1. Der Nachweis des B-Kriteriums einer PTBS (Wiedererleben) erfordert nicht zwingend eine zeitnahe fachspezifische Untersuchung. Eine Dokumentation der Symptomatik durch den Hausarzt kann ausreichend sein und auch das Verhalten des Unfallverletzten in der gutachterlichen Untersuchung Rückschlüsse hierauf zulassen.
2. Das C-Kriterium erfordert weder nach DSM-5 oder ICD-10 noch nach der AWMF-Leitlinie einen definierten Zeitraum. Ein Vermeidungsverhalten muss lediglich zu irgendeinem Zeitpunkt im Verlauf von spätestens drei bis sechs Monaten nach dem Unfall nach einer kritischen Würdigung der Vorbefunde und der gutachterlich erhobenen Befunde ohne vernünftigen Zweifel nachweisbar sein.
3. Die Beschwerdevalidierung ist grds. wesentlicher Bestandteil jeder Begutachtung und besteht nicht aus einem einzelnen Befund, sondern aus zahlreichen Bausteinen, z.B. kritische Nachfrage zu in den Akten erkennbaren Widersprüchlichkeiten, Verhaltensbeobachtung während der gutachterlichen Untersuchung, Fragebögen/ Tests sowie ggf. der Blutspiegelbestimmung bzgl. Medikamenteneinnahme.
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 3. Mai 2019 aufgehoben. Auf die Anschlussberufung des Klägers wird die Beklagte verurteilt, bei dem Kläger unter Abänderung des Bescheides vom 30. November 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. November 2017 eine PTBS als weitere Unfallfolge anzuerkennen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Beklagte trägt ein Drittel der außergerichtlichen Kosten des Klägers.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um Folgen und Ansprüche aufgrund des Arbeitsunfalls vom 2. August 2015.
Der 1970 geborene Kläger ist seit 1992 als Kundendienstmitarbeiter bei der Deutschen Bahn AG beschäftigt und wurde am 2. August 2015 während seines Dienstes am E-Stadt Hauptbahnhof Zeuge eines Gleissuizids.
Nach eigenen Angaben des Klägers habe sich der Suizidant auf dem Bahnsteig zunächst mit ihm unterhalten und sich nach dem Zug nach Amsterdam erkundigt, sei dann aber nicht in den Zug eingestiegen, sondern losgerannt. Er sei ihm nachgerannt, habe ihn dann aber nicht mehr gesehen. Der Zug habe gestoppt. Er sei dann selbst die Gleise entlang zurückgegangen, um nach der Person zu suchen und habe schließlich deren zweigeteilten Leichnam seitlich liegend vorgefunden. Er habe das Geschehen sodann per Funk an die Zentrale gemeldet. Danach sei der Bereich abgesperrt worden, Bundespolizei und Staatsanwaltschaft seien gekommen und er sei von Kollegen in einen Aufenthaltsraum gebracht worden. Dort sei er etwa eineinhalb Stunden geblieben und dann mit der S-Bahn nach Hause gefahren. Zu Hause sei er ziemlich durcheinander gewesen und lange mit seinem Hund spazieren gegangen. Abends sei er recht unruhig gewesen und habe auch nicht schlafen können.
Nach dem Bericht des Allgemeinmediziners Dr. C. stellte sich der Kläger dort am 3. August 2015 aufgrund des Gleissuizids vor und klagte über Schlafstörungen. Es wurde befundet, dass der Kläger posttraumatisch extrem mitgenommen sei und eine Arbeitsunfähigkeit bis zum 9. August 2015 bescheinigt. Am 10. August 2015 stellte sich der Kläger wegen des Arbeitsunfalls bei dem Allgemeinmediziner Dr. D. vor, der den Verdacht auf eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) äußerte und Arbeitsunfähigkeit bis zum 16. August 2015 bescheinigte. Danach übte der Kläger nach Angaben seines Arbeitgebers zunächst wieder seine übliche Tätigkeit aus.
Aus den Angaben seiner Krankenkasse ergibt sich, dass der Kläger wegen einer PTBS erneut vom 1. bis 21. Februar 2016 sowie ab dem 29. April 2016 von Dr. D. arbeitsunfähig geschrieben wurde. Aus dem Vorerkrankungsverzeichnis der Krankenkasse gehen für die Jahre vor dem Unfallereignis keine Arbeitsunfähigkeitszeiten wegen psychischer Erkrankungen hervor. Später gab der Kläger an, dass er sich auch ab Mitte Oktober 2015 vier Wochen durch einen Orthopäden habe krankschreiben lassen. Er sei nicht zu einem anderen Arzt gegangen, um nicht erzählen zu müssen, welche Probleme er bei der Arbeit habe.
Am 15. Juni 2016 stellte sich der Kläger auf Anraten des Gesundheitsdienstes seines Arbeitgebers in der psychosomatischen Notfallambulanz der Universitätsklinik Gießen bei der Fachärztin für psychosomatische Medizin und Psychotherapie Dr. E. wegen des Arbeitsunfalls vor. Aus dem Arztbrief hierüber geht hervor, dass der Kläger nach seinen Angaben zunächst mit dem Ereignis zurechtgekommen sei, im Verlauf der nächsten zwei bis drei Monate aber zunehmend psychische Probleme entwickelt habe. Als Beschwerden gab er Flash-backs, Albträume, Schlaf- und Konzentrationsstörungen, sozialen Rückzug, Antriebslosigkeit, Schreckhaftigkeit und Ängstlichkeit an. Dr. E. stellte die Diagnose PTBS. Danach begann der Kläger eine Psychotherapie bei Dr. E.
Am 29. Juni 2016 stellte sich der Kläger nach Aufforderung durch die Krankenkasse erstmals bei einem Durchgangsarzt (Dr. F.) vor, der als Erstdiagnose ebenfalls eine PTBS stellte.
Aus dem Erstbericht Psychotherapeutenverfahren vom 22. September 2016 von Dr. E. gehen als weitere Beschwerden – über die im Arztbrief über die Ambulanzvorstellung genannten hinaus – eine depressive Verstimmung und Reizbarkeit hervor. Dr. E. nennt unter „vorläufige Diagnose“ eine PTBS und hielt eine längerfristige traumaspezifische Behandlung für erforderlich. Als weiteres belastendes Ereignis wurde im Folgebericht der Tod des zwei Jahre älteren Bruders am 24. September 2016 genannt. Dieser war nach Angaben des Klägers wenige Wochen nach einer Krebsdiagnose an dieser Erkrankung verstorben.
Die Beklagte holte eine beratungsärztliche Stellungnahme bei dem Neurologen und Psychiater Dr. G. ein. Dieser kritisierte, dass im psychischen Befund eine depressive Symptomatik beschrieben werde, aber ein unfallexplorativer Befund fehle. Es sei eine akute Belastungsreaktion aufgrund des Ereignisses verstehbar, welche eine Arbeitsunfähigkeit bis zum 16. August 2015 rechtfertige. Eine PTBS als Unfallfolge sei hingegen nicht begründbar. Insbesondere der zeitliche Ablauf mit primärer Arbeitsunfähigkeit von zwei Wochen und Verschlimmerung nach mehr als einem halben Jahr spreche dagegen. Auch die beantragte Therapieform (tiefenpsychologische Behandlung) spreche gegen eine PTBS, da diese eine Verhaltenstherapie indizieren würde.
Daraufhin erkannte die Beklagte das Ereignis mit Bescheid vom 30. November 2016 als Arbeitsunfall mit der Unfallfolge akute Belastungsreaktion an und stellte gleichzeitig fest, dass unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit und Behandlungsbedürftigkeit bis zum 16. August 2015 bestanden hätten. Ein Anspruch auf Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung, hier insbesondere die Kosten der Heilbehandlung und eventuell Entgeltersatzleistungen, bestehe danach nicht mehr, da darüber hinaus im Bereich der Psyche festgestellte Veränderungen nicht im Zusammenhang mit dem Unfallereignis stünden.
Dagegen legte der Kläger Widerspruch ein, da er eine PTBS als Unfallfolge betrachtet, und begehrte die Einholung eines neurologisch-psychiatrischen Sachverständigengutachtens. Ausweislich eines Arztbriefs der Diplom-Psychologin H., bei der sich der Kläger erstmalig am 4. Juli 2017 vorstellte, stellte diese ebenfalls die Diagnose einer PTBS. Der Kläger habe über sich aufdrängende Bilder des miterlebten Suizids berichtet sowie über Albträume, Schlafstörungen, Anhedonie, depressive Stimmung und Schuldgefühle, ob er den Suizid nicht hätte verhindern können. Primärpersönlich habe sich der Kläger als einen lebensfrohen Menschen geschildert, der vor dem Unfall Freude an seiner Arbeit gehabt habe, selten krank gewesen und im privaten Bereich vielfältigen sozialen Aktivitäten nachgegangen sei. All das sei jetzt nicht mehr der Fall. Im psychischen Befund sei u.a. die depressive Symptomatik aufgefallen. Der Kläger wirke hilf- und ratlos und vermittele glaubhaft den Eindruck, dass sein Leben seit August 2015 durcheinandergeraten sei. Es hätten sich keine Anhaltspunkte für Aggravation ergeben.
