L 18 R 435/20

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
18.
1. Instanz
SG Duisburg (NRW)
Aktenzeichen
S 14 KN 80/16
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 18 R 435/20
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 5 R 5/22 R
Datum
Kategorie
Urteil

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 21.02.2020 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin auch im Berufungsverfahren.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Höhe der Witwenrente der Klägerin.

Die 1944 geborene Klägerin war seit 1970 mit dem 1943 geborenen Bergbauingenieur N - im Folgenden: Versicherter - verheiratet. Sie bezieht eine Regelaltersrente von der DRV Bund.

Der Versicherte zog im Juni 1990 von Polen nach Deutschland und wurde hier als Spätaussiedler anerkannt. Nachdem die ältere der beiden Töchter in Polen das Abitur abgelegt hatte, folgte ihm die Klägerin 1992 nach Deutschland.

Auf seinen Antrag gewährte die Beklagte dem Versicherten ab August 2008 Regelaltersrente unter Anwendung des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über Renten- und Unfallversicherung vom 09.10.1975 (DPSVA 1975) und unter Zugrundelegung von 9,8869 Entgeltpunkten (EP) für die allgemeinen und 28,8858 EP für die knappschaftlichen Versicherungszeiten (Bescheid/Mitteilung über die vorläufige Leistung vom 25.06.2008, Bescheid vom 15.05.2009).

Am 00.12.2013 verstarb der Versicherte.

Auf ihren Antrag bewilligte die Beklagte der Klägerin durch Bescheid vom 07.02.2014 große Witwenrente ab dem 01.01.2014. Da die Klägerin 1992 in das Bundesgebiet zugezogen sei, sei die Hinterbliebenenrente unter Zugrundelegung von 7,0965 EP für die allgemeine und 17,3734 EP für die knappschaftliche Rentenversicherung festzustellen. Denn bei der Berechnung der großen Witwenrente seien lediglich die persönlichen Entgeltpunkte (pEP) der Versichertenrente als besitzgeschützt anzusehen, die sich ohne Anwendung des DPSVA 1975 auf die Versichertenrente ergeben hätten. Aus der Anwendung des - über die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 weitergeltenden - Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über Soziale Sicherheit vom 08.12.1990 (DPSVA 1990) folge die Anrechnung der Versicherungszeiten in Polen ausschließlich nach dem Fremdrentengesetz (FRG) und damit die fiktive Berücksichtigung der sich hieraus ergebenden pEP nach § 88 Abs. 2 Satz 1 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) als besitzgeschützt bei Berechnung der großen Witwenrente. Für das Sterbevierteljahr sei zudem ein Betrag von 1.288,89 Euro zu erstatten. Mit Schreiben gleichen Datums wies die Beklagte auf das Ruhen des Anspruches hin, soweit die Beklagte auch für in Polen zurückgelegte Zeiten Rente erhalten sollte.

Gegen den Bescheid legte die Klägerin am 06.03.2014 Widerspruch ein.

Nachdem bekannt geworden war, dass der polnische Versicherungsträger (ZUS) der Klägerin seit dem 12.12.2013 eine (Familien-)Rente gewährte, teilte die Beklagte im Bescheid vom 08.09.2014 deren Anrechnung ab dem 01.01.2014 mit. Für den Zeitraum vom 01.01. bis zum 31.05.2014 habe sie einen Erstattungsantrag beim polnischen Träger gestellt. Die vom 01.06.2014 bis zum 31.08.2014 entstandene Überzahlung von 780,10 Euro müsse die Klägerin zurückzahlen. Der Bescheid werde Gegenstand des laufenden Widerspruchsverfahrens.

Nach weiteren Ermittlungen bei der ZUS und Anhörung der Klägerin nahm die Beklagte durch Bescheid vom 24.04.2015 den Bescheid vom 07.02.2014 hinsichtlich der Rentenhöhe ab dem 01.01.2014 teilweise zurück und verpflichtete die Klägerin zur Rückzahlung des aufgrund der gemäß § 31 Abs. 1 FRG erfolgten Anrechnung der aus Polen bezogenen Rente berechneten Betrages (1.353,22 Euro). Am 05.05.2015 legte die Klägerin auch hiergegen vorsorglich Widerspruch ein. Die Beklagte wies die Widersprüche mit Widerspruchsbescheid vom 29.01.2016 zurück.

Die Klägerin hat am 26.02.2016 Klage zum Sozialgericht Duisburg (SG) erhoben.

