§ 47 Abs. 1 Satz 1 SGB I eröffnet dem Leistungsberechtigten eine Wahlmöglichkeit zwischen den beiden Auszahlungsarten (Überweisung auf ein Konto oder Übermittlung an den Wohnsitz). Der Leistungsberechtigte ist nicht zur Einrichtung eines Kontos verpflichtet.
Der Begriff des Wohnsitzes im Sinne des § 47 Abs. 1 Satz 1 SGB I ist so zu verstehen, dass damit nicht die Wohnung des Leistungsberechtigten, sondern nur die kleinste politische Einheit gemeint ist.
Verlangt der Leistungsberechtigte gemäß § 47 Abs. 1 Satz 1 SGB I die Übermittlung der Leistungen an seinen Wohnsitz, steht der Behörde grundsätzlich ein Auswahlermessen zu. Eine Ermessensreduzierung auf Null kann sich aufgrund des Wunschrechts des Leistungsberechtigten aus § 33 Satz 2 SGB I ergeben.
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Neuruppin vom 4. April 2022 geändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller den ihm bewilligten Regelbedarf für die Zeit vom 1. April 2022 bis zum 30. Juni 2022 unter Abzug der Übermittlungskosten als Scheck an seine Anschrift zu übermitteln. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers werden für beide Rechtszüge von dem Antragsgegner erstattet.
Gründe
Die am 12. April 2022 eingegangene Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Neuruppin vom 4. April 2022 ist zulässig und im tenorierten Umfang begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht das sinngemäße Begehren vollständig abgelehnt, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, den dem Antragsteller gewährten Regelbedarf nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB II) mit einem Scheck an dessen Anschrift zu übermitteln und ihm Akteneinsicht zu gewähren.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig. Das Rechtsschutzbedürfnis ist zu bejahen, obwohl sich der Antragsteller – soweit das anhand der vorliegenden Verwaltungsvorgänge ersichtlich ist – vor der Inanspruchnahme des Sozialgerichts nicht mit seinem konkreten Begehren an den Antragsgegner gewandt hat (vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 30. Oktober 2009, 1 BvR 2442/09, Rn. 3; hier und nachfolgend alles zitiert nach JURIS), denn der Antragsgegner hat sich auf den Antrag mit der Antrags- und der Beschwerdeerwiderung in der Sache auf die geltend gemachten Ansprüche eingelassen, ohne Einwände gegen die Zulässigkeit zu erheben (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 22. November 2021, 6 VR 4.21, Rn. 9; Urteil vom 25. November 2020, 6 C 7.19, Rn. 36; Beschluss vom 26. Oktober 2017, 6 VR 1.17, Rn. 10).
Der Antrag ist hinsichtlich der begehrten Scheckübermittlung auch begründet. Der Antragsteller, der über kein Zahlungskonto verfügt, hat im Sinne des § 86b Abs. 2 Satz 2 und Satz 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) in Verbindung mit § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund mit der für die Vorwegnahme der Hauptsache erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht.
Der Anordnungsanspruch folgt aus § 47 Abs. 1 des Ersten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB I) in der seit dem 1. Dezember 2021 geltenden Fassung vom 12. Juni 2020 (BGBl. I S. 1248). Danach werden Geldleistungen, soweit die besonderen Teile dieses Gesetzbuchs keine Regelung enthalten, kostenfrei auf das angegebene Konto bei einem Geldinstitut, für das die Verordnung (EU) Nr. 260/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. März 2012 zur Festlegung der technischen Vorschriften und der Geschäftsanforderungen für Überweisungen und Lastschriften in Euro und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 924/2009 (ABl. L 94 vom 30. März 2012, S. 22) gilt, überwiesen oder, wenn der Empfänger es verlangt, an seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt innerhalb des Geltungsbereiches dieser Verordnung übermittelt.