Die Beklagte holte ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten bei Dr. J. vom 1. September 2017 ein, mit abschließender Stellungnahme vom 17. Oktober 2017 nach Vorlage des angeforderten psychologischen Berichts des Diplom-Psychologen M. Der Dipl.-Psych. M. führte aus, dass anhand seiner Untersuchung Unfallfolgen nicht mit der notwendigen Sicherheit nachweisbar seien. Die Symptome einer PTBS würden sich zwar aus den Aussagen des Klägers ergeben. Danach habe er zwar gearbeitet, dies aber unter Vermeidung bestimmter Aspekte hierbei. Er habe Angst gehabt und sei irgendwann überfordert gewesen. Ein Wiedererleben sei in Form von Albträumen gegeben und ein Vermeidungsverhalten bestehe ebenfalls weiterhin. Ein Nachweis dieser Symptomatik über die Aussage des Klägers hinaus sei jedoch nicht möglich. Ein authentischer Leidenskern ließe sich lediglich aus dem klinischen Befund ableiten, aber ohne dass dieser sicher einer psychoreaktiven Genese zugeordnet werden könne. Durch das Unfallereignis möge es zu einer zeitweisen Überlastung gekommen sein und eine gewisse psychoreaktive Symptomatik sei auch noch aktuell vorhanden. Allerdings bestünde eine Aggravations- oder Simulationsneigung, da der Kläger die Symptome deutlich stärker darstelle, als sie tatsächlich seien. Die Gründe hierfür seien unklar, möglicherweise komme eine Überforderung mit der beruflichen Gesamtsituation in Betracht. In drei der durchgeführten Beschwerdevalidierungsverfahren hätten sich Hinweise auf eine negative Antwortverzerrung gezeigt. Zumindest für die bestehende depressive Symptomatik des Klägers seien zudem konkurrierende Ursachen erkennbar (Schwangerschaftsabbruch seiner früheren Freundin entgegen seinem Wunsch, keine Beziehung, Kinderlosigkeit, Tod des Bruders). In der abschließenden Beurteilung kommt Dr. J. unter Bezugnahme auf die nicht valide Testpsychologie zu dem Ergebnis, dass eine eindeutige Diagnostik nicht möglich sei. Allerdings sei eine Traumafolgestörung im engeren Sinne in der Initialphase auch mit authentischem Beschwerdekern wohl anzunehmen, welche im weiteren Verlauf eine gewisse Akzentuierung gezeigt habe, wahrscheinlich im Rahmen einer chronischen Überforderung. Es sei davon auszugehen, dass sich die Beschwerden des Klägers durch den Tod des Bruders ganz erheblich verstärkt hätten und dann erst eine zunehmend depressive Auslenkung eingetreten sei, auch zum Teil mit assoziierten Symptomen. Eine adäquate Bewertung der Unfallfolgen sei ausgesprochen schwierig.
Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 20. November 2017 unter Bezugnahme auf die eingeholten Gutachten zurück. Das Unfallereignis vom 2. August 2015 sei danach nicht wesentliche Ursache für die bei dem Kläger über eine akute Belastungsreaktion hinaus bestehende psychische Symptomatik. Aufgrund der von dem Dipl.-Psych. M. durchgeführten Testdiagnostik sei eine bewusstseinsnahe Verdeutlichung anzunehmen. Eine fortbestehende Traumafolgestörung habe sich durch die Gutachten nicht beweisen lassen.
Dagegen hat der Kläger am 28. November 2017 vor dem Sozialgericht Gießen (Sozialgericht) Klage erhoben, da sehr wohl ein Zusammenhang zwischen seiner aktuell andauernden Erkrankung und dem Unfallgeschehen vom 2. August 2015 bestehe. Er leide weiterhin erheblich unter dem Unfallereignis und befinde sich weiterhin in psychiatrisch-psychotherapeutischer Behandlung seit dem 21. April 2017 bei Dr. K. sowie seit September 2017 bei der Psychotherapeutin L.
Der Kläger hat eine fachärztliche Stellungnahme des Psychiaters Dr. K. vom 8. Januar 2018 vorgelegt, der die Diagnose einer PTBS stellt und im Zentrum des Befundes Flash-Backs, depressive Verstimmungen, Ängste, Schlafstörungen, Albträume, innere Unruhe und psychosomatische Symptome beschreibt. Dem Gutachten von Dr. J. sei nicht zu folgen. Eine Mitbestimmung des Beschwerdebildes durch unfallfremde Faktoren sei vorliegend ebenso wenig belegt wie die Behauptung, dass der Kläger die Symptome stärker darstelle, als sie seien. Es liege – auch unabhängig von einer möglichen Überlagerung des Beschwerdebildes durch unfallfremde Faktoren – eine PTBS vor, die möglicherweise bereits in eine überdauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung übergegangen sei.
Außerdem hat der Kläger einen Bericht über die von ihm vom 9. Januar bis 6. Februar 2018 durchgeführte Reha-Maßnahme in den Helios Rehakliniken C-Stadt (Abteilung Psychosomatik) vorgelegt. Auch hier gab der Kläger an, sich Vorwürfe zu machen, ob er den Suizid nicht hätte verhindern können. Als Diagnosen werden eine PTBS sowie eine mittelgradige Depression genannt. Die PTBS sei Folge der Konfrontation mit dem Suizid eines Menschen während der Arbeitszeit. Außerdem wird eine gewisse Vulnerabilität durch ängstlich-unsichere Persönlichkeitszüge beschrieben, bedingt durch ein etwas überbehütendes und harmonisierendes Elternhaus und eine sehr starke Bindung insbesondere an die Mutter. Der Tod des Bruders stelle zwar ebenfalls eine Belastung für den Kläger dar, spiele aber für die aktuelle Symptomatik keine wesentliche Rolle.
Seit dem 1. März 2018 bezieht der Kläger eine Rente wegen voller Erwerbsminderung vom Rentenversicherungsträger, derzeit befristet bis 2022.
Das Sozialgericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines psychiatrischen Zusammenhangsgutachtens von Amts wegen bei Dr. N., welches dieser am 26. Mai 2018 erstattete. Diesem gegenüber gab der Kläger als Hauptproblem an, dass er sich nicht von den Schuldgefühlen distanzieren könne, ob er den Suizid nicht hätte verhindern können. Er habe bis zu dem Zeitpunkt, als der Mann gesprungen sei, Blickkontakt zu diesem gehabt; vielleicht habe dieser ihm etwas sagen wollen. Dr. N. diagnostizierte eine PTBS, die im Sinne der Entstehung durch den Arbeitsunfall verursacht worden sei und bewertet die MdE mit 20 v.H. Da der Dipl.-Psych. M. die Beschwerdevalidierungsverfahren, welche eine negative Antwortverzerrungen gezeigt hätten, weder benannt noch die Tests dem Gutachten beigefügt habe, seien die Ergebnisse nicht nachvollziehbar. Im Übrigen stimme er auch nicht den Ausführungen der Beklagten und ihres Beratungsarztes zu, dass sich durch den Tod des Bruders die Beschwerden erheblich verstärkt hätten, da die psychische Beschwerdesymptomatik bereits am 15. Juni 2016 (Bericht Frau Dr. E.) und damit deutlich vor Bekanntwerden der Erkrankung des Bruders (27. August 2016) fachärztlich dokumentiert worden sei. Aus den Folgeberichten von Dr. E. lasse sich auch keine Verschlechterung des psychischen Befindens nach dem Tod des Bruders erkennen, so dass auch nicht von einer Verschiebung der Wesensgrundlage auszugehen sei.
Daraufhin hat die Beklagte eine Stellungnahme ihres Beratungsarztes, des Neurologen und Psychiaters O. vom 30. Juli 2018 vorgelegt. Danach sei die Diagnose einer PTBS nicht gesichert, da sie in dem Gutachten von Dr. N. rein auf die vom Kläger angegebenen subjektiven Beschwerden/Symptome gestützt werde, welche nicht ausreichend u.a. durch Beschwerdevalidierungsmaßnahmen objektiviert worden seien. Ein Zusammenhang der depressiven Symptomatik mit dem Arbeitsunfall sei vorhanden, da nach wie vor Schuldgefühle bestünden, dass der Kläger dem Suizidanten nicht habe helfen können. Unklar bleibe der Stellenwert des Todes des Bruders. Es liege eine leichte Restsymptomatik einer psychoreaktiven Störung infolge des Arbeitsunfalls vor, welche aufgrund des hohen psychosozialen Funktionsniveaus des Klägers in allen Dimensionen allenfalls mit einer MdE von 10 v.H. zu bewerten sei.
Der Kläger hat hierzu eine fachärztliche Stellungnahme von Dr. K. vom 10. September 2018 vorgelegt. Danach griffen die Einwände von Herrn O. gegen die PTBS-Diagnose des Sachverständigen, welche auch von sämtlichen Behandlern gestellt worden sei, nicht durch. Alle Diagnosen im psychiatrischen und psychosomatischen Fachgebiet beruhten auf den authentischen und plausiblen Mitteilungen der Befindlichkeit des Patienten. Dem Sachverständigengutachten von Dr. N. sei zu folgen.
Das Sozialgericht hat den Sachverständigen Dr. N. ergänzend gehört, der in seiner Stellungnahme vom 5. Oktober 2018 an seiner Einschätzung festgehalten hat. In einem psychiatrischen Gutachten müsse immer versucht werden, die Authentizität der angegebenen Beschwerden durch eine Konsistenzprüfung zu beurteilen. Insoweit seien vorliegend die Beschwerden in den Berichten der behandelnden Ärzte sowie dem Reha-Entlassungsbericht übereinstimmend geschildert worden. Schließlich habe auch Herr O. eine unfallbedingte psychoreaktive Störung bejaht.