Sie hat unter Hinweis auf das Urteil des Senates vom 28.01.2014 - L 18 KN 57/13 - die Auffassung vertreten, ihre Witwenrente sei unter Berücksichtigung der für die Berechnung der Altersrente des Versicherten unter Anwendung des DPSVA 1975 ermittelten pEP zu gewähren. Auf den Zeitpunkt ihres Zuzuges komme es nicht an, da sie keine Rente aus eigenen Beitragszeiten begehre. Die Witwenrente sei ein von ihrem Ehemann abgeleiteter Anspruch. Der dem Ehemann zukommende Bestandsschutz bleibe auch nach dessen Tod bestehen. Es gebe keine Regelung, wonach er für Hinterbliebene entfalle.

Das SG hat in der mündlichen Verhandlung am 21.02.2020 das Verfahren insoweit abgetrennt, als sich die Klage gegen den Bescheid vom 24.04.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.01.2016 richtet (Az. S 14 R 410/20). Die Beklagte hat auf die Rückforderung der hinsichtlich des Sterbevierteljahres gezahlten Witwenrente für den Zeitraum vom 01.01. bis zum 31.03.2014 verzichtet. Die Klägerin hat dieses Teilanerkenntnis angenommen.

Sie hat beantragt,

die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 07.02.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.01.2016 zu verurteilen, der Klägerin große Witwenrente ab 01.01.2014 unter Anwendung des deutsch-polnischen Sozialversicherungsabkommens von 1975 nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die von ihr getroffene Entscheidung sei, soweit sie noch im Streit stehe, rechtmäßig.

Das SG hat die Beklagte im Urteil vom 21.02.2020 in Abänderung des angefochtenen Bescheides verurteilt, der Klägerin große Witwenrente ab dem 01.01.2014 unter Anwendung des DPSVA 1975 zu gewähren und diese unter Zugrundelegung von 9,8869 EP für die allgemeinen und 28,8858 EP für die knappschaftlichen Versicherungszeiten nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen neu zu berechnen. Es hat im Wesentlichen ausgeführt:

Die Klägerin habe Anspruch auf Berechnung der großen Witwenrente unter Berücksichtigung der bei der Berechnung der Altersrente des Versicherten zugrunde gelegten EP. Dies ergebe sich eindeutig aus § 88 Abs. 2 Satz 1 SGB VI. Eine den Regelungsgehalt dieser Norm nach allgemeinen (Kollisions-)Rechtsgrundsätzen als lex superior, lex specialis oder lex posterior verdrängende (Sonder-)Vorschrift existiere nicht, wie sich aus dem anschlusswürdigen Urteil des Landesozialgerichts (LSG) Nordrhein-Westfalen vom 28.01.2014 - L 18 KN 57/13 - ergebe. Soweit die Beklagte vertrete, einen modifizierten Besitzschutz zur Anwendung gebracht zu haben, sei dies weder nachvollziehbar noch gebe es dafür eine Rechtsgrundlage.

Die Beklagte hat gegen das ihr am 11.05.2020 zugestellte Urteil am 05.06.2020 Berufung beim LSG eingelegt.

Das Bundessozialgericht (BSG) habe in seinem Urteil vom 27.06.2019 - B 5 R 36/17 R - die Rechtsauffassung der Träger der Deutschen Rentenversicherung bestätigt, wonach Art. 27 Abs. 2 DPSVA 1990 bei Versicherten und Hinterbliebenen jeweils gesondert zu prüfen sei. Maßgebend seien danach jeweils die Wohnsitzverhältnisse der anspruchsberechtigten Personen. Die Witwe sei 1992 von Polen nach Deutschland zugezogen. Dementsprechend finde das DPSVA 1990 auf die große Witwenrente Anwendung.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des SG Duisburg vom 21.02.2020 abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt die angefochtene Entscheidung.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen. Diese sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige, insbesondere statthafte und fristgerecht eingelegte Berufung gegen das Urteil des SG Duisburg vom 21.02.2020 ist nicht begründet. Denn das SG hat zutreffend erkannt, dass die Klage zulässig und begründet ist. Die Klägerin hat einen Anspruch gegen die Beklagte auf höhere Witwenrente. Die Berufung war daher zurückzuweisen.

Streitgegenstand ist der Bescheid der Beklagten vom 07.02.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.01.2016, soweit sie der Klägerin darin große Witwenrente unter Zugrundelegung von 7,0965 EP für die allgemeine und 17,3734 EP für die knappschaftliche Rentenversicherung gewährt und damit konkludent die Berücksichtigung weiterer pEP abgelehnt hat. Sofern sich die Klage gegen die Anrechnung der der Klägerin gewährten polnischen Rente im Bescheid vom 24.04.2015, der den Bescheid vom 08.09.2014 ersetzt hat (§ 39 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - SGB X -), in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.01.2016 gerichtet hat, ist diese durch das SG abgetrennt worden und nicht Gegenstand des Berufungsverfahrens.

Die Klage ist zulässig. Mit dem Klageantrag greift die Klägerin im Wege der Anfechtungsklage den (wertfeststellenden) Verwaltungsakt über die Rentenhöhe an, begehrt mit der Verpflichtungsklage die Festsetzung eines höheren Rentenwerts unter Berücksichtigung der der Regelaltersrente des Versicherten zugrundeliegenden pEP und mit der Leistungsklage - im Wege der objektiven Klagehäufung - die Zahlung eines höheren monatlichen Rentenbetrags, § 54 Abs. 1 und 4 i.V.m. § 56 Sozialgerichtsgesetz - SGG - (vgl. BSG Urteil vom 20.03.2013 - B 5 R 2/12 R - SozR 4-2600 § 88 Nr. 2 RdNr. 12).

Die Klage ist auch begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf große Witwenrente unter Zugrundelegung der der Altersrente des Versicherten zugrunde gelegten 9,8869 pEP aus der allgemeinen Rentenversicherung und 28,8858 pEP aus der knappschaftlichen Rentenversicherung.

Rechtsgrundlage für die Witwenrente der Klägerin ist § 46 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB VI. Witwen oder Witwer, die nicht wieder geheiratet haben, haben nach dem Tod des versicherten Ehegatten, der die allgemeine Wartezeit erfüllt hat, Anspruch auf große Witwenrente oder große Witwerrente, wenn sie das 47. Lebensjahr vollendet haben. Diese Voraussetzungen erfüllt die Klägerin.

Nach § 64 SGB VI ergibt sich der Monatsbetrag einer Rente, wenn 1. die unter Berücksichtigung des Zugangsfaktors ermittelten pEP, 2. der Rentenartfaktor und 3. der aktuelle Rentenwert mit ihrem Wert bei Rentenbeginn miteinander vervielfältigt werden. Nach § 66 Abs. 2 Nr. 2 SGB VI sind bei einer Witwenrente die EP des verstorbenen Versicherten die Grundlage für die Ermittlung der pEP. Die pEP sind das Produkt aus der Summe aller EP (§ 66 Abs. 1 SGB VI) und des Zugangsfaktors (§ 77 SGB VI) des verstorbenen Versicherten. Nach § 88 Abs. 2 Satz 1 SGB VI sind bei einer Hinterbliebenenrente mindestens die bisherigen pEP des verstorbenen Versicherten zugrunde zu legen, wenn dieser eine Rente aus eigener Versicherung bezogen hat und die Hinterbliebenenrente spätestens 24 Monate nach Bezug dieser Rente beginnt. Der Versicherte bezog eine Regelaltersrente aus eigener Versicherung und die Witwenrente der Klägerin begann nahtlos im Anschluss an den Rentenbezug des Versicherten. Zudem ergibt die Berechnung der Folgerente eine geringere Anzahl pEP, so dass der Berechnung dieser Rente die höhere Anzahl pEP der Vorrente zugrunde zu legen ist. Diese höhere Anzahl tritt also an die Stelle der ermittelten niedrigeren pEP. Bei der Berechnung dieser Renten sind die pEP aus der Versichertenrente (Vorrente) maßgebend, wenn sie höher sind als die pEP bei der Berechnung der Hinterbliebenenrente.

