkung etwa des Durchhaltevermögens zu erkennen.

Die darüber hinaus von Dr. B2, teilweise auch Dr. F benannten gesundheitlichen Beeinträchtigungen - anklingende agoraphobisch gefärbte Panikattacken (jedoch ohne richtungsweisendes Vermeidungsverhalten), iatrogen begünstigte Benzodiazepingewöhnung (auf niedrigem Niveau: regelmäßige Einnahme des Schlafmittels Tafil), Spielsucht, berichtete Asthmabeschwerden bei gleichwohl fortdauerndem erheblichem Nikotinabusus mit 30 Zigaretten täglich, mit Hörgeräten gut kompensierte Hypakusis und Zustand nach Operation einer Keratozyste am Kiefer - führen weder in qualitativer Hinsicht noch in zeitlicher Hinsicht zu weiteren Einschränkungen. Auch der Senat vermag im Verhalten des Klägers, insbesondere mit Blick auf die bereits geschilderten Alltags- und Freizeitaktivitäten nicht zu erkennen, inwieweit er durch die angedeuteten agoraphobisch geprägten Panikattacken an der Ausübung einer beruflichen Tätigkeit, die üblicherweise in räumlich begrenztem Rahmen stattfindet, gehindert sein könnte. Das Schlafmittel Tafil nimmt der Kläger seit Jahren ein. Auch wenn hierdurch ein Abhängigkeitspotenzial begründet ist, vermochten weder Dr. F noch Dr. B2 beim Kläger hieraus resultierende Einschränkungen zu benennen. Entsprechendes gilt für Spielsucht, Nikotinabusus und Hörminderung. Alle diese Gesundheitsbeeinträchtigungen bestehen seit Jahren und haben den Kläger insbesondere auch nicht an der Ausübung seiner letzten Berufstätigkeit bei der Firma A gehindert.

Zu keinem anderen Ergebnis führen auch die teilweise davon abweichenden diagnostischen bzw. Leistungseinschätzungen der behandelnden Ärzte (Allgemeinmediziner Dr. A1, Neurologe und Psychiater Dr. K) sowie der behandelnden Ärzte in der S-Klinik. Deren Einschätzungen hält der Senat aufgrund der überzeugenden Ausführungen der Sachverständigen für widerlegt. Nachvollziehbar für den Senat ist, dass für den Kläger auf Grund des Verlustes seiner Arbeitsstelle, der Wirbelsäulen-Operation und der Operation im Mundbodenbereich zeitweise Belastungssituationen entstanden sind. Möglicherweise bestanden auch Zeiten depressiver Episoden (etwa während der Behandlung in der S-Klinik), die dann zeitweise Arbeitsunfähigkeit nach sich gezogen haben. Allerdings ergibt sich wie dargelegt aus den eingeholten Gutachten auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet in keiner Weise, dass hierdurch eine derartige Beeinträchtigung des psychischen Zustandes des Klägers eingetreten ist, dass seine Leistungsfähigkeit in dauerhafter Weise zeitlich eingeschränkt oder gar aufgehoben ist.

Auch aus den dem orthopädischen Fachgebiet zuzuordnenden Erkrankungen folgen lediglich qualitative Leistungseinschränkungen, nicht aber eine quantitative Leistungseinschränkung. Zwar besteht auf orthopädischem Fachgebiet ein Wirbelsäulenleiden. Prof. Dr. K1 hat für den Senat überzeugend dargelegt, dass die Versteifung des Bandscheibenfachs zwischen dem vierten und fünften Lendenwirbel und der Verschleiß mehrerer Bandscheiben der Halswirbelsäule mit Funktions- und Belastungsminderungen einhergehen, wobei neurologische Defizite jedoch nicht bestehen. Hieraus folgt für den Kläger die Notwendigkeit eines Verzichts auf Wirbelsäulenzwangshaltungen, Tätigkeiten in gebückter Position sowie überwiegend im Stehen und Gehen. Darüber hinaus ist der Kläger aus orthopädischer Sicht auch nach der Überzeugung des Senats für leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes in einem Umfang von mindestens sechs Stunden leistungsfähig.

Lediglich ergänzend wird darauf hingewiesen, dass entsprechend den Ausführungen von Dr. B2 der Kläger für sich selbst eine berufliche Tätigkeit, die seinen Einschränkungen Rechnung tragen würde, auch gar nicht ausschließt.

Damit kann der Senat sich nicht davon überzeugen, dass die Erkrankungen des Klägers für sich genommen wie auch insgesamt betrachtet seit der Rentenantragstellung zu einer mindestens sechs Monate andauernden auch zeitlichen Leistungseinschränkung geführt haben. Die vorliegenden Gesundheitsbeeinträchtigungen können somit zwar das Spektrum der für den Kläger in Betracht kommenden Tätigkeiten einschränken, sie begründen aber keinen Zweifel an seiner weitgehend normalen betrieblichen Einsatzfähigkeit für leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes.

Soweit der Hausarzt Dr. A1 darauf verwiesen hat, dass der Kläger wegen mangelnder Schulausbildung und seelischen sowie andauernden körperlichen Krankheiten keinen neuen Beruf erlernen könne, macht er sinngemäß geltend, der Kläger sei auf dem Arbeitsmarkt schwer vermittelbar. Jedoch ist die Frage nach dem Vorliegen bzw. Nichtvorliegen einer Erwerbsminderung unabhängig davon zu beantworten, ob die zuständige Arbeitsagentur dem Kläger einen einem Leistungsvermögen entsprechenden Arbeitsplatz anbieten kann. Denn das Risiko, keinen offenen Arbeitsplatz zu finden, ist nicht von der Renten-, sondern grundsätzlich von der Arbeitslosenversicherung zu tragen (BSG in SozR 2200 § 1246 Nr. 137 m.w.N.).

Ein Rentenanspruch kann auch nicht auf die Grundsätze einer schweren spezifischen Leistungsbeeinträchtigung oder einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen gestützt werden. Nach der Rechtsprechung des BSG liegt eine volle Erwerbsminderung ausnahmsweise selbst bei einer mindestens sechsstündigen Erwerbsfähigkeit vor, wenn der Arbeitsmarkt wegen besonderer spezifischer Leistungseinschränkungen als verschlossen anzusehen ist. Dem liegt zugrunde, dass eine Verweisung auf die verbliebene Erwerbsfähigkeit nur dann möglich ist, wenn nicht nur die theoretische Möglichkeit besteht, einen entsprechenden Arbeitsplatz zu erhalten (vgl. BSG, Urteil vom 30.11.1983 - 5a RKn 28/82 - und zuletzt BSG, Urteil vom 11.12.2019 - B 13 R 7/18 R -, juris). Die Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit ist bei Versicherten mit zumindest sechsstündigem Leistungsvermögen für leichte Arbeiten erforderlich, wenn die Erwerbsfähigkeit durch mehrere schwerwiegende gesundheitliche Einschränkungen oder eine besonders einschneidende Behinderung gemindert ist. Eine Verweisungstätigkeit braucht erst dann benannt zu werden, wenn die gesundheitliche Fähigkeit zur Verrichtung selbst leichter Tätigkeiten in vielfältiger, außergewöhnlicher Weise eingeschränkt ist. Ausgehend hiervon liegt beim Kläger unter Berücksichtigung der von ihm zu beachtenden qualitativen Einschränkungen weder eine besondere spezifische Leistungsbeeinträchtigung noch eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vor. Insbesondere ist der Kläger auch in der Lage, einen Arbeitsplatz aufzusuchen. Er kann viermal täglich eine Strecke von 500 m in einem Zeitaufwand von unter 20 min zurücklegen und öffentliche Verkehrsmittel benutzen. Eine sich relevant auf die Gehfähigkeit auswirkende physische oder psychische Störung haben alle Sachverständigen ausgeschlossen. Auch den weiteren vorliegenden medizinischen Befunden lässt sich keine hinreichende Begründung dafür entnehmen, dass der Kläger nicht in der Lage wäre, alleine das Haus verlassen, übliche Wegstrecken zu Fuß zurücklegen und öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Soweit im Abschlussbericht der S-Klinik angegeben ist, dass im Laufe des Aufenthalts auch die Wegefähigkeit eingeschränkt gewesen sei, werden keinerlei Befunde mitgeteilt, aus denen sich dies ergeben sollte.

Der Senat hält den Sachverhalt für ausreichend aufgeklärt und sieht keinen Anlass für weitere Ermittlungen von Amts wegen. Insbesondere besteht keine Veranlassung, wie vom behandelnden Neurologen und Psychiater Dr. K mit vorgelegter fachärztlicher Stellungnahme vom 07.10.2021 zuletzt noch empfohlen, den Kläger durch einen muttersprachlichen Sachverständigen begutachten zu lassen. Den Ausführungen des Sachverständigen Dr. B2, der die Untersuchung des Klägers zunächst ohne Dolmetscher begonnen, sodann im weiteren Verlauf auftragsgemäß einen solchen hinzugezogen hat, lassen sich keinerlei Hinweise dahingehend entnehmen, dass Verständigungs- oder Übertragungsprobleme aufgetreten sein könnten. Entsprechende konkrete Hinweise wurden vom Kläger auch weder während noch im Anschluss an die Untersuchung benannt. Allein der allgemeine Hinweis, dass Dolmetscher dazu neigten, vorhandene psychopathologisch bedingte Inkonsistenzen „zu glätten“, ohne irgendwelche Anhaltspunkte dafür, dass und in welcher Weise das im vorliegenden Fall tatsächlich hätte geschehen sein sollen, reicht insoweit nicht aus.

Den am 18.02.2021 schriftsätzlich gestellten Antrag, ein neurologisch-psychiatrische Gutachten nach § 109 SGG bei Prof. Dr. V einzuholen, hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung nicht mehr aufrechterhalten. Die Einholung dieses Gutachtens konnte auch deshalb unterbleiben, weil - trotz Gestattung ratenweiser Zahlung - der angeforderte Vorschuss nicht bezahlt wurde. Eine besondere Sachlage, die es gerechtfertigt hätte, ausnahmsweise von der Einholung eines Vorschusses abzusehen (vgl. insoweit BSG, BSG, Beschlüsse vom 26. August 1998 - B 9 VS 7/98 B -, juris Rn. 3 und vom 23.09.1997 - 2 BU 177/97 -, juris Rn. 9; LSG Hamburg, Beschluss vom 05.12.2017 - L 3 VE 1/14 -, juris Rn. 6 ff.), war nicht gegeben.

Dem Kläger ist somit keine Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung zu gewähren. Nachdem er 1963 und damit nach dem Stichtag 01.01.1961 geboren ist, kommt - unabhängig von der beruflichen Qualifikation des Klägers - ein Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit gemäß § 240 Abs. 1 SGB VI schon deshalb nicht in Betracht.

Damit ist die Berufung insgesamt zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da Gründe hierfür nicht vorliegen.

Rechtskraft
Aus
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