Der Beratungsarzt O. bekräftigte in seiner Stellungnahme vom 4. Dezember 2018 erneut, dass subjektive Angaben des Probanden von dem Sachverständigen im persönlichen Gespräch im Rahmen eines psychischen Querschnittsbefundes zu sichern seien, woran es vorliegend fehle.
Das Sozialgericht hat die Beklagte mit Urteil vom 3. Mai 2019 verpflichtet, dem Kläger eine Rente als vorläufige Entschädigung nach einer MdE von 20 v.H. zu gewähren. Zur Begründung hat das Sozialgericht ausgeführt, dass die Klage zulässig sei, da die Beklagte mit dem angegriffenen Bescheid auch allgemein über „Leistungen“ entschieden habe. Die Klage sei begründet, da mit dem Gerichtssachverständigen Dr. N. von einer vollbeweislich gesicherten PTBS auszugehen sei. Es könne unberücksichtigt bleiben, ob der Tod des Bruders des Klägers eine mitverursachende Wirkung gehabt habe. Da das schwerwiegende Unfallereignis jedenfalls wesentlich beigetragen habe, seien die Störungen in der Gesamtheit bei der Bemessung der MdE zu berücksichtigen. Bei der MdE-Bemessung würden für die Rente als vorläufige Entschädigung unter Berücksichtigung von Anpassungsgesichtspunkten andere Maßstäbe gelten, als für die Rente auf unbestimmte Zeit. Daher sei jedenfalls eine Rente als vorläufige Entschädigung nach den im vorliegenden Verfahren dokumentierten Befunden und glaubhaften Schilderungen des Klägers angemessen.
Gegen das ihr am 12. August 2019 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 4. September 2019 Berufung beim Hessischen Landessozialgericht in Darmstadt eingelegt. Es sei bereits fraglich, ob ein etwaiger Anspruch des Klägers auf Gewährung einer Rente als vorläufige Entschädigung zulässiger Streitgegenstand des erstinstanzlichen Verfahrens gewesen sei; der Bescheid vom 30. November 2016 enthalte lediglich im Hinblick auf die Ablehnung eines Anspruchs auf Entgeltersatzleistungen eine ausdrückliche Regelung. Ungeachtet dessen liege bei dem Kläger das Störungsbild einer PTBS nicht vor und es bestehe auch keine unfallbedingte MdE rentenberechtigenden Grades. Eine PTBS-Symptomatik sei bereits nicht - wie erforderlich - innerhalb von sechs Monaten nach dem Unfallereignis dokumentiert worden und auch die Schuldgefühle sprächen gegen das A-Kriterium einer PTBS. Über eine akute Belastungsreaktion hinaus, welche in der Regel nach höchstens einigen Wochen wieder abklinge, sei kein Gesundheitsschaden plausibel zu machen bzw. es fehle an einem Ursachenzusammenhang mit dem Unfallereignis. Das Gutachten von Dr. N. sei aufgrund seiner Mängel keine taugliche Entscheidungsgrundlage und das Sozialgericht sei diesem ohne kritische Auseinandersetzung gefolgt. Im Hinblick auf die von Dr. J. festgestellte Aggravations- und Simulationsneigung wäre eine Beschwerdevalidierung vorliegend unerlässlich gewesen. Die nach den Ausführungen des Sozialgerichts maßgeblichen Merkmale (Albträume, Schlafstörungen, Hypervigilanz), welche zudem allein auf den subjektiven Angaben des Klägers beruhten, könnten bei vielen psychischen Erkrankungen oder auch in der Normalbevölkerung nachgewiesen werden und seien nicht spezifisch für das Vorliegen einer unfallbedingten PTBS. Dr. N. berücksichtige zudem die von ihm benannten Konkurrenzfaktoren nicht hinreichend. Selbst wenn man von einem Ursachenzusammenhang ausginge, ergebe sich jedenfalls keine rentenberechtigende MdE aufgrund des hohen psychosozialen Funktionsniveaus des Klägers. Darüber hinaus hätte das Sozialgericht keine Verurteilung zu einer Rente als vorläufige Entscheidung aussprechen dürfen, sondern allenfalls eine Rente für die zurückliegende Zeit mit zeitlicher Begrenzung. Zudem sei der Tenor auch nicht ausführbar.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 3. Mai 2019 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 30. November 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. November 2017 abzuweisen und die Anschlussberufung zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung der Beklagten zurückzuweisen und im Wege der Anschlussberufung, die Beklagte zu verurteilen, eine PTBS als weitere Unfallfolge anzuerkennen.
Er hält die erstinstanzliche Entscheidung für rechtmäßig und hat Stellungnahmen von Dr. P. vom 26. November 2019 sowie von Dr. K. vom 27. Januar 2020 vorgelegt. Dr. K. hält weiterhin die Diagnose einer PTBS für gesichert. Es habe keine Hinweise auf eine prämorbide Persönlichkeitsstörung des Klägers gegeben. Dies werde auch durch die Wiederaufnahme der Berufstätigkeit und das spätere Eingestehen, der Tätigkeit nicht mehr gewachsen zu sein, bestätigt. Die psychischen Beeinträchtigungen seien auch bereits vor dem Tod des Bruders festgestellt worden und dieser habe keinen Einfluss auf die Entwicklung gehabt. Die Objektivierung der PTBS sei dadurch gegeben, dass mehrere Behandler unabhängig voneinander die gleiche Diagnose gestellt hätten. Auch Dr. P. führt aus, dass weder eine prämorbide Persönlichkeit noch konkurrierende Faktoren nachgewiesen seien. Eine PTBS liege vor und deren Symptome hätten sich auch bereits innerhalb der ersten sechs Monate nach dem Unfall gezeigt, wobei es auf diese Frist nach DSM-V aber nicht mehr ankomme.
Der Senat hat daraufhin von Amts wegen ein nervenärztliches Gutachten bei Prof. Dr. R. vom 2. September 2020 eingeholt. Auch diesem gegenüber schilderte der Kläger Schuldgefühle. Dies sei auch die Situation, die ihm immer wieder vor Augen komme und die er nicht loswerde. Er sehe immer wieder die Bilder von dem Betroffenen auf dem Bahnsteig vor sich. Er leide unter Schlafstörungen, manchmal auch Albträumen und unter Frust bei dem Gedanken, dass möglicherweise nichts passiert wäre, wenn er damals zu dem Suizidanten hingegangen wäre. Der Sachverständige ließ den Kläger verschiedene Fragebogen und Selbstbeurteilungsskalen ausfüllen (HADS, BDI, RS, SCL 90-R, SFSS und IES-R) und wertete diese aus. Nach Auffassung des Sachverständigen sind die Diagnosekriterien einer PTBS erfüllt. Die Zeugenschaft des Suizids erfülle das A-Kriterium und die von dem Kläger beschriebenen Schuldgefühle sprächen auch nicht dagegen, sondern seien vielmehr im D3-Kriterium relevant, was die PTBS-Diagnose unterstütze. Auch das B-Kriterium sei zu bejahen, obwohl über annähernd ein Jahr hinweg keine fachpsychiatrische und/oder psychotherapeutische Betreuung erfolgt sei. Dies könne in der rigiden Persönlichkeitsstruktur des Klägers begründet sein, der sich gegenüber Kollegen erhaben fühlte und nicht habe zugeben wollen, dass gerade er nicht mit der Situation zurechtkomme. Zumindest von mehreren Hausärzten sei jedoch eine psychische Reaktion mit durchaus auch längeren Arbeitsunfähigkeitszeiten dokumentiert, davon das erste Mal am Tag nach dem Ereignis im Sinne einer initialen akuten Belastungsreaktion, so dass letztlich kein vernünftiger Zweifel bestehe, dass die im Juni 2016 von Dr. E. beschriebenen Symptome des Wiedererlebens mit Flash-backs und Albträumen sich tatsächlich bereits im Herbst 2015 entwickelt hätten. Ein Vermeidungsverhalten im Sinne des C-Kriteriums sei erstmals anlässlich der Befragung durch den Dipl.-Psych. M. im Sommer 2017 beschrieben worden. Die unter dem D/E-Kriterium genannten Symptome gehörten nach der aktuellen AWMF-Leitlinie nicht zu den Kernsymptomen einer PTBS, so dass sie auch vorliegend nicht relevant seien. Allerdings seien die Schuldgefühle als irreales „Hängenbleiben" an eingebrannten Denkinhalten zu bewerten, wie dies im DSM-5 als „negative kognitive Veränderungen" (D3-Kriterium) bezeichnet sei. Im Rahmen der aktuellen Begutachtung hätten sich „in der Summe" keine relevanten Implausibilitäten – insbesondere auch nicht bei der kritischen Hinterfragung des Ereignisses und des weiteren Verlaufs im Kontext der Aktenlage ergeben, so dass keine Aggravation oder gar Simulation belegt sei. Die affektive und vegetative Reaktion des Klägers bei der Diskussion des Ereignisses sei authentisch erschienen und werde auch in verschiedenen Vorgutachten so beschrieben. Möglicherweise beruhten die von dem Dipl.-Psych. M. dargestellten Ergebnisse der Beschwerdevalidierungstests auf Sprachschwierigkeiten des nicht nativ deutschsprechenden und mit einem schlechten Zeugnis von der Schule abgegangenen Klägers. Die PTBS sei bis zum Zeitpunkt drei Jahre nach dem Unfallereignis als mäßiggradig mit unvollständig ausgeprägtem Störungsbild anzusehen, aktuell sei lediglich noch eine leichte Restsymptomatik zu erkennen. Die PTBS sei auch Unfallfolge. Sie hätte sich nicht ohne das Unfallereignis entwickelt und wäre auch nicht durch jedes alltäglich vorkommende Ereignis im Sinne z.B. einer beruflichen Überforderung ersetzbar gewesen. Unfallfremden Ursachen, wie der rigiden Persönlichkeitsstruktur des Klägers komme keine überragende Bedeutung zu und eine psychische Vorerkrankung sei nicht dokumentiert. Bei der darüber hinaus initial beschriebenen depressiven Symptomatik im Sinne einer mittelgradigen depressiven Episode bleibe unklar, inwieweit diese vor allem durch den Tod des Bruders im September 2016 bedingt gewesen sei oder ob es sich hier um die häufig anzutreffende depressive Komorbidität im Rahmen einer posttraumatischen Belastungsstörung handele. Wesentliche Argumente sprächen jedoch gegen einen Unfallzusammenhang. Zumindest zum jetzigen Zeitpunkt sei – unterstützt durch die Selbstbeurteilungsskalen – keine belangvolle depressive Symptomatik mehr zu erkennen. Die PTBS bedinge im Anschluss an das Gutachten von Dr. N. bis zu diesem Zeitpunkt, d.h. bis Frühjahr 2018, eine MdE von 20 v.H. Durch die zeitgleich erfolgte Berentung sei jedoch auch eine wesentliche psychische Entlastung eingetreten, so dass die MdE danach nur noch mit 10 v.H. einzuschätzen sei.