§ 88 Abs. 2 Satz 1 SGB VI sieht auf der Tatbestandsseite folgendes Prüfschema vor: Im ersten Schritt sind die pEP der Vorrente (hier: Altersrente des Versicherten mit 9,8869 pEP aus der allgemeinen Rentenversicherung und 28,8858 pEP aus der knappschaftlichen Rentenversicherung) und im zweiten Schritt diejenigen der Folgerente (hier: große Witwenrente, 7,0965 EP für die allgemeine und 17,3734 EP für die knappschaftliche Rentenversicherung) zu bestimmen. Bei der Ermittlung der pEP für die große Witwenrente ist aufgrund des Umzuges der Klägerin nach dem Stichtag - anders als bei der Berechnung der Altersrente des Versicherten - nicht das DPSVA 1975, sondern das DPSVA 1990 i.V.m Anhang II zur Verordnung (EG) Nr. 883/2004 anzuwenden, Art. 27 Abs. 2 DPSVA 1990 (vgl. zur Anwendbarkeit von Art. 27 Abs. 2 DPSVA 1990: BSG Urteil vom 27.06.2019 - B 5 R 36/17 R). Es ergeben sich daraus für die Klägerin geringere pEP. Insoweit hat die Beklagte zutreffend ausgeführt, dass diese Norm beim Versicherten und beim Hinterbliebenen getrennt zu prüfen ist. Im dritten Prüfungsschritt sind dann die zuvor ermittelten pEP gegenüberzustellen. Dabei ergibt sich hier, dass die für die Folgerente ermittelten pEP geringer als diejenigen der Vorrente sind.

Dies führt auf der Rechtsfolgeseite der Norm dazu, dass die Klägerin Anspruch auf die große Witwenrente unter Zuerkennung der höheren EP hat. § 88 Abs. 2 Satz 1 SGB VI ist eine Besitzschutz- bzw. Bestandsschutzregelung und damit letztlich ein Ausfluss des grundrechtlich gewährleisteten Rechtsstaatsprinzips. Sinn und Zweck ist, das bisherige Rentenniveau zu sichern, welches den erworbenen Lebensstandard des Versicherten und seiner Hinterbliebenen gewährleistet und das Vertrauen der Hinterbliebenen auf den Fortbestand der existenzsichernden Rentenleistungen in bisheriger Höhe schützt (vgl. BSG Urteil vom 20.03.2012 - B 5 R 2/12 R - SozR 4-2600 § 88 Nr. 2 RdNr. 18). Um aus Vertrauensschutzgesichtspunkten den Lebensstandard von Hinterbliebenen auf dem bisherigen Niveau zu sichern, nimmt der Gesetzgeber Mehrbelastungen der (innerstaatlichen) Solidargemeinschaft bewusst in Kauf (vgl. LSG NRW Urteil vom 05.12.2018 - L 3 R 1099/17 - juris RdNr. 31).

Dies begegnet auch in Ansehung der zwischenstaatlichen Regelungen keinen Bedenken. Das DPSVA 1990 enthält zur Überzeugung des Senates keine den vertrauensschützenden Regelungsgehalt von § 88 Abs. 2 Satz 1 SGB VI zu Lasten des Hinterbliebenen modifizierende Bestimmung.

Entgegenstehendes ergibt sich auch nicht aus Art. 59 Abs. 2 Grundgesetz (GG) sowie aus dem aus der Präambel des Grundgesetzes und Art. 24 bis 26 GG abzuleitenden verfassungsrechtlichen Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes, welcher auch den Grundsatz der lex posterior – Regelung beschneidet (vgl. Maunz /Düring, Kommentar zum Grundgesetz, 78. Ergänzungslieferung 2016, zu Art. 25 Grundgesetz, RdNr. 8ff). Im Fall der Umsetzung eines völkerrechtlichen Vertrages durch Zustimmungsgesetz ist bei einer Kollision der in das deutsche Recht übernommenen Regelung mit einer innerstaatlichen Norm davon auszugehen, dass der durch Zustimmungsgesetz in das innerdeutsche Recht implementierten Norm gegenüber der gleichrangigen innerstaatlichen Norm Vorrang zu gewähren ist. Etwas anderes gilt nur dann, wenn aus der kollidierenden innerstaatlichen Vorschrift oder den Gesetzgebungsmaterialien eindeutig zu erkennen ist, dass der Gesetzgeber sich bewusst vertragswidrig verhalten und die implementierten Regelungen des völkerrechtlichen Vertrages innerstaatlich außer Kraft setzen wollte (vgl. Maunz – Dürig, a.a.O.).

Um festzustellen, ob das hier anwendbare DPSVA 1990 von § 88 Abs.2 SGB VI abweichende Sonderregelungen enthält, ist dieser Vertrag auszulegen. Zur Auslegung völkerrechtlicher zwischenstaatlicher Verträge sind die Normen zur Vertragsauslegung der Art. 31 bis 33 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23.05.1969 (im Folgenden „WVK“), welche im Wesentlichen auch völkerrechtliches Gewohnheitsrecht darstellen, heranzuziehen.