Das Bundessozialgericht hat zu einer früheren Fassung der Regelung entschieden, dass der Leistungsberechtigte zwischen den beiden Auszahlungsarten – Überweisung auf ein Konto oder Übermittlung an den Wohnsitz – eine Wahlmöglichkeit hat (Urteil vom 12. September 1984, 10 RKg 15/83, Rn. 10). Dass sich daran etwas durch die Neufassung ändern sollte, ist weder dem aktuellen Wortlaut der Regelung noch der Gesetzesbegründung zu entnehmen, in der es ausdrücklich heißt, dass Leistungsberechtigte weiterhin die Möglichkeit haben, auf Verlangen die Geldleistung an ihren Wohnsitz beziehungsweise an ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort im Inland oder im europäischen Ausland übermitteln zu lassen (BT-Drucksache 19/17586, S. 81).
Die Voraussetzungen des § 47 Abs. 1 SGB I sind hier erfüllt. Der Antragsteller ist Empfänger von Geldleistungen. Der Antragsgegner gewährte ihm zuletzt mit Bescheid vom 18. Oktober 2021 und Änderungsbescheid vom 23. Dezember 2021 laufende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit vom 1. Dezember 2021 bis zum 30. November 2022. Der Antragsteller verlangt auch die Übermittlung der Leistungen an seinen Wohnsitz. Eine besondere Regelung über den Zahlungsweg ist im SGB II nicht mehr enthalten, nachdem § 42 Abs. 3 SGB II mit Wirkung ab dem 1. Dezember 2021 aufgehoben wurde.
Demnach ist der Antragsgegner auf der Rechtsfolgenseite des § 47 Abs. 1 SGB I zur Übermittlung der Leistungen an den Wohnsitz des Antragstellers verpflichtet. Allerdings ist der Begriff des Wohnsitzes im Sinne des § 47 Abs. 1 SGB I nach ganz herrschender Meinung, die der Senat teilt, so zu verstehen, dass damit nicht die Wohnung des Leistungsberechtigten, sondern nur die kleinste politische Einheit gemeint ist (Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 13. Februar 2020, L 15 SO 245/16, Rn. 38; Landessozialgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 19. März 2015, L 5 SO 229/14, Rn. 13; Landessozialgericht Sachsen-Anhalt 19. Dezember 2013, L 4 P 21/13 B ER, Rn. 23; Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 16. April 2013, L 11 R 190/12, Rn. 32; Moll, in Hauck/Noftz, SGB I, Stand Juni 2021, § 47 Rn. 4; Pflüger, in Schlegel/Voelzke, SGB I, Stand August 2021, § 47 Rn. 30). Das ist hier die Stadt Neuruppin.
Somit steht dem Antragsgegner grundsätzlich ein Auswahlermessen hinsichtlich der Frage zu, wie er die Übermittlung der Leistungen an den Wohnsitz bewirkt. Der Antragsteller kann mit seinem Begehren demnach nur bei einer Ermessensreduzierung auf Null durchdringen, also wenn sich die Übermittlung der Leistungen an seine Anschrift als die einzig denkbare ermessensfehlerfreie Entscheidung erweist. Das kann zum Beispiel dann angenommen werden, wenn ein Leistungsberechtigter wegen Krankheit oder Behinderung zur Abholung der Leistungen außerstande ist (vgl. Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 13. Februar 2020, L 15 SO 245/16, Rn. 38; Landessozialgericht Sachsen-Anhalt 19. Dezember 2013, L 4 P 21/13 B ER, Rn. 25; Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 16. April 2013, L 11 R 190/12, Rn. 34).
Hier ist eine Ermessensreduzierung auf Null zu bejahen. Sie ergibt sich daraus, dass gemäß § 33 Satz 2 SGB I bei der Ausgestaltung von Rechten oder Pflichten, deren Inhalt nach Art oder Umfang nicht im Einzelnen bestimmt ist, den Wünschen des Berechtigten oder Verpflichteten entsprochen werden soll, soweit sie angemessen sind.
Der Wunsch des Antragstellers ist unter Berücksichtigung der Verhältnisse des Einzelfalles angemessen. Bei der Prüfung der Angemessenheit sind die Belange des Leistungsträgers einschließlich der von ihm zu vertretenen Interessen der Allgemeinheit beziehungsweise der Versichertengemeinschaft gegen die Interessen des Leistungsberechtigten abzuwägen. Ein Wunsch ist dann unangemessen, wenn zu seiner Erfüllung ein besonderer Verwaltungsaufwand der Behörde notwendig wäre, der in keinem vernünftigen Verhältnis zu den mit der Erfüllung des Wunsches für den Berechtigten verbundenen objektiven oder vermeintlichen Vorteilen steht (Bundessozialgericht, Urteil vom 12. September 1984, 10 RKg 15/83, Rn. 15).