Die Beklagte hat hierzu beratungsärztliche Stellungnahmen von Hr. O. vorgelegt. Danach sei dem Gutachten von Prof. Dr. R. nicht zu folgen. Gerade für den Zeitraum, für den dieser die PTBS als gesichert ansehe, sei die Beschwerdevalidierung auffällig gewesen, so dass eine Traumafolgestörung nicht nachweisbar sei. Der Sachverständige hätte eine Beschwerdevalidierung durchführen müssen. Hierfür wäre z.B. das Verhaltens- und Erlebensinventar und andere testpsychologische Verfahren in Betracht gekommen. Die beschriebenen Schuldgefühle seien als unfallunabhängig anzusehen. Da der Kläger nicht selbst Opfer eines gewaltsamen Übergriffs, sondern Zeuge eines tödlichen Unfalls geworden sei, könnten seine Schuldgefühle nicht als solche im Rahmen einer PTBS gedeutet werden. Das Vermeidungskriterium sei hinsichtlich der nur kurzen primären Arbeitsunfähigkeit für einen längeren Zeitraum nicht erfüllt und spiele bei dem Kläger nur eine untergeordnete Rolle. Außerdem bestünden Implausibilitäten z.B. weshalb die psychotherapeutische Behandlung erst so spät einsetzte, obwohl es dem Kläger nach eigenen Angaben so schlecht ging. Dies spreche gegen einen signifikant ausgeprägten Leidensdruck. Auch der MdE-Bewertung sei nicht zu folgen, da eine hohe psychosoziale Leistungsfähigkeit des Klägers in dieser Zeit bestanden habe und auch der strukturierte Tagesablauf gegen eine wesentliche Beeinträchtigung in psychisch-emotionalen und sozial-kommunikativen Bereichen spreche.
Das Gericht hat dazu ergänzende Stellungnahmen von Prof. Dr. R. eingeholt, worin dieser seine Einschätzung bekräftigt und sein Gutachten weiter erläutert. Für das C-Kriterium der Vermeidung sei nach DSM-5 kein definierter Zeitraum erforderlich, sondern entscheidend sei, ob zu irgendeinem Zeitpunkt im Verlauf die Kernsymptome einer PTBS erfüllt seien, was vorliegend der Fall sei: Der Kläger habe nach den Ausführungen des Dipl.-Psych. M. seine Arbeit als großen Zwang wahrgenommen und meide Bahnhöfe und Bahnsteige. Prof. Dr. R. ist der Auffassung, dass er geeignete Fragebögen zur Beschwerdevalidierung in ausreichendem Umfang eingesetzt habe. Insbesondere der „strukturierte Fragebogen simulierter Symptome (SFSS)“ habe jedoch keine Hinweise auf eine negative Antwortverzerrung ergeben. Gerade das von Herr O. angesprochene Verhaltens- und Erlebensinventar sei hingegen aufgrund seines Umfangs mit 344 Einzelaussagen im gutachterlichen Kontext nicht bewährt, da nur wenige Probanden alle Aussagen ankreuzten und Auslassungen die Brauchbarkeit einschränkten. Den späten Beginn der Psychotherapie habe er in seinem Gutachten diskutiert und dieser sei von dem Kläger auch schlüssig damit begründet worden, dass sich die Symptomatik nicht sofort, sondern erst im Verlauf der nächsten 2-3 Monate nach dem Ereignis langsam entwickelt habe sowie mit den Schwierigkeiten, einen Psychotherapietermin zu bekommen. Es hätten sowohl spezifische persönlichkeitsimmanente Hindernisse als auch mögliche Versäumnisse seitens des Arbeitgebers vorgelegen. Schuldgefühle seien ein wichtiger Baustein in der Abgrenzung tatsächlicher von vorgetäuschten PTBS; die von Herrn O. insoweit vorgenommene Einschränkung halte er für abwegig. Anhand der eingehenden Exploration und Untersuchung hätten sich eben gerade keine Inkonsistenzen gezeigt und Widersprüchlichkeiten hätten sich durch Nachfragen aufgelöst. Es habe sich insgesamt ein authentisches Bild gezeigt. Auch nach seinem Gutachten sei eine deutliche Besserung der Unfallfolgen eingetreten. Der zunächst etwas unscharf ausgedrückte Zeitraum, für den eine rentenberechtigenden MdE bestehe, sei dahingehend zu präzisieren, dass die Symptomatik nach Beendigung der Rehabilitationsmaßnahme in der Klinik C-Stadt (6. Februar 2018) überwiegend abgeklungen sei und keine beeinträchtigende MdE mehr bedinge.
Wegen der weiteren Einzelheiten, auch im Vorbringen der Beteiligten und in den medizinischen Unterlagen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
Die Berufung der Beklagten ist zulässig und begründet. Das Urteil des Sozialgerichts vom 3. Mai 2019 konnte nicht aufrechterhalten werden und war aufzuheben.
Die Gewährung einer Rente ist weder vom Regelungsgegenstand der streitgegenständlichen Bescheide umfasst noch hätte das Sozialgericht rund dreieinhalb Jahre nach dem Arbeitsunfall überhaupt noch eine vorläufige Rente zusprechen dürfen. Selbst wenn die Rente vom Regelungsgegenstand des Bescheides erfasst gewesen wäre, hätte zu diesem Zeitpunkt lediglich noch eine Rente als Dauerrente, gegebenenfalls zeitlich befristet, zugesprochen werden können, da der zeitliche Anwendungsbereich des § 62 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch – Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII) bereits abgelaufen war (vgl. dazu auch BSG, Urteil vom 20. September 1977, 8 RU 22/77 - juris).
Zunächst enthält der Verfügungssatz des Bescheides vom 30. November 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. November 2017 keine ausdrückliche Regelung zu einer Rente. In dem Bescheid vom 30. November 2016 wird das Ereignis vom 2. August 2015 als Arbeitsunfall anerkannt mit der Unfallfolge „akute Belastungsreaktion“. Außerdem wird festgestellt, dass unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit und Behandlungsbedürftigkeit bis zum 16. August 2015 bestanden hätten und ein Anspruch auf Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung, hier insbesondere die Kosten der Heilbehandlung und eventuell Entgeltersatzleistungen, danach nicht mehr bestehe.
Dieser Bescheid ist insoweit auslegungsbedürftig, als im Verfügungssatz eine Ablehnung von „Leistungen“ über den 16. August 2015 hinaus erfolgt.
Bei der Auslegung von Verfügungssätzen im Sinne des § 31 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) ist vom Empfängerhorizont eines verständigen Beteiligten auszugehen, wobei alle Zusammenhänge zu berücksichtigen sind, die die Behörde nach ihrem wirklichen Willen (§ 133 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)) erkennbar in ihre Entscheidung einbezogen hat (vgl. BSG, Urteile vom 20. August 2019 - B 2 U 35/17 R - juris, 3. April 2014 - B 2 U 25/12 R - juris, 16. November 2005 - B 2 U 28/04 R - juris und vom 28. Juni 1990 - 4 RA 57/89 - juris). Maßgebend ist der objektive Sinngehalt der Erklärung (BSG, Urteile vom 17. Juni 2008 - B 8 AY 8/07 R – juris und vom 28. Oktober 2008 - B 8 SO 33/07 R - juris) bzw. das objektivierte Empfängerverständnis (BSG, Urteil vom 10. Juli 2012 - B 13 R 85/11 R - juris). Zur Bestimmung des objektiven Regelungsgehaltes eines Verwaltungsaktes kommt es mithin darauf an, wie Adressaten und Drittbetroffene ihn nach Treu und Glauben verstehen mussten bzw. durften (vgl. BVerwG, Urteil vom 7. Juni 1991 - 7 C 43/90 - NVwZ 1993, 177, 179). Unklarheiten gehen zu Lasten der Behörde (BVerwG, Urteil vom 18. Juni 1980 - 6 C 55/79 - BVerwGE 60, 223, 228, vgl. insg. BSG, Urteil vom 26. November 2019 - B 2 U 29/17 R - juris).
Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe vermag der Senat der vom Sozialgericht vertretenen Ansicht nicht zu folgen, wonach die Beklagte vorliegend mit der Ablehnung von Leistungen über den 16. August 2015 hinaus auch eine Rente abgelehnt habe.
Zwar ist auch die Rente eine „Leistung“ der gesetzlichen Unfallversicherung; die Fortsetzung des Verfügungssatzes mit „insbesondere die Kosten der Heilbehandlung und eventuell Entgeltersatzleistungen“ zeigt jedoch gemeinsam mit der ebenfalls zur Auslegung heranzuziehenden Bescheidbegründung, dass die Beklagte ersichtlich keine Regelung über eine Rente treffen wollte. Auch für den verständigen Bescheid-Adressat war dies nach dem objektiven Empfängerhorizont erkennbar. Vielmehr befasst sich der Bescheid nach seinem gesamten Inhalt neben den Unfallfolgen allein mit der Frage der Dauer der unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit und Behandlungsbedürftigkeit. Darüber hinaus werden zwar auch „eventuelle Entgeltersatzleistungen“ abgelehnt. Bei der Rente handelt es sich aber nicht um eine Entgeltersatzleistung, vielmehr wird sie nicht als Ersatz, sondern regelmäßig neben einem Arbeitsentgelt geleistet. Unter Entgeltersatzleistungen sind allgemein Leistungen wie die in § 45 Abs. 1 Nr. 2 SGB VII genannten Leistungen Krankengeld, Pflegeunterstützungsgeld, Verletztengeld, Versorgungskrankengeld, Übergangsgeld, Unterhaltsgeld, Kurzarbeitergeld, Arbeitslosengeld, nicht nur darlehensweise gewährtes Arbeitslosengeld II oder nicht nur Leistungen für Erstausstattungen für Bekleidung bei Schwangerschaft und Geburt nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) oder Mutterschaftsgeld zu verstehen. Die Rente ist im Vergleich zu diesen Leistungen ein Aliud.
Die Berufung der Beklagten war daher erfolgreich.
Die Anschlussberufung des Klägers ist zulässig.
Die im Sozialgerichtsgesetz (SGG) nicht ausdrücklich geregelte Anschlussberufung ist nach § 202 i.V.m. § 524 Zivilprozessordnung (ZPO) nach ständiger Rechtsprechung des BSG möglich. Dies gilt auch, wenn die Berufungsfrist abgelaufen ist (vgl. insg. Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, § 143 SGG Rn. 5 m.w.N.). Der Kläger hat in erster Instanz selbst keinen Antrag formuliert, so dass das Gericht einen als sinngemäß erachteten Antrag, gerichtet allein auf die vorläufige Rente für seine Entscheidung zugrunde gelegt hat. Nach seinem Klagebegehren und unter Berücksichtigung des Reglungsinhalts des Verfügungssatzes wäre sachgerecht vorliegend jedoch vielmehr ein Antrag auf Anerkennung einer PTBS als Unfallfolge gewesen. Ein solcher Antrag wäre auch zulässig gewesen, da der streitgegenständliche Bescheid hinsichtlich der Unfallfolgen im Verfügungssatz die Regelung enthält, dass Unfallfolge eine akute Belastungsreaktion sei und darüber hinaus im Bereich der Psyche festgestellte Veränderungen nicht im Zusammenhang mit dem Unfallereignis stünden. Damit ist die Möglichkeit eröffnet, diese im Bereich der Psyche festgestellten Veränderungen in Form einer PTBS zur Anerkennung als Unfallfolge zu beantragen. Dieser Antrag auf Anerkennung der PTBS als Unfallfolge wird im Wege des „Heraufholens von Prozessresten“ aus Gründen der Prozessökonomie zum Gegenstand des vorliegenden Berufungsverfahrens (vgl. zum „Heraufholens von Prozessresten“ Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, § 140 SGG, Rn. 2a).
Die Anschlussberufung ist auch begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf Feststellung einer PTBS als weitere Unfallfolge.
Voraussetzung für die Feststellung von Unfallfolgen ist zunächst das Vorliegen länger andauernder Gesundheitsschäden, die im Vollbeweis nachgewiesen sein, d.h. mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorliegen müssen. Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn die Tatsache in so hohem Maße wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (§ 128 SGG; BSGE 103, 99, 104, Hessisches Landessozialgericht, Urteil des Senats vom 13. August 2019 - L 3 U 152/18 -, Rn. 34, juris).
Die geltend gemachte PTBS ist als Gesundheitsstörung mit dem nötigen Vollbeweis gesichert.
Zur Anerkennung einer psychischen Störung als Unfallfolge ist eine exakte Diagnose der Krankheit nach einem der international anerkannten Diagnosesysteme erforderlich unter Verwendung der dortigen Schlüssel und Bezeichnungen, damit die Feststellung nachvollziehbar ist (BSG, Urteil vom 9. Mai 2006, B 2 U 1/05 R - juris).
Dem aktuellen Erkenntnisstand entsprechen ICD-10 (Zehnte Revision der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme der WHO aus dem Jahre 1989, vom Deutschen Institut für medizinische Dokumentation und Information <DIMDI> ins Deutsche übertragen, herausgegeben und weiterentwickelt) und DSM-5 (Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-5, Deutsche Ausgabe herausgegeben von Peter Falkai und Hans-Ullrich Wittche, 2015 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG). ICD-11 ist in Deutschland noch nicht eingeführt (https://www.bfarm.de/DE/Kodiersysteme/Klassifikationen/ICD/ICD-11/_verteilerseite.html).
Die Diagnosekriterien einer PTBS sind vorliegend erfüllt.
Der Senat stützt sich insoweit auf die schlüssigen und für ihn überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. R. in seinem neurologisch-psychiatrischen Sachverständigengutachten vom 2. September 2020 nebst den ergänzenden Stellungnahmen vom 8. März und 20. Mai 2022, welche auf dem aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand basieren und im Einklang mit dem vorangegangenen Sachverständigengutachten von Dr. N. und der Diagnosestellung der behandelnden Ärzte stehen. Die Einwände des Beratungsarztes der Beklagten, des Neurologen und Psychiaters O., überzeugen im Ergebnis nicht.
Nach dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand erfordert die Diagnose einer PTBS neben dem A-Kriterium eines geeigneten Stressors den Nachweis von Symptomen aus den drei „Clustern“ (B-, C- und D-Kriterien). Dies sowohl bei Zugrundelegung des DSM-5 als auch unter Zugrundelegung des ICD-10 (vgl. Leitlinie, Seite 104 f.).
Das A-Kriterium ist vorliegend erfüllt.
Eine posttraumatische Belastungsstörung wird unter ICD-10 (F 43.1) als eine verzögerte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß beschrieben, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würden (A-Kriterium). Das bedeutet, dass ein objektiv schwerwiegendes Ereignis erforderlich ist. Während DSM-4 insoweit noch auf die subjektive Vorstellung des Betroffenen abstellte, verlangt auch DSM-5 ein objektiv schwerwiegendes Ereignis.
Das Ereignis vom 2. August 2015 erfüllt das A-Kriterium, da sowohl ICD-10 die Zeugenschaft eines gewaltsamen Todes anderer unter den katastrophenartigen Ereignissen subsummiert und auch nach DSM-5 die Konfrontation mit tatsächlichem Tod durch persönliches Erleben bei anderen Personen als eines der möglichen A-Kriterien genannt ist (vgl. dazu auch Sk2-Leitlinie zur Begutachtung psychischer und psychosomatischer Störungen der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlich-medizinischen Fachgesellschaften – AWMF- Registrnr. 051-029, Stand 15. Dezember 2019, gültig bis 14. Dezember 2024, Teil III, S. 20, https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/051-029.html, im Folgenden: AWMF-Leitlinie). Es handelt sich bei dem streitgegenständlichen Unfallereignis um ein objektiv schwerwiegendes Ereignis. Soweit die Beklagte in ihrer Berufungsbegründung die Auffassung vertritt, dass die Schuldgefühle des Klägers wegen eines „Fehlverhaltens“ gegen das A-Kriterium einer PTBS sprächen, ergibt sich in den maßgebenden Diagnosemanuals kein Hinweis auf diese Sichtweise, zumal ein geeignetes Trauma im Sinne des A-Kriteriums objektiv vorliegt.
Auch das Wiedererleben im Sinne des B-Kriteriums ist erfüllt.
Typische Merkmale sind nach ICD-10 (F 43.1) das wiederholte Aufleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen, Flash-backs), Träumen oder Albträumen. Dieses Kriterium wird auch in DSM-5 übereinstimmend so beschrieben.
