L 12 SB 2316/19

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
12.
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 14 SB 2991/16
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 12 SB 2316/19
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 19.06.2019 abgeändert und der Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 15.09.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.09.2016 verurteilt, beim Kläger einen GdB von 50 ab 01.01.2017 festzustellen.

Der Beklagte hat dem Kläger 3/5 der außergerichtlichen Kosten für beide Rechtszüge zu erstatten.



Tatbestand

Der Kläger begehrt die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von 50 v. H. auch für die Zeit vom 01.01.2017 bis 31.10.2017.

Der 1954 geborene Kläger beantragte am 18.05.2015 beim Landratsamt H (LRA) erstmals die Feststellung eines GdB. Das LRA zog Befundunterlagen der behandelnden Ärzte sowie die Entlassberichte des H1 Krankenhauses K, der S-Kliniken sowie der Klinik S1 in B bei, wo der Kläger u.a. wegen pseudoradikulärer Sensibilitätsstörung der Extremitäten, Verdacht auf undifferenzierte Kollagenose, zeitweise erhöhten Kreatin-Phosphokinase-Werten, arterieller Hypertonie und leichtgradigen polytopen degenerativen Gelenksveränderungen im Frühsommer 2014 behandelt worden war. Aus dem Bericht ergibt sich, dass sich der Kläger seit 2014 in der Ruhephase der Altersteilzeit befand.

Der versorgungsärztliche Dienst bewertete die Funktionseinschränkungen des Klägers wie folgt:
seelische Störung, chronisches Schmerzsyndrom: 20
degenerative Veränderung der Wirbelsäule, Bandscheibenschaden: 20
Bluthochdruck: 10
Insgesamt: 30

Gestützt auf diese versorgungsärztliche Einschätzung stellte das LRA mit Bescheid vom 15.09.2015 einen GdB von 30 seit dem 18.05.2015 fest.

Den hiergegen eingelegten Widerspruch begründete der Kläger zum einen mit einer zu niedrigen Bewertung der berücksichtigten Funktionsbeeinträchtigungen, zum anderen damit, dass die Verdachtsdiagnosen der undifferenzierten Kollagenose und Polyneuropathie nicht ausreichend gewürdigt worden seien. Zudem habe er sich im April 2015 eine schwere Verletzung des linken Auges (Bindehautriss) zugezogen, deren Behandlung noch andauere. Im Weiteren habe er ständig kalte Hände und Füße, taube Fußballen und Finger sowie Nervenkribbeln an den Beinen und Armen. Immer wieder komme es auch zu Schwindelanfällen.

Das LRA holte daraufhin weitere Befundberichte der behandelnden Ärzte und eine weitere versorgungsärztliche Stellungnahme von B1 ein. Dieser führte aus, dass sich auch aufgrund der weiteren Unterlagen kein höherer GdB ergebe. Bezüglich der Funktionsstörung seitens der Wirbelsäule sei ein höherer Teil-GdB als 20 nicht zu rechtfertigen. Neurologische Ausfallerscheinungen bzw. nachvollziehbare Funktionseinbußen nach der Neutral-0-Methode seien nicht belegt. Eine Beeinträchtigung des Sehvermögens in einem für den GdB relevanten Ausmaße liege (derzeit) nicht vor.

Mit Widerspruchsbescheid vom 08.09.2016 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück.

Gegen den Widerspruchsbescheid hat der Kläger am 22.09.2016 Klage zum Sozialgericht Heilbronn (SG) erhoben und zur Begründung sein Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren vertieft.