Das ist hier nicht der Fall. Insoweit ist zwar zu Gunsten des Antragsgegners zu berücksichtigen, dass die von der Überweisung abweichenden Zahlungswege einen größeren Verwaltungsaufwand zur Folge haben (vgl. „Kosten der Bar-Übermittlung für Hartz-IV-Betroffene“, BT-Drucksache 19/19412). Zudem trägt bei einer Geldschuld entsprechend § 270 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) grundsätzlich der Schuldner – hier also der Antragsgegner – die Gefahr der Übermittlung (Hengelhaupt, in Hauck/Noftz, SGB II, Stand: Dezember 2016, § 42 Rn. 135; Pflüger, in Schlegel/Voelzke, SGB I, Stand: August 2021, § 47 Rn. 34; Lilge, in Lilge/Gutzler, SGB I, 5. Auflage 2019, § 47 Rn. 8).
Die Interessen des Antragsgegners müssen hier jedoch wegen der Besonderheiten des Sachverhalts zurücktreten. Nach Maßgabe der oben genannten Bescheide wurden hier die Regelbedarfe für die Zeit bis zum 31. März 2022 zunächst jeweils in der Form eines Schecks erbracht, den der Antragsteller im Rahmen einer persönlichen Vorsprache im Dienstgebäude abholte. Mit Bescheid vom 11. März 2022 verhängte der Antragsgegner jedoch gegen den Antragsteller unter Anordnung der sofortigen Vollziehung ein unbefristetes Hausverbot für die Dienstgebäude. Weiter teilte er ihm mit Schreiben vom 18. März 2022 mit, dass die punktuelle Aufhebung des Hausverbotes zur Abholung des Schecks nicht in Betracht komme, weil der Antragsteller die Eröffnung eines Basiskontos beanspruchen könne.
Mit dieser Argumentation dringt der Antragsgegner jedoch nicht durch. Der Antragsteller ist nicht zur Einrichtung eines Kontos verpflichtet, was sich schon aus der Wahlmöglichkeit in § 47 Abs. 1 SGB I ergibt (Moll, in Hauck/Noftz, SGB I, Stand Juni 2021, § 47 Rn. 4; Pflüger, in: Schlegel/Voelzke, SGB I, Stand: August 2021, § 47 Rn. 17; Lilge, in Lilge/Gutzler, SGB I, 5. Aufl. 2019, § 47 Rn. 28; vgl. auch Sächsisches Landessozialgericht, Urteil vom 18. Juli 2013, L 3 AS 770/13, Rn. 65). Zwar hat er grundsätzlich aus § 31 Abs. 1 Satz 1 des Zahlungskontengesetzes (ZKG) einen Anspruch auf Abschluss eines Basiskontovertrages. Darauf kann der Antragsteller aber gegenwärtig schon aus tatsächlichen Gründen nicht verwiesen werden. Er hat vorgetragen, dass er gegenwärtig über keinen gültigen Personalausweis verfüge und deshalb kein Konto eröffnen könne. Das hat er auch glaubhaft gemacht durch Übersendung einer Ablichtung seines bisherigen Personalausweises, woraus sich ergibt, dass dieser nur bis zum 15. Juni 2015 gültig war. Nach Auskunft der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht ist aber zur Eröffnung eines Basiskontos ein gültiger amtlicher Ausweis erforderlich, der ein Lichtbild des Inhabers enthalten muss und die Pass- und Ausweispflicht im Inland erfüllt (vgl. www.bafin.de).