Vorliegend wurde unfallzeitnah zumindest von mehreren Allgemeinmedizinern – erstmals am Tag nach dem Ereignis – eine psychische Reaktion des Klägers dokumentiert. So beschrieb Dr. C. am 3. August 2015 als Befund, dass der Kläger durch das Erlebte „posttraumatisch extrem mitgenommen sei“. Auch Dr. D. stellte am 10. August 2015 die Verdachtsdiagnose PTBS. Somit lag eine initiale akute Belastungsreaktion vor, was zwischen den Beteiligten auch unstreitig ist und von der Beklagten im Bescheid vom 30. November 2016 als Unfallfolge anerkannt wurde. Der Senat teilt die Einschätzung des Sachverständigen R., dass sich die erstmals im Juni 2016 fachärztlich von Dr. E. beschriebenen Symptome des Wiedererlebens mit Flash-backs und Albträumen tatsächlich bereits im Herbst 2015 entwickelten. Hierfür spricht auch die Beschreibung der Reaktion des Klägers bei Diskussion des Traumerlebnisses in der gutachterlichen Untersuchung bei Prof. Dr. R., welche dieser dahingehend beschrieb, dass diese Diskussion den Kläger mehrfach bis an seine Belastungsgrenze geführt habe, weshalb der Sachverständige diesen Teil – entgegen seiner sonstigen Gepflogenheit – auch nicht in Anwesenheit des Klägers diktiert habe. Dies lässt sich in Einklang bringen mit den in der AWMF-Leitlinie (a. a. O., Teil III, Tab. 5.4, S. 36) genannten möglichen objektivierbaren Symptomen einer PTBS während der gutachtlichen Untersuchung in Anlehnung an die DSM-5-Vorgaben. Auch nach der eigenen, immer gleichbleibenden Darstellung des Klägers gegenüber sämtlichen behandelnden Ärzten und Therapeuten sowie Sachverständigen hat ihn das Erlebte nicht losgelassen und er berichtete über sich aufdrängende Bilder des miterlebten Suizids, aber insbesondere auch den Momenten unmittelbar davor. Aus dem Bericht des Dipl.-Psych. M. ist zu entnehmen, dass die Bilder nach dem Ende der ersten Arbeitsunfähigkeit nach und nach hochgekommen wären, wenn der Kläger auf den Bahnsteig geschaut habe. Somit ist in der Gesamtschau das B-Kriterium anhand der dargestellten Symptome hinreichend belegt.
Dem steht nicht – wie von der Beklagten eingewandt – entgegen, dass über die Dauer fast eines Jahres nach dem Unfallereignis zunächst keine fachpsychiatrische und/oder psychotherapeutische Untersuchung und Behandlung erfolgte. Denn es erscheint dem Senat in Übereinstimmung mit den Ausführungen des Sachverständigen R. plausibel, dass sich der Kläger aufgrund seiner rigiden Persönlichkeitsstruktur gegenüber Kollegen erhaben fühlte und nicht zugeben wollte, dass gerade er nicht mit der Situation zurechtkommt. Der Kläger hat nach der zweiwöchigen Arbeitsunfähigkeit unmittelbar nach dem Ereignis zunächst alles darangesetzt, weiter zu funktionieren und seine Arbeit auszuüben. Dieser Eindruck kommt insbesondere in dem Gutachten von Dr. J. zum Ausdruck, der beschrieb, dass der Kläger, obwohl ihn das Ereignis stark belastet habe, unbedingt nicht habe krank sein, sondern weiterarbeiten wollen. Außerdem haben sich die psychischen Probleme zudem erst im Verlauf der nächsten zwei bis drei Monate zunehmend entwickelt. Dies deckt sich zudem mit dem typischen Verlauf einer PTBS. Nach der AWMF-Leitlinie (a. a. O., Teil III, Ziff. 4.2.4, S. 22) unter Bezugnahme auf DSM-5 tritt eine PTBS „normalerweise“ innerhalb von drei Monaten nach dem schädigenden Ereignis ein, es kann aber im Einzelfall „Monate oder sogar Jahre“ dauern, bis das für die Diagnosestellung erforderliche „Vollbild“ vorliegt. Allerdings sind die Betroffenen bis dahin keinesfalls psychisch gesund. Vielmehr treten einige der Symptome typischerweise sofort auf, was für die gutachtliche Beweisführung von wesentlicher Bedeutung ist. Dies entspricht auch dem vorliegend nach Aktenlage dokumentierten Krankheitsverlauf.
Ebenfalls ist das C-Kriterium in Form eines Vermeidungsverhaltens zu bejahen.
Hierunter ist übereinstimmend nach beiden Diagnosemanuals die anhaltende Vermeidung von Reizen zu verstehen, die mit dem traumatischen Ereignis verbunden sind und die nach dem traumatischen Ereignis begannen.
Dem steht nicht – wie von der Beklagten eingewandt – entgegen, dass nur eine kurze primäre Arbeitsunfähigkeit bestand. Der Sachverständige R. hat insoweit zutreffend darauf hingewiesen, dass für das Kriterium der Vermeidung nach DSM-5 kein definierter Zeitraum erforderlich, sondern entscheidend ist, ob zu irgendeinem Zeitpunkt im Verlauf die Kernsymptome einer posttraumatischen Belastungsstörung nach einer kritischen Würdigung der Vorbefunde und der gutachterlich erhobenen Befunde ohne vernünftigen Zweifel nachweisbar sind, was der Sachverständige bejaht. Auch aus dem Diagnosemanual ICD-10 und der AWMF-Leitlinie ergibt sich insoweit keine zeitliche Vorgabe. In der neuen, noch nicht geltenden ICD-11 ist insoweit ein Zeitraum von einigen Wochen genannt, für den die Symptome andauern müssen. Außerdem darf für die Prüfung des Vermeidungskriteriums nicht allein auf die primäre Arbeitsunfähigkeitsdauer abgestellt werden. Der Kläger hat zwar bereits nach zunächst nur zweiwöchiger Arbeitsunfähigkeit seine Arbeit wiederaufgenommen, allerdings hat er diese nach dem Bericht des Dipl.-Psych. M. als großen Zwang wahrgenommen – was auch mit seiner Persönlichkeitsstruktur und den darin begründeten hohen Ansprüchen an sich selbst und einem hohen Arbeitsethos in Zusammenhang steht – und auch Dr. J. hat in seinem Gutachten ausgeführt, dass der Kläger zwar gearbeitet hat, dies aber unter Vermeidung bestimmter Aspekte. Jedenfalls für den Begutachtungszeitpunkt bei Dr. J./Dipl.-Psych. M. ist dokumentiert, dass der Kläger Bahnhöfe und Bahnsteige meidet. Der gerichtliche Sachverständige R. hatte auch insoweit keinen Hinweis darauf, dass die klägerische Schilderung zum Vermeidungsverhalten nicht authentisch wäre, und hält das C-Kriterium angesichts der letztlich immer gleichlautenden Darstellung als Trigger für pathologische Wiedererinnerungen für gegeben. Dem schließt sich der Senat an.
Bei den unter dem D/E-Kriterium beschriebenen Symptomen handelt es sich nach der aktuellen AWMF-Leitlinie nicht um Kernsymptome einer PTBS (a.a.O., Teil III, Ziff. 5.1.3, S. 35). Es kann dahin gestellt bleiben, ob diese Kriterien daher – dem Sachverständigen R. folgend – im Ergebnis für die Prüfung nicht relevant sind, auch weil es sich um Symptome handelt, die nicht spezifisch für die posttraumatische Belastungsstörung sind, sondern auch für andere Erkrankungsbilder in Betracht kommen. Denn der Senat hat keinen Zweifel, dass die Kriterien jedenfalls erfüllt sind. Zunächst hat der Sachverständige R. selbst das D3-Kriterium bejaht, welches nach DSM-5 u.a. irreale eigene Schuldgefühle hinsichtlich der Ursache und Folgen des oder der traumatischen Ereignisse beschreibt. Der Kläger selbst sieht in seinen Schuldgefühlen, ob er den Suizid hätte verhindern können, sein Hauptproblem. Der Senat stützt sich für die Feststellung dieser Kriterien darüber hinaus auf die Ausführungen des Sachverständigen N. in seinem Gutachten vom 26. Mai 2018. Danach ist bei dem Kläger das D5-Kriterium in Form eines deutlich verminderten Interesses oder verminderter Teilnahme an wichtigen Aktivitäten zu bejahen. Auch das E-Kriterium in Form von vermehrter Reizbarkeit (E1), leichten Konzentrationsschwierigkeiten (E5) und Schlafstörungen (E6) ist nach dem Gutachten von Dr. N. gegeben.
Der vollbeweislichen Sicherung einer posttraumatischen Belastungsstörung bei dem Kläger steht auch nicht die von dem Dipl.-Psych. M. in drei Beschwerdevalidierungsverfahren festgestellte Aggravations- oder Simulationsneigung entgegen. Der Senat folgt auch insoweit den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen R.; auch der Sachverständige N. und die behandelnden Ärzte des Klägers hatten keinen Zweifel an der Authentizität der Beschwerden des Klägers.