Das SG hat die behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen befragt. Der H2 hat unter dem 02.12.2016 angegeben, es bestehe der Verdacht auf eine sensible Polyneuropathie unklarer Genese. Die K1 hat mit Schreiben vom 13.12.2016 mitgeteilt, der Kläger leide unter jeweils schwergradiger reaktiver Depression, Erschöpfung, Anpassungsstörung sowie unter Ein- und Durchschlafstörungen. Aufgrund der gravierenden körperlichen und psychischen Gesundheitseinschränkungen sei nach ihrer Ansicht der GdB mit 30 zu niedrig bewertet. Der S2 hat unter dem 07.12.2016 mitgeteilt, der Schweregrad der orthopädischen Leiden sei als leicht bis mittelschwer einzuordnen, die psychische Komponente zeitweilig als mittelschwer. Er stimme der gutachterlichen Stellungnahme von B1 zu. Lediglich die degenerativen Veränderungen am rechten Hüftgelenk seien noch nicht erfasst und mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten. Es bestehe insgesamt keine Indikation zur Veränderung oder gar Erhöhung. Der W hat mit Schreiben vom 15.12.2016 dargelegt, er halte die Feststellung des GdB der körperlichen Störungen in der versorgungsärztlichen Stellungnahme für großzügig. Die seelische Problematik lasse sich gegebenenfalls durch die begonnene Psychotherapie sowie einen Aufenthalt in einer psychosomatischen Klinik bessern. Den Schweregrad der seelischen Störung beurteile er als mittelschwer; die somatischen Folgen halte er für geringgradig. Der H3 hat unter dem 12.12.2016 angegeben, bei der Beurteilung des GdB sei die Diplopie bisher nicht berücksichtigt worden. Hierfür sei ein Einzel-GdB von 10 anzunehmen. Der Kläger hat darüber hinaus noch einen Bericht des Klinikums W1 (Polyneuropathie-Sprechstunde) vom 16.05.2017 vorgelegt, in dem eine klinisch distal-symmetrische, schmerzhafte Sensibilitätsstörung sowie eine leichte distale sensomotorische axonale Polyneuropathie diagnostiziert wurde. Daneben hat er den Befundbericht des W2 vom 07.06.2017 zu den Akten gegeben, in dem eine Fibromyalgie festgestellt wurde.

Vom 15.11.2017 bis zum 09.01.2018 hat sich der Kläger in teilstationärer Behandlung im Klinikum A in K (zfp) befunden. Dort sind folgende Diagnosen gestellt worden: Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode ohne psychotische Symptome, chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, essentielle Hypertonie.

Mit Schreiben vom 08.05.2018 hat der Beklagte ein Vergleichsangebot abgegeben, wonach der GdB 50 ab dem 01.11.2017 betrage. Dieses Angebot hat der Kläger nicht angenommen. Nach seiner Auffassung seien die Voraussetzung für einen GdB von 50 bereits zu einem früheren Zeitpunkt erfüllt gewesen.

Mit Gerichtsbescheid vom 19.06.2019 hat das SG den Beklagten entsprechend seinem Vergleichsvorschlag verurteilt, beim Kläger einen GdB von 50 ab 01.11.2017 festzustellen und die Klage im Übrigen abgewiesen. Soweit der Kläger einen höheren Einzel-GdB für die Funktionsbehinderung der Wirbelsäule geltend mache, seien die Voraussetzungen hierfür nicht erfüllt. Der Einzel-GdB für die seelischen Funktionsbeeinträchtigungen in Höhe von 40 sei erst ab 01.11.2017 nachgewiesen, vorher fehle es an einer engmaschigen psychiatrischen oder schmerztherapeutischen Behandlung.

Gegen den Gerichtsbescheid wendet sich der Kläger mit seiner am 15.07.2019 beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegten Berufung. Bereits im Dezember 2016 habe K einen dem Befund des zfp vergleichbaren Befund mitgeteilt. Er sei dort im Januar 2017 und im Juli 2017 in Behandlung gewesen, daneben sei er bei W in psychotherapeutischer Behandlung gewesen. Die Behandlung bei W habe er aufgegeben, da dieser immer wieder versucht habe, ihm heilpraktische Leistungen seiner Frau anzubieten. Er habe dann trotz intensiver Suche so schnell keinen neuen Therapeuten finden können.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 19.06.2019 sowie den Bescheid des Beklagten vom 15.09.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.09.2016 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, bei ihm einen Grad der Behinderung von 50 seit dem 01.01.2017 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.         

Er hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend.

Der Senat hat nochmals die behandelnden Ärzte des Klägers befragt. Die K hat unter dem 14.07.2020 angegeben, dass der Kläger bei ihr am 13.12.2016, 21.01.2017 und 17.07.2017 in Behandlung gewesen sei. Der Hausarzt des Klägers, S2 hat von zahlreichen Vorstellungen des Klägers in der Zeit von Dezember 2016 bis November 2017 berichtet, hierbei sei keine psychotherapeutische Behandlung erfolgt, jedoch mehrmals Kurzinterventionen zur Stabilisierung, nachdem der Kläger keinen Therapeuten habe finden können. Der behandelnde Psychotherapeut W hat unter dem 28.06.2021 angegeben, er habe den Kläger in der Zeit vom 17.10.2016 bis 09.06.2017 behandelt. In dieser Zeit sei ein Einzel-GdB von 30 für die Einschränkungen auf seinem Fachgebiet eher großzügig bemessen.

Der Rechtsstreit ist durch die Berichterstatterin in der nichtöffentlichen Sitzung am 17.06.2020 mit den Beteiligten erörtert worden. Auf die Niederschrift vom 17.06.2020 wird Bezug genommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Beteiligtenvorbringens wird auf die Verwaltungsakte des Beklagten sowie auf die Gerichtsakten beider Instanzen Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Die nach §§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte Berufung, über die der Senat aufgrund des übereinstimmenden Einverständnisses der Beteiligten gemäß § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheiden konnte, ist auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) erhoben. Die Berufung ist im zuletzt beantragten Umfang begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf einen Gesamt-GdB von 50 für die Zeit ab Januar 2017.

Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB ist § 2 Abs. 1 SGB IX in den bis zum 31.12.2017 geltenden Fassungen in Verbindung mit § 69 SGB IX in den bis zum 14.01.2015, 29.12.2016 und 31.12.2017 geltenden Fassungen. Im Hinblick auf die den vorliegend zu beurteilenden Zeitraum betreffenden unterschiedlichen Gesetzesfassungen sind diese – da Übergangsregelungen fehlen – nach dem Grundsatz anzuwenden, dass die Entstehung und der Fortbestand des sozialrechtlichen Anspruchs auf Leistungen nach dem Recht zu beurteilen ist, welches zur Zeit der anspruchsbegründenden Ereignisse oder Umstände jeweils gegolten hat (BSG, Urteil vom 16.12.2014, B 9 SB 2/13 R, juris; BSG, Urteil vom 04.09.2013, B 10 EG 6/12 R, juris; vergleiche Stölting/Greiser in SGb 2015, 135-143).

Gegenstand der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 S 1 SGG; zur statthaften Klageart vgl. BSG, Urteil vom 17.04.2013, B 9 SB 3/12 R sowie Urteil vom 12.04.2000, B 9 SB 3/99 R, beide in juris) ist der Bescheid vom 15.09.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.01.2017, mit dem der Beklagte die Feststellung eines höheren GdB für den zuletzt noch streitigen Zeitraum abgelehnt hat.

Nach § 2 Abs. 1 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Nach § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX in der bis zum 29.12.2016 geltenden Fassung stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden auf Antrag eines behinderten Menschen in einem besonderen Verfahren das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Nach § 69 Abs. 1 Satz 1 SGBX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung gilt ergänzend, dass der GdB zum Zeitpunkt der Antragstellung festgestellt wird. Als GdB werden dabei nach § 69 Abs. 1 Satz 4 und 5 SGB X in der bis zum 29.12.2016 geltenden Fassung und nach § 69 Abs. 1 Satz 5 und 6 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Zehnergraden abgestuft festgestellt, wobei eine Feststellung hierbei nur dann zu treffen ist, wenn ein GdB von wenigstens 20 vorliegt. Im Hinblick auf die den vorliegend zu beurteilenden Zeitraum betreffenden unterschiedlichen Gesetzesfassungen sind diese – da Übergangsregelungen fehlen – nach dem Grundsatz anzuwenden, dass die Entstehung und der Fortbestand des sozialrechtlichen Anspruchs auf Leistungen nach dem Recht zu beurteilen ist, welches zur Zeit der anspruchsbegründenden Ereignisse oder Umstände jeweils gegolten hat (BSG, Urteil vom 16.12.2014, B 9 SB 2/13 R, juris; BSG, Urteil vom 04.09.2013, B 10 EG 6/12 R, juris; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 24.10.2018, L 3 SB 5/17; vergleiche Stölting/Greiser in SGb 2015, 135-143).