Soweit der Antragsgegner für den Antragsteller mit der zuständigen Behörde einen Termin zur Beantragung eines vorläufigen Personalausweises am 11. Mai 2022 vereinbart hat, ist der Antragsteller dem Termin mit dem glaubhaften Vorbringen ferngeblieben, dass er wegen des fehlenden Regelbedarfes für die Beschaffung der nötigen Lichtbilder und für die anfallende Ausweisgebühr kein Geld habe. Hinsichtlich der Gebühr für einen vorläufigen Personalausweis, die gemäß § 1 Abs. 2 Satz 1 der Personalausweis- und eID-Karten-Gebührenverordnung (PAuswGebV) 10,00 EUR beträgt, kann zwar gemäß § 1 Abs. 6 PAuswGebV eine Ermäßigung vorgenommen oder von der Erhebung abgesehen werden, wenn die Person, die die Gebühr schuldet, bedürftig ist. Ob sich der Antragsteller darauf berufen könnte, ist jedoch offen, da allein der Bezug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts noch keine Bedürftigkeit begründet, sondern weitere Härtegründe erforderlich sind und die zuständige Behörde zudem Ermessen auszuüben hat (vgl. Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 23. November 2017, 5 B 3.16, Rn. 39). Jedenfalls muss der Antragsteller für die Lichtbilder aufkommen, wofür er wegen des fehlenden Regelbedarfes aber keine finanziellen Mittel hat.
Zu Gunsten des Antragstellers fällt zudem besonders ins Gewicht, dass der Antragsgegner als Grundsicherungsträger im Rahmen des staatlichen Auftrages zum Schutz der Menschenwürde verpflichtet ist, die materiellen Voraussetzungen für dieses menschenwürdige Dasein zur Verfügung zu stellen. Die den Anspruch fundierende Menschenwürde geht selbst durch vermeintlich unwürdiges Verhalten nicht verloren. Sie kann selbst demjenigen nicht abgesprochen werden, dem schwerste Verfehlungen vorzuwerfen sind (Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 5. November 2019, 1 BvL 7/16, Rn. 120).
Handelt es sich somit um einen angemessenen Wunsch, folgt aus dem Wortlaut des § 33 Satz 2 SGB I („soll“), dass der Leistungsträger im Regelfall verpflichtet ist, dem Wunsch nachzukommen (Bundessozialgericht, Urteil vom 14. August 2003, B 13 RJ 11/03 R, Rn. 22). Diese Verpflichtung greift hier durch, da für einen atypischen Fall keine Anhaltspunkte ersichtlich sind.
Die Kosten der Scheckübermittlung sind gemäß § 47 Abs. 1 Satz 2 SGB I von dem Regelbedarf abzuziehen. Dass dem Antragsteller die Einrichtung eines Kontos im Sinne des § 47 Abs. 1 Satz 2 SGB I ohne eigenes Verschulden unmöglich ist, hat dieser nicht nachgewiesen. Das Fehlen des Personalausweises hat der Antragsteller zu vertreten. Er ist seiner Verpflichtung zum Besitz eines gültigen Ausweises aus § 1 Abs. 1 Satz 1 des Personalausweisgesetzes (PAuswG) nicht nachgekommen.
Der Anordnungsgrund – also das eilige Regelungsbedürfnis – hinsichtlich der Scheckübermittlung ergibt sich bereits aus dem Fehlen des Regelbedarfes, ohne den der Antragsteller seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten kann. Die Stattgabe erfolgt bereits für die Zeit ab dem 1. April 2022, da der bewilligte Regelbedarf dem Antragsteller unzweifelhaft zusteht. Jedoch ist die Stattgabe auf die Zeit bis zum 30. Juni 2022 zu begrenzen, da eine einstweilige Anordnung grundsätzlich nur der Abwendung einer gegenwärtigen Notlage dienen kann.
Hinsichtlich der Akteneinsicht hat der Antragsteller jedenfalls keinen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass ihm wesentliche Nachteile im Sinne des § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG drohen, wenn er vorläufig keine Akteneinsicht erhält.
Die Kostenentscheidung folgt aus der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG. Das Unterliegen des Antragstellers hinsichtlich der Akteneinsicht fällt im Verhältnis zur Stattgabe bezüglich der Scheckübermittlung nicht wesentlich ins Gewicht.
Dieser Beschluss kann gemäß § 177 SGG nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden.