L 3 U 2251/21

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3.
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 18 U 2978/20
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 3 U 2251/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Es besteht grundsätzlich kein Rechtschutzbedürfnis für eine Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage gegen einen im sogenannten Zugunstenverfahren ergangenen Überprüfungsbescheid, mit dem die Rücknahme eines Bescheides abgelehnt wird, gegen den zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung noch eine Anfechtungs- und Leistungsklage anhängig ist (vgl. BSG, Urteil vom 24.02.2016 – B 8 SO 13/14 R, juris Rn. 12). Eine Rechtsverfolgung im Ausgangsverfahren ist angesichts zusätzlicher rechtlicher Hürden beim Zugunstenverfahren grundsätzlich effektiver und rechtschutzintensiver, weshalb ein Rechtsschutzbedürfnis ausnahmsweise nur dann bestehen kann, wenn das Überprüfungsverfahren dem Kläger rechtliche oder tatsächliche Vorteile bringen kann.

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 09.06.2021 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

 


Tatbestand

Der Kläger begehrt im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens die Übernahme der Kosten für eine Hörgeräteversorgung seines rechten Ohres.
 
Der 1950 geborene Kläger erlitt am 16.07.2001 auf einem bei der Beklagten gesetzlich unfallversicherten Weg einen Unfall mit seinem Motorroller, in dessen Folge er u.a. angab, bei ihm liege eine Hörminderung mit gelegentlichen Ohrengeräuschen rechts vor.
 
Am 29.11.2010 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Übernahme der Kosten für eine Hörgeräteversorgung unter Bezugnahme auf das Aktenzeichen des Unfallvorgangs vom 16.07.2001. Mit Schreiben vom 16.12.2010 lehnte die Beklagte daraufhin die Kostenübernahme für die ihm verordneten Hörgeräte ab. Am 21.12.2010 übersandte der Kläger der Beklagten das Angebot eines Hörgeräteakustikers über eine Versorgung mit Hörgeräten für insgesamt 1.795,00 € und beantragte erneut die Kostenübernahme. Auf der Grundlage eines daraufhin eingeleiteten Ermittlungsverfahrens lehnte die Beklagte eine Kostenübernahme mit Bescheid vom 22.02.2011 mit der Begründung ab, die von dem Kläger geltend gemachte beiderseitige Hochtonschwerhörigkeit sei nicht auf den Unfall vom 16.07.2001 zurückzuführen.
 
Den dagegen durch den Kläger erhobenen Widerspruch wies die Beklagte nach weiteren Ermittlungen, u. a. der Einholung eines medizinischen Gutachtens der Universitäts-HNO-Klinik der Universitätsmedizin M H sowie einer beratungsärztlichen Stellungnahme des H1 mit Widerspruchsbescheid vom 25.04.2012 als unbegründet zurück.
 
Mit der daraufhin zum Sozialgericht (SG) Mannheim am 29.05.2012, dem Tag nach Pfingstmontag, ursprünglich gegen die p BKK erhobenen Klage (Az.: S 2 U 1892/12) begehrte der Kläger, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 22.02.2011 sowie des Widerspruchsbescheides vom 25.04.2012 zur Übernahme der Kosten für eine Hörgeräteversorgung beidseits zu verurteilen. Die Beklagte beantragte, die Klage als unzulässig abzuweisen, da das am 13.06.2012 beim SG Mannheim eingegangene Schreiben, mit dem der Kläger die Änderung der Beklagten im Rubrum von „BKK P“ auf die beklagte Unfallkasse Baden-Württemberg beantragt habe, nach Ablauf der einmonatigen Klagefrist eingegangen sei, da der Widerspruchsbescheid am 25.04.2012 erteilt worden sei. Der Kläger berief sich unter Übersendung eines ärztlichen Attests darauf, dass er Ende Mai 2012 Tilidin eingenommen und es deshalb zur Angabe der p BKK gekommen sei, er dies aber wegen der Auswirkungen einer erhöhten Dosis des Medikaments nicht habe erkennen können. Das SG Mannheim wies die Klage durch Gerichtsbescheid vom 15.01.2013 als unbegründet ab. Es führte nach gewährter Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in Bezug auf die Versäumung der Klagefrist in den Gründen seiner Entscheidung aus, ein Anspruch auf Übernahme der Kosten für eine Hörgeräteversorgung beidseits durch die Beklagte bestehe nicht, da es an einem wahrscheinlich wesentlichen Ursachenzusammenhang zwischen dem vom Kläger am 16.07.2001 erlittenen Unfall und der bei ihm bestehenden Hörminderung fehle. 
 
Am 18.02.2013 legte der Kläger gegen den ihm am 18.01.2013 zugestellten Gerichtsbescheid vom 15.01.2013 Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg ein. Das unter dem Aktenzeichen L 6 U 697/13 geführte Berufungsverfahren wurde – ausgehend von einem Antrag des Klägers mit der Begründung, er sei aufgrund einer Allergie krankgeschrieben – durch Beschluss vom 09.09.2013 ruhend gestellt.
 
Am 05.12.2019 kam es zu einem Telefonat zwischen dem Kläger und einem Mitarbeiter der Beklagten, dessen Inhalt die Beklagte als Antrag auf Überprüfung des Bescheides vom 22.02.2011 auslegte. Mit Schreiben vom 12.03.2020 konkretisierte der Kläger sein Begehren dahingehend, er beantrage nun weiterhin, dass seine Hörminderung rechts als Folge des Unfalls vom 16.07.2001 anzuerkennen sei. Die Beschwerden bestünden seit 2010 fort. Nach Anforderung und Auswertung von Befundunterlagen der den Kläger behandelnden Ärzte G, H2 und M1 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 08.04.2020 die Rücknahme des Verwaltungsaktes vom 22.01.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.04.2012 nach § 44 SGB X ab. Zur Begründung führte sie aus, dass sich nach Auswertung der ärztlichen Befundunterlagen keine Tatsachen ergäben, welche zu einer anderen Beurteilung der Sach- und Rechtslage führten. Ein wesentlicher Ursachenzusammenhang zwischen dem am 16.07.2001 erlittenen Unfall und den Hörminderungsbeschwerden liege nicht vor. Es seien keine Hinweise ersichtlich, die für die Unrichtigkeit der Vorentscheidung vom 22.02.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.04.2012 sprächen.
 
Seinen daraufhin gegen den Bescheid vom 08.04.2020 eingelegten Widerspruch begründete der Kläger im Wesentlichen damit, dass von Anfang an sowohl die Polizei, als auch die Staatsanwaltschaft und in der Folge die Gerichte von einem falschen Sachverhalt betreffend den Hergang des Unfalls ausgegangen seien. 
 
Mit Widerspruchsbescheid vom 28.10.2020 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Der Bescheid vom 08.04.2020 sei nicht zu beanstanden. Zu Recht sei eine Rücknahme des Bescheides vom 22.02.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.04.2012 nach § 44 SGB X abgelehnt worden. Der Begründung, der Unfallhergang sei falsch ermittelt worden, könne nicht gefolgt werden, da weder seitens des Klägers nähere Ausführungen dazu gemacht worden seien, wie sich der Unfall seiner Meinung nach ereignet habe, noch sonstige Anhaltspunkte für die Annahme eines falsch ermittelten Unfallhergangs ersichtlich seien. Ferner liege nach Auswertung der Befundunterlagen ein wesentlicher Ursachenzusammenhang zwischen dem Unfall vom 16.07.2001 und den Hörminderungsbeschwerden nicht vor. Auf den Gerichtsbescheid des SG Mannheim vom 15.01.2013 werde verwiesen. Selbst wenn von einer traumatischen Ursache der Hörminderung ausgegangen würde, ließe sich angesichts der Vielzahl der Unfälle des Klägers mit Beteiligung des Kopfes ein wesentlicher Unfallzusammenhang nicht feststellen. Dies gelte umso mehr, als der Kläger ausweislich eines Berichts des P vom 17.06.2002 angegeben habe, eine Hörminderung seit einem Unfall im Jahre 1997 bemerkt zu haben.
 
Zur Begründung seiner hiergegen am 21.11.2020 zum SG Mannheim erhobenen Klage hat der Kläger im Wesentlichen vorgetragen, der Unfallhergang sei damals falsch dargestellt worden, weshalb das medizinische Gutachten auf einem falschen Sachverhalt aufgebaut worden sei. Weiterhin sei erwiesen, dass die bei ihm bestehende Otosklerose nach wissenschaftlichen Erkenntnissen entweder vererbbar oder traumatisch bedingt sei. Da in seiner Verwandtschaft keinerlei Fälle bekannt seien, könne die Otosklerose nur auf den Unfall zurückzuführen sein.

Das SG Mannheim hat die Klage durch Gerichtsbescheid vom 09.06.2021 abgewiesen und ausgeführt, die Klage sei mit Blick auf das vor dem LSG Baden-Württemberg unter dem Aktenzeichen L 6 U 697/13 anhängige Verfahren bereits unzulässig. Die Stellung des Antrages auf Überprüfung des Bescheides vom 22.02.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.04.2012 (richtig wohl: 25.04.2012) sei – ebenso wie die Erhebung der Klage – während des Berufungsverfahrens erfolgt. Zwar ergebe sich die Unzulässigkeit der vorliegenden Klage nicht bereits aufgrund anderweitiger Rechtshängigkeit des streitgegenständlichen Bescheides gemäß §§ 94, 202 SGG i.V.m. § 17 Abs. 1 GVG, da der Bescheid vom 08.04.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.10.2020 nicht Gegenstand des unter dem Aktenzeichen L 6 U 697/13 geführten Berufungsverfahrens sei. Die insoweit vertretene gegenteilige Auffassung, nach der auch dann ein Fall des § 96 Abs. 1 SGG angenommen werde, wenn während eines gerichtlichen Verfahrens gegen einen Verwaltungsakt ein Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X gegen eben diesen Verwaltungsakt abgelehnt werde, vermöge mit Blick auf den eindeutigen Wortlaut der seit dem 01.04.2008 erfolgten Neufassung der Vorschrift des § 96 Abs. 1 SGG („abändert“, „ersetzt“) nicht zu überzeugen. Eine analoge Anwendung komme angesichts des klaren Wortlauts des § 96 Abs. 1 SGG nicht in Betracht. Die Klage sei jedoch mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig. Es fehle das Rechtsschutzbedürfnis für die vorliegende Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage, die bei der Anwendung des § 44 SGB X erforderlich sei, da der Kläger sein Ziel mit der einfacheren, beim LSG Baden-Württemberg unter dem Aktenzeichen L 6 U 697/13 rechtshängigen Anfechtungs- und Leistungsklage gegen den noch nicht bestandskräftigen Bescheid vom 22.02.2011 erreichen könne. Der Gerichtsbescheid ist den Bevollmächtigten des Klägers am 10.06.2021 gegen Empfangsbekenntnis zugestellt worden.
 
Am Montag, den 11.07.2021 hat der Kläger Berufung beim LSG Baden-Württemberg eingelegt und zur Begründung auf die mit der Beklagten gewechselten Schriftsätze verwiesen.

Der Kläger hat das seit 2013 ruhende Verfahren L 6 U 697/13 am 13.09.2021 wieder angerufen (neues Az. L 6 U 3411/21) und Akteneinsicht beantragt, die ihm im dortigen Verfahren im Dezember 2021 gewährt worden ist. Auch im hiesigen Verfahren ist dem Kläger im Februar 2022 Akteneinsicht in die digitalen Verwaltungsakten sowie die Verfahrensakten des SG Mannheim und des LSG Baden-Württemberg gewährt worden.


Die Berichterstatterin hat die Sach- und Rechtslage mit den Beteiligten in der nichtöffentlichen Sitzung am 16.02.2022 erörtert. Nach Hinweis auf das beim LSG Baden-Württemberg bereits anhängige Verfahren L 6 U 697/13 hat der Kläger erklärt, dass es für ihn zwei getrennte Verfahren seien. In dem Verfahren vor dem 6. Senat werde seine Hörminderung von 2001 überprüft und in diesem Verfahren werde die Verschlechterung seiner Hörminderung von 2019 überprüft. Der Kläger hat unter Vorlage eines Befundberichts der S/W/M2 vom 03.02.2022 vorgetragen, dass sich sein Hörvermögen im linken Ohr gebessert habe und er seinen Antrag auf eine Hörgeräteversorgung für die rechte Seite beschränke. Auf den Inhalt des Protokolls wird verwiesen. Der Kläger hat im Nachgang zum Erörterungstermin am 20., 26. und 28.04.2021 Akteneinsicht in die ausgedruckten (Papier-)Verwaltungsakten der Beklagten genommen.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 09.06.2021 sowie den Bescheid der Beklagten vom 08.04.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.10.2020 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, den Bescheid vom 22.02.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.04.2012 aufzuheben und die Kosten für eine Hörgeräteversorgung auf der rechten Seite zu übernehmen.

hilfsweise, dass von Amts wegen ein hno-ärztliches Sachverständigengutachten eingeholt wird,

höchst hilfsweise, gemäß § 109 SGG ein hno-ärztliches Sachverständigengutachten einzuholen,

außerdem die Einholung eines verkehrstechnischen Gutachtens von Amts wegen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung des Klägers zurückzuweisen. 

In der mündlichen Verhandlung hat die Beklagtenvertreterin auf den Inhalt der erstinstanzlichen Entscheidung verwiesen, die zutreffend sei.


Entscheidungsgründe


Die gemäß §§ 143 und 144 SGG statthafte sowie nach § 151 SGG form- und fristgerecht eingelegte und auch im Übrigen zulässige Berufung des Klägers ist unbegründet.

Gegenstand des Berufungsverfahrens ist der Gerichtsbescheid des SG Mannheim vom 09.06.2021 und der Bescheid vom 08.04.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.10.2020, mit dem die Beklagte es abgelehnt hat, den Bescheid vom 22.02.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.04.2012 zurückzunehmen und die Kosten für eine Hörgeräteversorgung zu übernehmen. Hinsichtlich des Umfangs der begehrten Hörgeräteversorgung hat der Kläger im Überprüfungsverfahren gegenüber der Beklagten (nur) die Kosten für eine Hörgeräteversorgung rechts geltend gemacht. Im erstinstanzlichen Erörterungstermin haben die damaligen Prozessbevollmächtigten eine beidseitige Hörgeräteversorgung beantragt, so dass eine vom SG Mannheim als zulässig erachtete Klageänderung/-erweiterung (§ 99 Abs. 3 Nr. 2 Alt. 1 SGG) vorgelegen hat, an die der Senat gebunden ist (§ 99 Abs. 4 SGG). Vorliegend kann jedoch dahinstehen, ob die dennoch zu prüfenden Sachurteilsvoraussetzungen für die Erweiterung des Klagegegenstandes vorliegen, da der Kläger seinen Antrag in der nichtöffentlichen Sitzung des Senats am 16.02.2022 erneut auf eine Hörgeräteversorgung des rechten Ohres beschränkt hat (§ 99 Abs. 3 Nr. 2 SGG), womit eine stillschweigende teilweise Klagerücknahme (Guttenberger in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl., Stand: 15.07.2017, § 99 SGG, Rn. 33) hinsichtlich der Leistungsklage in Bezug auf die Hörgeräteversorgung des linken Ohres vorliegt. Dieser Anspruch hat sich damit erledigt (§ 102 Abs. 1 Satz 2 SGG), weshalb er nicht mehr Gegenstand der Berufungsentscheidung sein kann (Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 05.07.2016 – B 2 U 4/15 R, juris Rn. 21).

1. Die Klage mit dem Ziel, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 08.04.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.10.2020 zur Rücknahme des Bescheides vom 22.02.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.04.2012 und zur Übernahme der Kosten für eine Hörgeräteversorgung des rechten Ohres zu übernehmen, ist als kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und Abs. 4 SGG) statthaft (BSG, Urteil vom 30.01.2020 – B 2 U 2/18 R, juris Rn. 9 m.w.N.).

2. Die Berufung ist zulässig, nachdem es nicht am notwendigen Rechtsschutzbedürfnis für die Berufung fehlt, unabhängig davon, ob für die Klageerhebung durch den Kläger ein Rechtsschutzbedürfnis bestanden hat. Das Rechtsschutzbedürfnis ist keine besondere Voraussetzung für die Zulässigkeit eines Rechtsmittels, sondern ergibt sich im Allgemeinen ohne Weiteres aus der formellen Beschwer des Rechtsmittelklägers, der mit seinem Begehren in der vorangegangenen Instanz unterlegen ist. Mit dem Erfordernis der Beschwer ist in aller Regel gewährleistet, dass das Rechtsmittel nicht eingelegt wird, ohne dass ein sachliches Bedürfnis des Rechtsmittelklägers hieran besteht (BSG, Urteil vom 12.07.2012 – B 14 AS 35/12 R, juris Rn. 10; Urteil vom 08.05.2007 – B 2 U 3/06 R, juris Rn. 13; MKLS/Keller, SGG, 13. Auflage 2020, vor § 143 Rn. 5, beck-online). Ein seltener Ausnahmefall, bei dem trotz des Vorliegens der Beschwer das Rechtsschutzinteresse fehlen kann, liegt nur dann vor, wenn der Rechtsweg unnötig, zweckwidrig oder missbräuchlich beschritten wird. Unnütz und deshalb unzulässig ist ein Rechtsmittel insbesondere dann, wenn durch die angefochtene Entscheidung keine Rechte, rechtlichen Interessen oder sonstigen schutzwürdigen Belange des Rechtsmittelführers betroffen sind und die weitere Rechtsverfolgung ihm deshalb offensichtlich keinerlei rechtliche oder tatsächliche Vorteile bringen kann (BSG, Urteil vom 08.05.2007 – B 2 U 3/06 R, juris Rn. 13). Ein solcher Fall ist hier nicht gegeben, da die seinen Überprüfungsantrag ablehnende Entscheidung der Beklagten grundsätzlich rechtliche Interessen des Klägers betrifft, die sich noch nicht erledigt haben.