Wesentlicher Bestandteil jeder Begutachtung ist die Beurteilung des Sachverständigen, ob die von dem Untersuchten berichteten Beschwerden und Funktionsstörungen tatsächlich in der geklagten Form bestehen, oder ob diese wesentlich von motivationalen Aspekten beeinflusst werden. Der heute allgemein übliche Begriff der „Beschwerdevalidierung“ wurde primär im Zusammenhang mit der Überprüfung der Gültigkeit neuropsychologischer Testergebnisse und Fragebogenantworten entwickelt, wird inzwischen im deutschsprachigen Raum in einem erweiterten Sinne jedoch für alle verfügbaren Methoden der Konsistenz- und Plausibilitätsprüfung (Beschwerdevalidierung anhand der Aktenlage, klinisch, anhand von Selbstbeurteilungsskalen, kognitiv sowie durch Bestimmung des Medikamentenspiegels) verwandt. Allgemein versteht man hierunter die Anwendung von Methoden, die Aussagen über den Grad der Vertrauenswürdigkeit bzgl. der Gültigkeit klinisch-diagnostischer Daten und der klinisch-diagnostischen Urteilsbildung insgesamt liefern (vgl. dazu AWMF-Leitlinie a.a.O., Teil II, Ziff. 4.1., S. 10, 12). Es gibt nach den aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen bisher in der Begutachtungspraxis psychiatrischer Krankheitsbilder keinen Konsens darüber, welche und wie viele der zahlreich verfügbaren "Beschwerdevalidierungstests" zum Einsatz kommen sollten und es erscheint fraglich, ob der Einsatz solcher Tests, deren Auswahl nicht vorgegeben, sondern dem Sachverständigen überlassen bleibt, überhaupt ein Qualitätsmerkmal eines sozialmedizinischen Gutachtens oder gar ein einzufordernder Standard sein kann (vgl. dazu ausführlich: SG Frankfurt, Urteil vom 7. November 2019 – S 23 U 125/14 – juris). Laut der Empfehlung der AWMF-Leitlinie (a.a.O. Teil II, Ziff. 3.2.3., S. 10) kann der Einsatz von Selbst- und/oder Fremdbeurteilungsskalen im Gutachtenkontext sinnvoll sein und die Beurteilungsbasis erweitern. Der Gefahr, dass Fragebogenergebnisse dem medizinisch-psychologischen Laien eine nicht vorhandene Objektivität vorspiegeln, ist durch den Gutachter dadurch zu begegnen, dass er in seiner Darstellung stets eine Unterscheidung zwischen subjektiven und objektiven Daten vornimmt. Der Einsatz (neuro-)psychologischer Leistungstests kann in der Begutachtungssituation sinnvoll sein, wenn kognitive Störungen geklagt werden oder ersichtlich sind. Fragebogen- und Testergebnisse sind stets im klinischen Kontext zu bewerten und isoliert nicht oder kaum aussagefähig. Beschwerdevalidierung besteht nicht aus einem einzelnen Befund, sondern aus zahlreichen Bausteinen, beruhend auf der kritischen Nachfrage zu in den Akten erkennbaren Widersprüchlichkeiten, der Verhaltensbeobachtung während der mehrstündigen gutachterlichen Exploration/Untersuchung, den gezielten Einsatz von Fragebögen und Tests sowie gegebenenfalls der Blutspiegelbestimmung der als eingenommen angegebene Medikamente.
Es wurde von dem Dipl.-Psych. M. eine Verdeutlichung in dem Sinne beschrieben, dass der Kläger Symptome deutlicher darstellte als sie tatsächlich seien. Weder der Dipl.-Psych. M. noch Dr. J. haben eine Aggravation bzw. Simulation tatsächlich als eindeutig nachgewiesen angesehen, sondern es werden lediglich Auffälligkeiten in einzelnen Beschwerdevalidierungsverfahren beschrieben, die dazu führten, dass sich keine valide Testpsychologie ergab und daher aus Sicht des Dipl.-Psych. M. und Dr. J. keine eindeutige valide Diagnostik möglich war. Eine Überprüfung dieser Bewertung ist jedoch nicht möglich, da nicht bekannt ist, bei welchen der von dem Dipl.-Psych. M. durchgeführten Beschwerdevalidierungsverfahren die Auffälligkeiten überhaupt aufgetreten sind und ob diese möglichweise auch auf Sprachschwierigkeiten beruht haben könnten. Der Sachverständige R. vermutet jedenfalls unter Bezugnahme auf die Aktenlage, dass es sich um ein sprachbasiertes Alternativwahlverfahren handelte, und führt dazu aus, dass bei nicht nativ Deutsch sprechenden Personen sprachbasierte Tests immer ein gewisses Problem darstellen. Der Kläger spricht nach Darstellung des Sachverständigen R. zwar sehr gut Deutsch, ist aber offensichtlich mit einem schlechten Zeugnis von der Schule abgegangen. Vor diesem Hintergrund bestehen bereits Zweifel an der Aussagekraft der von dem Dipl.-Psych. M. und Dr. J. in Bezug genommenen Testergebnisse. Im Ergebnis gehen auch der Dipl.-Psych. M. und Dr. J. von einem authentischen Leidenskern des Klägers aus.
Die beiden gerichtlichen Sachverständigen N. und R. hingegen sahen sich zu einer validen Diagnosestellung nach ihren klinischen Untersuchungen und unter Berücksichtigung der Aktenlage durchaus in der Lage. Prof. Dr. R. hat außerdem entgegen der Behauptung der Beklagten durchaus eine Beschwerdevalidierung anhand von Test- und Frageverfahren durchgeführt.
So hat der Sachverständige R. in seinem Gutachten eingehend und für den Senat überzeugend beschrieben, aufgrund welcher Beschwerdevalidierungsbausteine er von der Authentizität der Beschwerdeschilderung des Klägers ausgeht. Ebenfalls hat er erläutert, dass insbesondere der von ihm zur Beschwerdevalidierung verwandte „strukturierte Fragebogen simulierter Symptome (SFSS)“ keine Hinweise auf eine negative Antwortverzerrung ergeben hat und er insgesamt im Rahmen seiner Begutachtung „in der Summe" keine relevanten lmplausibilitäten gefunden hat – insbesondere auch nicht bei der kritischen Hinterfragung des Ereignisses und des weiteren Verlaufs im Kontext der Aktenlage und sich daher über eine „übliche" Verdeutlichung hinaus nicht von einer Aggravation oder gar Simulation zu überzeugen vermochte. Nicht zuletzt erschien dem Sachverständigen die affektive und vegetative Reaktion bei der Diskussion des Ereignisses im Rahmen der Begutachtung in keiner Weise gespielt, was auch mit dem Eindruck verschiedener Vorgutachter übereinstimmt, wo regelmäßig von einem „gespannten" Verhalten bei der Befragung zum streitigen Ereignis die Rede ist. Im Hinblick auf die diskutierte Aggravation hat der Sachverständige den Kläger nicht nur zu dem Ereignis befragt, sondern mit diesem sehr umfassend und auch kritisch diskutiert. Dies ging nach Beurteilung des Sachverständigen R. mehrmals bis an die ersichtliche Belastungsgrenze des Klägers. Auch der Sachverständige N. hatte keine Zweifel an der Authentizität der Beschwerdeschilderung des Klägers, zumal die Beschwerden in den Berichten der behandelnden Ärzte sowie dem Reha-Entlassungsbericht immer übereinstimmend geschildert wurden.
Zwar bestehen vorliegend auf den ersten Blick die von der Beklagten angesprochenen Diskrepanzen einerseits zwischen dem Ausmaß der geschilderten Beschwerden und der Intensität der zunächst in Anspruch genommenen therapeutischen Hilfe und andererseits zwischen der Schwere der subjektiven Beeinträchtigung und dem weitgehend intakten psychosozialen Funktionsniveau bei der Alltagsbewältigung – jedenfalls im Zeitpunkt der gerichtlichen Begutachtungen. Diese Diskrepanzen lösen sich jedoch bei genauerer Betrachtung auf und stehen der PTBS-Diagnose nicht entgegen.
Mit beiden Aspekten hat sich der Sachverständige R. in seinem Gutachten und den ergänzenden Stellungnahmen auseinandergesetzt. Hinsichtlich des späten fachärztlichen Behandlungsbeginns wird auf die Ausführungen zum B-Kriterium verwiesen, wonach dieser als hinreichend erklärt erscheint. Der beschriebene strukturierte Tagesablauf und das gute psychosoziale Funktionsniveau waren zwar jedenfalls bei den gerichtlichen Begutachtungen durch Dr. N. und Prof. Dr. R. gegeben, aber nach Überzeugung des Senats noch nicht deutlich davor. Beide gerichtliche Sachverständige beschreiben eine Besserung der Symptomatik nach Beendigung der Rehamaßnahme im Februar 2018 und der anschließenden Berentung, welche dazu führte, dass keine rentenberechtigenden MdE ab dieser Zeit mehr festzustellen war. Hingegen zeigen die wiederholten Arbeitsunfähigkeitszeiten nicht nur unmittelbar nach dem Arbeitsunfall, sondern auch im Oktober 2015 (vier Wochen), vom 1. bis 21. Februar 2016 sowie ab dem 29. April 2016 ebenso wie die Gewährung der vollen Erwerbsminderungsrente ab 1. März 2018 durchaus, dass das psychosoziale Funktionsniveau des Klägers jedenfalls in den ersten Jahren nach dem Arbeitsunfall deutlich eingeschränkt war. Dies deckt sich auch mit den Angaben der behandelnden Psychotherapeuten des Klägers in den vorliegenden Berichten.