Nach § 70 Abs. 2 SGB IX in der bis zum 29.12.2016 geltenden Fassung wird das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung des GdB und die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Nach § 70 Abs. 2 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung gilt diese Ermächtigung für die allgemeine – also nicht nur für die medizinische – Bewertung des GdB und die Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen sowie auch für die Kriterien für die Bewertung der Hilflosigkeit. Zwar ist von dieser Ermächtigung noch kein Gebrauch gemacht worden. Indes bestimmt § 159 Abs. 7 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung, dass – soweit eine solche Verordnung nicht erlassen ist – die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der auf Grund des § 30 Abs. 16 BVG in der ab 01.07.2011 geltenden Fassung (vormals § 30 Abs. 17 BVG) erlassenen Rechtsverordnungen entsprechend gelten. Mithin ist für die konkrete Bewertung von Funktionsbeeinträchtigungen die ab dem 01.01.2009 an die Stelle der „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz“ (AHP) getretene Anlage „Versorgungsärztliche Grundsätze“ (VG) zu § 2 Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (VersMedV) vom 10.12.2008 (BGBl. I S. 2412), die durch die Verordnungen vom 01.03.2010 (BGBl. I S. 249), 14.07.2010 (BGBl. I S. 928), 17.12.2010 (BGBl. I S. 2124), 28.10.2011 (BGBl. I S. 2153) und 11.10.2012 (BGBl. I S. 2122) sowie das Gesetz vom 23.12.2016 (BGBl. I S. 3234) geändert worden ist, heranzuziehen. In den VG sind unter anderem die Grundsätze für die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen (GdS) im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG festgelegt worden. Diese sind nach den VG, Teil A, Nr. 2 auch für die Feststellung des GdB maßgebend. Die VG stellen ihrem Inhalt nach antizipierte Sachverständigengutachten dar. Dabei beruht das für die Auswirkungen von Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe an der Gesellschaft relevante Maß nicht allein auf der Anwendung medizinischen Wissens. Vielmehr ist die Bewertung des GdB auch unter Beachtung der rechtlichen Vorgaben sowie unter Heranziehung des Sachverstandes anderer Wissenszweige zu entwickeln (BSG, Urteil vom 17.04.2013, B 9 SB 3/12 R, juris).

Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der GdB nach § 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX in den bis zum 29.12.2016 und 31.12.2017 geltenden Fassungen nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Zur Feststellung des GdB werden in einem ersten Schritt die einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinne von regelwidrigen (von der Norm abweichenden) Zuständen nach § 2 Abs. 1 SGB IX und die sich daraus ableitenden, für eine Teilhabebeeinträchtigung bedeutsamen Umstände festgestellt. In einem zweiten Schritt sind diese dann den in den VG genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten (VG, Teil A, Nr. 2 Buchst. e). In einem dritten Schritt ist dann in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen der Gesamt-GdB zu bilden. Dabei können die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen (sich decken), sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinanderstehen (BSG, Urteil vom 17.04.2013, B 9 SB 3/12 R, juris). Nach den VG, Teil A, Nr. 3 Buchst. c ist bei der Bildung des Gesamt-GdB in der Regel von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB auszugehen und sodann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob der Ausgangswert also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen um 10, 20 oder mehr Punkte zu erhöhen ist, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Insoweit führen nach den VG, Teil A, Nr. 3 Buchst. d, von Ausnahmefällen abgesehen, zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, die bei der Gesamtbeurteilung berücksichtigt werden könnte, auch dann nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es danach vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen. Außerdem sind nach den VG, Teil A, Nr. 3 Buchst. b bei der Gesamtwürdigung die Auswirkungen mit denjenigen zu vergleichen, für die in der GdB-Tabelle der VG feste Grade angegeben sind.

Die Bemessung des GdB ist grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe. Dabei hat insbesondere die Feststellung der nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens zu erfolgen (BSG, Urteil vom 17.04.2013, B 9 SB 3/12 R, juris).

Unter Berücksichtigung des Vorstehenden ist der Senat, anders als das SG, überzeugt, dass die bei dem Kläger vorliegenden Behinderungen im streitgegenständlichen Zeitraum ab 01.01.2017 mit einem Gesamt-GdB von 50 zu bewerten sind.

Im Vordergrund stehen bei dem Kläger die Funktionsbeeinträchtigungen auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet. Nach den VG, Teil B, Nr. 3.7 sind leichtere psychovegetative oder psychische Störungen mit einem Teil-GdB von 0 bis 20, stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungfähigkeit (z.B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) mit einem Teil-GdB von 30 bis 40 und schwere Störungen (z.B. schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten mit einem GdB von 50 bis 70 und mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten mit einem GdB von 80 bis 100 zu bewerten.