3. Die Berufung ist jedoch unbegründet. Das SG Mannheim hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 09.06.2021 zu Recht mangels vorliegenden Rechtschutzbedürfnisses abgewiesen. Der Senat schließt sich den zutreffenden Ausführungen des SG Mannheim an, nimmt auf diese gem. § 153 Abs. 2 SGG Bezug und sieht insoweit von einer Darstellung der Entscheidungsgründe ab.

Wie das SG Mannheim folgt auch der Senat der Auffassung des BSG in dem Urteil vom 24.02.2016, wonach für eine Klage, deren Streitgegenstand ein Überprüfungsantrag hinsichtlich eines Bescheides ist, gegen den wiederum bereits eine Anfechtungs- und Leistungsklage anhängig ist, kein Rechtschutzbedürfnis vorliegt (BSG, Urteil vom 24.02.2016 – B 8 SO 13/14 R, juris Rn. 12; Merten in: Hauck/Noftz SGB X, § 44, Rn. 51).

Jede Rechtsverfolgung setzt ein Rechtsschutzbedürfnis (Rechtsschutzinteresse) voraus, auch wenn das im SGG und in den anderen Verfahrensgesetzen nur vereinzelt zum Ausdruck gebracht worden ist. Diese Sachentscheidungsvoraussetzung begründet sich aus dem auch im Prozessrecht geltenden Gebot von Treu und Glauben (§ 242 BGB), dem Verbot des Missbrauchs prozessualer Rechte und dem Grundsatz der Effizienz staatlichen Handelns (MKLS/Keller, SGG, 13. Auflage 2020, vor § 51 Rn. 16a, beck-online). Prozessuale Rechte dürfen nicht zu Lasten der Funktionsfähigkeit des staatlichen Rechtspflegeapparats missbraucht werden (BSG, Urteil vom 12.07.2012 – B 14 AS 35/12 R, juris Rn. 17). Im Allgemeinen fehlt es am Rechtsschutzbedürfnis, wenn eine Klage für den Kläger offensichtlich keinerlei rechtliche oder tatsächliche Vorteile bringen kann. Die Nutzlosigkeit muss also eindeutig sein (BSG, Urteil vom 24.04.2008 – B 9/9a SB 8/06 R, juris Rn. 11).