Dieses vollbeweislich gesicherte Krankheitsbild der posttraumatischen Belastungsstörung ist auch hinreichend wahrscheinlich auf das Unfallereignis zurückzuführen und deshalb als Unfallfolge anzuerkennen.
Für die Kausalitätsfeststellung zwischen den durch ein Ereignis unmittelbar hervorgerufenen Gesundheitserstschäden (haftungsbegründende Kausalität) und den als Unfallfolgen geltend gemachten länger andauernden Gesundheitsstörungen (haftungsausfüllende Kausalität) gilt wie für alle Kausalitätsfeststellungen im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung der gegenüber dem Vollbeweis geringere Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit bzw. hinreichenden Wahrscheinlichkeit. Diese liegt vor, wenn mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang spricht und ernste Zweifel ausscheiden; die reine Möglichkeit genügt nicht (BSG, Urteil vom 9. Mai 2006 - B 2 U 1/05 R - juris). Die Kausalitätsfeststellungen zwischen den einzelnen Gliedern des Versicherungsfalles basieren auf der im gesetzlichen Unfallversicherungsrecht geltenden Theorie der wesentlichen Bedingung. Danach geht es auf einer ersten Stufe der Kausalitätsprüfung um die Frage, ob ein Zusammenhang im naturwissenschaftlichen Sinne vorliegt, d.h. - so die neueste Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - ob eine objektive Verursachung zu bejahen ist (BSG, Urteil vom 24. Juli 2012 - B 2 U 9/11 R - juris). Auf dieser Stufe der Tatsachenfeststellungen ist zudem zu prüfen, ob mehrere versicherte und nicht versicherte Ursachen zusammen objektiv wirksam geworden sind, ggf. sind deren Mitwirkungsanteile festzustellen (BSG, Urteil vom 24. Juli 2012 - B 2 U 9/11 R - juris). Beweisrechtlich ist zudem zu beachten, dass der möglicherweise aus mehreren Schritten bestehende Ursachenzusammenhang positiv festgestellt werden muss (BSG, Urteil vom 9. Mai 2006, a.a.O.) und, dass die Anknüpfungstatsachen der Kausalkette im Vollbeweis vorliegen müssen (BSG, Beschluss vom 23. September 1997 - 2 BU 194/97 - Deppermann-Wöbbeking in: Thomann (Hrsg), Personenschäden und Unfallverletzungen, Referenz Verlag Frankfurt 2015, S. 630). In einer zweiten Prüfungsstufe ist sodann durch Wertung die Unterscheidung zwischen solchen Ursachen notwendig, die wesentlich sind, weil sie rechtlich für den Erfolg verantwortlich gemacht werden, und den anderen, für den Erfolg rechtlich unerheblichen Ursachen (BSG, Urteil vom 9. Mai 2006, a.a.O; BSG, Urteil vom 24. Juli 2012 - B 2 U 9/11 R – juris, Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 13. August 2019 – L 3 U 152/18 –, Rn. 38 - 39, juris).
Für die Feststellung, dass es sich bei der PTBS um eine Unfallfolge handelt, stützt sich der Senat auf das schlüssige und überzeugende Sachverständigengutachten von Prof. Dr. R., welches im Einklang mit dem zuvor eingeholten Sachverständigengutachten von Dr. N. steht.
In der ersten Stufe ist ein Zusammenhang im naturwissenschaftlichen Sinne zwischen dem beobachteten Gleissuizid und der PTBS zu bejahen.
Nach überzeugender Einschätzung des Sachverständigen R. hätte sich die PTBS nicht ohne das Unfallereignis entwickelt. Allerdings haben neben dem Ereignis unfallunabhängige Faktoren als Mitursachen mitgewirkt. So ist bei dem Kläger aufgrund seiner Sozialisierung eine ängstlich-unsicheren Persönlichkeitsstruktur beschrieben sowie recht rigide Persönlichkeitsüberzeugungen. Außerdem bestehen konkurrierende Ursachen in Form des Todes seines Bruders und anderer früher erlittener Schicksalsschläge (Zerbrechen langjähriger Partnerschaften, Abtreibung eines von ihm gewünschten Kindes durch die damalige Partnerin).
Diesen unfallunabhängigen Mitwirkungsanteilen kommt jedoch keine überragende Bedeutung zu. Die im Reha-Entlassungsbericht sowie im Gutachten von Prof. Dr. R. beschriebene Persönlichkeitsstruktur des Klägers tritt nach Prof. Dr. R.s überzeugenden Ausführungen aber nicht soweit in den Vordergrund, dass dem Arbeitsunfall nur eine unmaßgebliche Rolle für die Entwicklung der PTBS zukommt. Eine psychiatrische Vorerkrankung ist nicht dokumentiert. Hinweise hierauf werden von den behandelnden Ärzten Dr. K. und Dr. P. sogar ausdrücklich verneint. Allenfalls handelt es sich somit um eine Persönlichkeitsakzentuierung. Ebenfalls das Bekanntwerden der unheilbaren Erkrankung und der Tod des Bruders kurz darauf am 24. September 2016 liegen zeitlich etwa ein Jahr nach dem Arbeitsunfall und der dadurch sich entwickelnden psychischen Beschwerden. Auch die fachärztliche Behandlung bei Dr. E. begann bereits drei Monate vor dem Verlust des Bruders und aus den Folgeberichten von Dr. E. lässt sich auch weder eine Verschlechterung des psychischen Befindens des Klägers nach dem Tod des Bruders noch eine Veränderung der Therapie erkennen, so dass keine Verschiebung der Wesensgrundlage belegt ist. Der Senat stützt diese Feststellung auf die überzeugenden Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen N. Die übrigen lebensgeschichtlichen Belastungen traten bereits lange Jahre vor dem Arbeitsunfall ein und führten nach Aktenlage weder zu Arbeitsunfähigkeitszeiten noch zu therapeutischen Behandlungen. Es bestehen für den Senat daher keine Anhaltspunkte dafür, dass sich diese Schicksalsschläge vor und nach dem Arbeitsunfall auf die Entwicklung der posttraumatischen Belastungsstörung überragend ausgewirkt hätten. Dies entspricht dem Ergebnis beider gerichtlicher Sachverständigengutachten und steht auch im Einklang mit den Einschätzungen der behandelnden Therapeuten und dem Reha-Entlassungsbericht.
Das Unfallereignis, welches im naturwissenschaftlichen Sinne objektiv wirksam geworden ist, war auch wesentlich für die Entstehung der posttraumatischen Belastungsstörung (2. Stufe).
Die auf der 2. Prüfungsstufe der Kausalität zu prüfende Wesentlichkeit einer Bedingung ist eine reine Rechtsfrage (vgl. zur Theorie der wesentlichen Bedingung BSG, Urteil vom 30. März 2017 - B 2 U 6/15 R - juris Rn. 23 ff. m. w. N. aus der Rechtsprechung und Literatur). Eine Rechtsvermutung dafür, dass die versicherte Einwirkung wegen ihrer objektiven Mitverursachung der Erkrankung auch rechtlich wesentlich war, besteht nicht. Welche Ursache im Einzelfall rechtlich wesentlich ist und welche nicht, muss nach der Auffassung des praktischen Lebens über die besondere Beziehung der Ursache zum Eintritt des Erfolgs vom Rechtsanwender (Juristen) wertend entschieden werden und beantwortet sich nach dem Schutzzweck der jeweiligen Norm (grundlegend P. Becker, MED SACH 2007, 92; Spellbrink, MED SACH 2017, 51, 55). In die Bewertung fließt ein, ob die auf der ersten Stufe abschließend festgestellte faktische Mitverursachung des Gesundheitsschadens durch die versicherte Verrichtung/versicherte Einwirkung überhaupt ein versichertes Risiko der gesetzlichen Unfallversicherung verwirklicht hat. Ggf. hängt die Rechterheblichkeit davon ab, ob unversicherte Mitursachen und ihr Mitwirkungsanteil nach Maßgabe des Schutzzwecks der jeweiligen Versicherung in einer Gesamtabwägung dieser Umstände des Einzelfalls die Schadensverursachung derart prägen, dass dieser nicht mehr dem Schutzbereich der Versicherung, sondern dem allgemeinen Lebensrisiko unterfällt (BSG, Urteil vom 24. Juli 2012, a. a. O.). Wesentlich ist dabei nicht gleichzusetzen mit "gleichwertig" oder "annähernd gleichwertig". Auch eine nicht annähernd gleichwertige, sondern rechnerisch verhältnismäßig niedriger zu bewertende Ursache kann für den Erfolg rechtlich wesentlich sein, solange die andere Ursache keine überragende Bedeutung hat.
In dieser Abwägung ist vorliegend in dem Unfallereignis auch die wesentliche Bedingung für die Entstehung der PTBS zu sehen. Mit dem Miterleben des Gleissuizids hat sich ein vom Schutzzweck der gesetzlichen Unfallversicherung umfasstes Risiko verwirklicht, welches die Entstehung der PTBS derart überragend geprägt hat, dass die übrigen in Persönlichkeit und Lebensgeschichte des Klägers begründeten Mitursachen als unwesentlich erscheinen.
Die Berufung ist daher sowohl hinsichtlich der Berufung der Beklagten als auch der Anschlussberufung des Klägers erfolgreich.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens.
Die Entscheidung über die Nichtzulassung der Revision beruht auf § 160 Abs. 2 SGG.