Der Kläger leidet an einem chronischen Schmerzsyndrom, einer depressiven Störung sowie einem Erschöpfungssyndrom. Dies entnimmt der Senat dem Entlassbericht des zfp, dem Entlassbericht der Klinik B sowie den sachverständigen Zeugenaussagen von K, W und S2. Diese sind für die Zeit ab Januar 2017 mit einem Einzel-GdB von 40 zu bewerten. Für die Zeit ab 01.11.2017 nimmt der Senat zur Begründung insoweit auf die Ausführungen des SG Bezug und sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 153 Abs. 2 SGG).

Für die Zeit von Januar bis Oktober 2017 konnte sich der Senat ebenfalls vom Vorliegen eines Einzel-GdB von 40 überzeugen. So lagen das chronische Schmerzsyndrom und die depressive Störung sowie das Erschöpfungssyndrom bereits vor dem 01.11.2017 vor, was der Senat den sachverständigen Zeugenaussagen von K und W entnimmt. Auch hatten die daraus resultierenden Funktionseinschränkungen bereits den Grad einer stärker behindernden Störung mit einer wesentlichen Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit erreicht. So ist der Kläger bereits ab Februar 2014 keiner beruflichen Tätigkeit mehr nachgegangen. Ferner befand er sich seit Oktober 2016 in psychiatrischer Behandlung. Zwar wurde die Behandlung aufgrund persönlicher Differenzen zwischen dem Kläger und seinem Therapeuten (W) im Juni 2017 unterbrochen, jedoch hat sich der Kläger danach in Zusammenarbeit mit seinem Hausarzt um einen neuen Therapeuten bemüht. Während dieser Zeit erfolgten auch immer psychiatrische Kurzinterventionen durch den Hausarzt. Daneben ist eine durchgehende medikamentöse Therapie mit Amitriptylin (25mg) belegt. Soweit W sich für einen Einzel-GdB von 30 ausgesprochen hat, ist zu bedenken, dass es persönliche Differenzen zwischen dem Kläger und seinem Therapeuten gegeben hat, die zum Abbruch der Therapie führten. Trotz dieser Differenzen sah W, wie sich aus der Annahme eines Einzel-GdB von 30 ergibt, bereits eine stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit als gegeben an. Auch führte W aus, dass die Affektivität des Klägers deutlich gemindert und die soziale Integration gefährdet gewesen ist. Soweit W in seiner Stellungnahme gegenüber dem SG noch von einer möglichen Besserung ausging, ist diese, wie das vorliegende Verfahren gezeigt hat, nicht eingetreten. Aufgrund der Ausführungen des W und des S2 sieht der Senat die beim Kläger vorliegenden Beeinträchtigungen insgesamt im oberen Bereich des Bewertungsrahmens.

Wie das SG bewertet der Senat im streitgegenständlichen Zeitraum die Funktionsbeeinträchtigungen im Bereich der Wirbelsäule mit einem Einzel-GdB von 20 und die Funktionsbeeinträchtigungen im Bereich Beine, Augen und Bluthochdruck mit einem Einzel-GdB von jeweils 10. Für die Beeinträchtigungen in den Bereichen Hüfte und Schulter sieht der Senat, wie auch das SG, keinen Einzel-GdB von mindestens 10. Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat deshalb auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Gerichtsbescheides Bezug und sieht von einer weiteren Darstellung ab (§ 153 Abs. 2 SGG).

Unter Berücksichtigung der vorgenannten Einzel-GdB-Werte und der bereits dargelegten Grundsätze für die Bildung des Gesamt-GdB liegt beim Kläger auch schon für die Zeit vom 01.01.2017 bis 31.10.2017 ein Gesamt-GdB von 50 vor. Auszugehen ist dabei von dem führenden Einzel-GdB von 40 (Beeinträchtigungen im Bereich „Nerven und Psyche“). Die Einzel-GdB von 10 wirken sich nicht erhöhend aus (vgl. VG, Teil A, Nr. 3 Buchst. d ee). Der Einzel-GdB von 20 für den Bereich der „Wirbelsäule“ ist vorliegend in Übereinstimmung mit dem SG und dem Beklagten erhöhend zu berücksichtigen, sodass der Gesamt-GdB mit 50 festzustellen ist.

Die Berufung ist deshalb erfolgreich.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt, dass der Kläger im Verfahren vor dem SG die Anerkennung eines GdB von 50 ab 2015 beantragt und diesen Antrag im Berufungsverfahren erst mit Schriftsatz vom 10.12.2021 auf die Zeit ab Januar 2017 beschränkt hatte.

Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.

Rechtskraft
Aus
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