Vorliegend hat die Klage im Überprüfungsverfahren für den Kläger keinerlei rechtliche oder tatsächliche Vorteile, da er sein Begehren bereits in dem Berufungsverfahren unter dem Az.
L 6 U 697/13 prozessual geltend macht und einer gerichtlichen Überprüfung unterziehen lässt. Rechtliche oder tatsächliche Vorteile des Überprüfungsverfahrens gegenüber dem originären, noch nicht abgeschlossenen Antragsverfahren, sind für den Kläger nicht ersichtlich. Entgegen der von ihm im Erörterungstermin geäußerten Auffassung werden in den Verfahren auch nicht zwei verschiedene Hörminderungen (Hörminderung 2001 und Verschlechterung 2019) überprüft. Es geht in beiden Verfahren um den vom Kläger begehrten Anspruch auf Hörgeräteversorgung, der voraussetzt, dass die Hörminderung Folge des Motorroller-Unfalls vom 16.07.2001 ist. Maßgeblicher Entscheidungszeitpunkt für das mit der Anfechtungs- und Leistungsklage weiterverfolgte Antragsverfahren (Az.: L 6 U 697/13) ist der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung der Tatsacheninstanz (BSG, Urteil vom 18.02.2016 – B 3 P 2/14 R, juris Rn. 14; MKLS/Keller, 13. Auflage 2020, SGG, § 54 Rn. 34, beck-online). Eine mündliche Verhandlung hat im Verfahren mit Az. L 6 U 697/13 noch nicht stattgefunden, so dass Änderungen und neue Erkenntnisse Gegenstand jenes Verfahrens sind. Zwar hat in jenem Verfahren ursprünglich, in erster Instanz vor dem SG Mannheim (S 2 U 1892/12), Streit um die Rechtzeitigkeit der Klageerhebung als Zulässigkeitsvoraussetzung bestanden. Da aber das SG Mannheim in seinem Gerichtsbescheid vom 15.01.2013 dem Kläger eine Wiedereinsetzung in die Klagefrist bewilligt hat und diese auch für die übergeordnete Instanz bindend und durch diese nicht nachprüfbar ist, was aus § 202 Satz 1 SGG i.V.m. §§ 512, 557 Abs. 2 ZPO folgt (vgl. MKLS/Keller, SGG, 13. Auflage 2020, § 67 Rn. 19 m.w.N., beck-online), ist auch insoweit kein rechtlicher Vorteil des Überprüfungsverfahrens gegenüber dem originären, noch nicht abgeschlossenen Antragsverfahren ersichtlich.

Die Nutzlosigkeit des gerichtlichen Verfahrens ist in Bezug auf den im hiesigen Verfahren streitigen Überprüfungsantrag zu bejahen. Es liegt in der Natur der Sache des Überprüfungsverfahrens, dass dessen Erfolg in keinem Fall über einen noch möglichen Erfolg des ursprünglichen Antragsverfahrens hinausgehen kann. Stattdessen bestehen Beschränkungen wie die Verfallsfrist des § 44 Abs. 4 SGB X, wonach Sozialleistungen längstens für einen Zeitraum von bis zu vier Jahren vor der Antragstellung erbracht werden.

Für das Fehlen des Rechtschutzbedürfnisses spricht auch, dass grundsätzlich ein Rechtschutzbedürfnis für eine Rechtsverfolgung vor Gericht zu verneinen ist, wenn eine Möglichkeit besteht, das Recht außerprozessual durchzusetzen (LSG für das Saarland, Urteil vom 09.02.2010 – L 9 AS 5/09, juris Rn. 46; LSG Niedersachsen. Urteil vom 16.05.2001 – L 4 KR 152/99, BeckRS 2001, 163345 Rn. 17, beck-online; MKLS/Keller, SGG vor § 51, Rn. 16, beck-online). Damit besteht erst recht kein Rechtschutzbedürfnis, wenn bereits von der Möglichkeit Gebrauch gemacht wird, das Recht prozessual in einem gerichtlichen Verfahren durchzusetzen. Eine gleichzeitige, zweifache gerichtliche Überprüfung widerspricht nach Überzeugung des Senats dem allgemeinen Grundsatz, dass niemand die Gerichte unnütz oder gar unlauter in Anspruch nehmen oder ein gesetzlich vorgesehenes Verfahren zur Verfolgung zweckwidriger und insoweit nicht schutzwürdiger Ziele ausnutzen darf (MKLS/Keller, 13. Auflage 2020, SGG, vor § 51 Rn. 16, beck-online).

Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, dass das Überprüfungsverfahren einen anderen Streitgegenstand als das Antrags- bzw. Widerspruchsverfahren habe. Der Streitgegenstand des Überprüfungsverfahrens unterscheidet sich von dem Streitgegenstand des ursprünglichen Antrags- und Widerspruchsverfahren darin, dass bei ersterem zusätzlich die Voraussetzungen des § 44 SGB X zu prüfen sind. Ob die Beklagte die Voraussetzungen des § 44 SGB X zutreffend geprüft hat, ist jedoch nur dann relevant, wenn aus einer Überprüfung auch ein Vorteil für den Antragstellenden entstehen würde. § 44 SGB X dient keinem Selbstzweck, sondern Ziel dieser Regelung ist es, die Konfliktsituation zwischen der Bindungswirkung eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes und der materiellen Gerechtigkeit zu Gunsten letzterer aufzulösen. Kann die Rücknahme eines bindenden Verwaltungsakts aber keine Auswirkung mehr haben, so besteht von vornherein kein Überprüfungsanspruch mehr (BSG, Urteil vom 20.10.2010 – B 13 R 90/09 R, juris Rn. 25-26). So hat der Leistungserbringer nach Ablauf der Verfallfrist eine Rücknahmeentscheidung nicht mehr zu treffen (BSG, Urteil vom 12.10.2016 – B 4 AS 37/15 R, juris Rn. 16; BSG, Urteil vom 13.02.2014 – B 4 AS 19/13 R, juris Rn. 16; BSG, Urteil vom 28.02.2013 – B 8 SO 4/12 R, juris Rn. 10, vgl. Aubel in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Auflage, Stand: 29.06.2021, § 40, Rn. 36). Die zusätzlich zu prüfenden Voraussetzungen des § 44 SGB X allein rechtfertigen daher nicht eine weitere gerichtliche Überprüfung desselben Begehrens.