Gemäß Art. 31 Abs. 1 WVK ist ein Vertrag nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen. Hierbei bedeutet gemäß Art. 31 Abs. 2 WVK der Zusammenhang für die Auslegung eines Vertrags außer dem Vertragswortlaut samt Präambel und Anlagen auch jede sich auf den Vertrag beziehende Übereinkunft, die zwischen allen Vertragsparteien anlässlich des Vertragsabschlusses getroffen wurde sowie jede Urkunde, die von einer oder mehreren Vertragsparteien anlässlich des Vertragsabschlusses abgefasst und von den anderen Vertragsparteien als eine sich auf den Vertrag beziehende Urkunde angenommen wurde. Gemäß Art. 31 Abs. 3 WVK sind außer dem Zusammenhang jede spätere Übereinkunft zwischen den Vertragsparteien über die Auslegung des Vertrags oder die Anwendung seiner Bestimmungen, jede spätere Übung bei der Anwendung des Vertrags, aus der die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht sowie jeder in den Beziehungen zwischen den Vertragsparteien anwendbare einschlägige Völkerrechtssatz in gleicher Weise zu berücksichtigen. Eine besondere Bedeutung ist einem Ausdruck beizulegen, wenn feststeht, dass die Vertragsparteien dies beabsichtigt haben.

Doch auch unter Anwendung dieser Grundsätze ist eine vertragliche Vereinbarung, die eine mit § 88 Abs. 2 SGB VI konkurrierende und diese verdrängende Regelung enthalten könnte, im DPSVA 1990 für den Senat nicht erkennbar (so auch Stahl in Hauck/ Noftz, SGB, 04/94, § 88 SGBVI RdNr. 31). Für die Nichtanwendung des § 88 Abs. 2 SGB VI, einer die Hinterbliebene eines Versicherten begünstigenden Norm, deren tatbestandliche Voraussetzungen unstreitig erfüllt sind, bedarf es zur Überzeugung des Senats eines eindeutig erkennbaren Willens der Vertragsparteien. Dies gebietet bereits das Rechtsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG. Ein solcher eindeutiger Wille ergibt sich weder aus der Auslegung der einzelnen vertraglichen Regelungen noch aus dem Gesamtgefüge des DPSVA 1990. Insbesondere ergibt sich aus dem dortigen Regelungsgefüge kein Verbot für einen der Abkommenspartner, zu Lasten seines eigenen Staatshaushaltes bzw. seines inländischen Versicherungsträgers dafür Sorge zu tragen, dass der bisherige Lebensstandard zu Lebzeiten des Versicherten auch dessen Hinterbliebenen erhalten bleibt, solange letztere im Inland wohnen bleiben. Durch § 88 Abs. 2 SGB VI wird im Ergebnis nur die Höhe der auszuzahlenden Rente innerstaatlich reguliert, ohne dass Belastungen für den polnischen Sozialversicherungsträger entstehen. Der deutsche Gesetzgeber hat damit keine seinen Abkommenspartner benachteiligende Regelung getroffen.

Für die Auffassung des Senates spricht auch, dass sich der Besitzschutz nach höchstrichterlicher Rechtsprechung stets auf die Gesamtzahl der pEP aus der Vorrente bezieht (vgl. BSG, Urteil vom 24.04.2014 - B 13 R 25/12 R - SozR 4-2600 § 88 Nr. 3, RdNr. 23; BSG Urteil vom 20.03.2013 - B 5 R 2/12 R - aaO; BSG Urteil vom 11.06.2003 - B 5 RJ 24/02 R - SozR 4-2600 § 88 Nr. 1, RdNr. 15; BSG Urteil vom 22.10.1996 - 13/4 RA 111/94 - SozR 3-2600 § 88 Nr. 2). Keinesfalls darf die Summe der pEP aus der Vorrente bei Berechnung der Folgerente in besitzgeschützte und nicht besitzgeschützte Anteile aufgespalten werden. Eine solche Befugnis zur Aufspaltung der besitzgeschützten Gesamtzahl der pEP sieht das Gesetz weder in § 88 SGB VI noch an anderer Stelle und ebenso wenig das DPSVA 1990 vor.

Diesem Ergebnis steht auch nicht - wie die Beklagte meint - das Urteil des BSG vom 27.06.2019 - B 5 R 36/17 R - entgegen. In dem dortigen Verfahren hatte das BSG nicht über ein Konkurrenz- oder Rangverhältnis der Regelungen des DPSVA 1990 und § 88 SGB VI zu entscheiden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).  

 

Rechtskraft
Aus
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