Es kann bei der hier zu beurteilenden Frage nach dem Rechtschutzbedürfnis auch dahinstehen, ob die Anwendbarkeit des Verfahrens nach § 44 SGB X neben dem Widerspruchsverfahren für den Fall des Antrags auf Überprüfung durch den Betroffenen zu verneinen (vgl. BSG, Urteil vom 27.07.2004 – B 7 AL 76/03 R, juris Rn. 17 – „nicht benötigt“; KassKomm/Steinwedel, 114. EL Mai 2021, SGB X § 44 Rn. 6; BeckOK SozR/Heße, 64. Ed. 01.03.2022, SGB X § 44 Rn. 5) oder zu bejahen (Baumeister in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Auflage, Stand: 23.02.2022, § 44 SGB X, Rn. 145) ist. Gegen eine ablehnende Entscheidung der Verwaltung über den Überprüfungsantrag – unabhängig von der Begründung für die Ablehnung – besteht die Möglichkeit, eine Klage zu erheben, die sich in der Sache auf dasselbe Begehren wie das Antragsverfahren richtet.

Nicht überzeugen kann hingegen die in der Literatur vertretene Auffassung, dass das Widerspruchsverfahren nicht als effektiver oder rechtsschutzintensiver angesehen werden könne, wenn über § 44 SGB X infolge des bestehenden Anspruchs auf Aufhebung dasselbe Ziel (Aufhebung des Verwaltungsakts) erreicht werden könne (so Baumeister in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Auflage, Stand: 23.02.2022, § 44 SGB X, Rn. 145). Das Überprüfungsverfahren bedingt die zusätzliche Prüfung der Voraussetzungen des § 44 SGB X (einschließlich der materiell-rechtlichen Anspruchsbeschränkung in Abs. 4) sowie eine Umkehr der Beweislast zu Ungunsten des Antragstellers, wenn bei Erlass des bestandskräftigen Ausgangsbescheides für bestimmte Tatsachen ein Versicherungsträger beweispflichtig gewesen ist (BSG, Urteil vom 25.06.2002 – B 11 AL 3/02 R, juris Rn. 17; Merten in: Hauck/Noftz SGB X, § 44, Rn. 43; KassKomm/Steinwedel, 117. EL Dezember 2021, SGB X § 44, Rn. 36). Damit liegen beim Überprüfungsverfahren im Vergleich zum Widerspruchsverfahren zusätzliche Hürden vor, so dass das Widerspruchsverfahren (einschließlich dessen gerichtlicher Überprüfung) effektiver sowie rechtschutzintensiver ist – und damit die allgemeinen Vorschriften über das Widerspruchs- und Klageverfahren im untechnischen Sinn die spezielleren Korrekturnormen darstellen (vgl. BSG, Urteil vom 30.10.2013 – B 7 AY 7/12 R, Rn. 19).

Da die Klage aus den oben genannten Gründen bereits unzulässig gewesen ist, hatte eine Entscheidung in der Sache nicht zu ergehen. Folglich kam es auf die vom Kläger in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisanträge, bei denen es sich mangels Benennung von Beweistatsachen um bloße Beweisanregungen gehandelt hat, nicht an, weshalb der Senat von der beantragten Beweisaufnahme absehen konnte. Veranlassung für weitere Ermittlungen von Amts wegen hat ebenfalls nicht bestanden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

5. Die Revision ist nicht zuzulassen, da keiner der Gründe des § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG gegeben ist.

Rechtskraft
Aus
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