L 8 SB 450/21

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
8.
1. Instanz
SG Ulm (BWB)
Aktenzeichen
S 11 SB 3785/18
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 SB 450/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 04.12.2020 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.



Gründe

I.

Die Beteiligten streiten um den Grad der Behinderung (GdB) des Klägers.

Der 1969 geborene Kläger beantragte, vertreten durch seinen Bevollmächtigten, am 30.10.2017 bei dem Beklagten erstmals die Feststellung seines GdB u.a. wegen Beschwerden am linken unteren Sprunggelenk sowie Hohlfüßen. Er verwies hierfür auf einen Entlassungsbericht der F-Klinik vom 26.09.2017 über eine vom 06.09. bis 26.09.2017 durchgeführte medizinische Rehabilitationsmaßnahme. Dort waren u.a. Sprunggelenksarthralgien mit Funktionseinschränkungen und Instabilität sowie eine Osteochondrosis dissecans [Knochenläsion unterhalb des Gelenkknorpels] der medialen Talusschulter [Sprungbein] links bei Operationen 2003 und zuletzt 2014 mit Spongiosaauffüllung und Gleitmembraneinsatz diagnostiziert worden. Daneben waren als Diagnosen ausgeprägte Hohlfüße mit Knickkomponente links sowie eine Hypothyreose [Schilddrüsenunterfunktion] genannt.

Mit versorgungsärztlicher Stellungnahme vom 19.12.2017 bewertete der P für die Funktionsbehinderung des Sprunggelenks mit einem Einzel-GdB von 10. Die Schilddrüsenunterfunktion bedinge keinen Einzel-GdB von mindestens 10.

Mit Bescheid vom 05.01.2018 lehnte der Beklagte die Feststellung eines GdB gestützt auf diese Stellungnahme ab, da der GdB nicht mindestens 20 betrage.

Der Kläger legte, vertreten durch seinen Bevollmächtigten, am 12.01.2018 hiergegen Widerspruch ein, da ein GdB von 20 festzustellen sei. Es lägen mannigfaltige Beschwerden vor, so die Funktionseinschränkung des linken Sprunggelenks mit Instabilität. Die Bewegungsausmaße seien in der Rehabilitation zu gut gewesen, so dass angeregt werde, den behandelnden Arzt H zu befragen. Der Beklagte holte daraufhin noch einen Befundbericht bei dem H ein. Dieser berichtete unter dem 10.07.2018, dass der Kläger Schmerzen im Bereich des linken unteren Sprunggelenks beim Gehen von 50 bis 100 Metern angegeben habe.

Nach erneuter versorgungsärztlicher Stellungnahme des Arztes Popp vom 03.09.2018 verblieb es bei der bisherigen Bewertung.

Mit Widerspruchsbescheid vom 30.10.2018 wies der Beklagte den Widerspruch zurück, da nach der Auswertung der ärztlichen Unterlagen keine Gesundheitsstörungen vorlägen, die einen GdB von mindestens 20 bedingten.

Der Kläger hat, vertreten durch seine Bevollmächtigten, am 22.11.2018 Klage zum Sozialgericht Ulm (SG) erhoben. Der Bevollmächtigte hat die Begründung des Widerspruches wiederholt. Der Kläger sei der unumstößlichen Auffassung, dass seine Beschwerden derart schwerwiegend seien, dass ein GdB von 30 festzustellen sei.

Das SG hat die behandelnden Ärzte H1 und H schriftlich als sachverständige Zeugen vernommen.

Der H1 hat in seiner Aussage vom 19.03.2019 von zwei Behandlungen im Oktober und November 2018 berichtet. Er hat eine Behinderung am linken Sprunggelenk bei osteochondrondaler Läsion an der medialen Talusschulter festgestellt. Diese sei rein tabellarisch betrachtet mit einem GdB von 10 zu bewerten. Es bestehe aber eine erhebliche funktionelle Einschränkung des linken Fußes insbesondere bei längerem Gehen oder Stehen, so dass ein GdB von 20 im Ermessen liege.

Der H hat in seiner Aussage vom 18.07.2019 von einer hausärztlichen Behandlung u.a. bei „Hyperthyreose“ und Impingement des linken oberen Sprunggelenks berichtet. Der Schwerpunkt der Funktionsbehinderungen liege auf dem Gebiet der Orthopädie.

Das SG hat zudem in einem dort geführten unfallversicherungsrechtlichen Verfahren des Klägers (Az. S 2 U 1104/17) eingeholte Gutachten des I vom 11.09.2017 beigezogen. Dieser hat dort eine Beweglichkeitseinschränkung im oberen Sprunggelenk mit ausgeprägten vorderen Gelenkveränderungen, eine beginnende Arthrose des linken oberen Sprunggelenks sowie eine operativ versorgte Osteochondrosis dissecans des Sprungbeines festgestellt.

Der Beklagte hat hierauf einen Vergleich angeboten, wonach der GdB 20 ab dem 30.10.2017 betrage. Der Beklagte hat sich dabei auf eine versorgungsärztliche Stellungnahme von G vom 11.11.2019 gestützt, nach der unter Berücksichtigung der Angaben des behandelnden Orthopäden H1 ursachenunabhängig ein maximaler GdB von 20 für die Gebrauchseinschränkung des linken Fußes mit Belastbarkeitsminderung vertreten werden könne.

Der Bevollmächtigte hat das Vergleichsangebot nicht angenommen, da der Kläger weiterhin der unumstößlichen Auffassung sei, dass ein GdB von 30 festzustellen sei.

Das SG hat sodann auf Antrag und Kostenrisiko des Klägers den F1 mit der Untersuchung und Begutachtung des Klägers beauftragt. In seinem Gutachten vom 28.05.2020 hat dieser eine Arthrose des linken oberen Sprunggelenks und Z.n. Defektauffüllung einer Osteochondrosis dissecans 2014 festgestellt. Eine Behinderung im alltäglichen Leben sei damit nicht verbunden. Bei der vorliegenden Bewegungseinschränkung werde der GdB mit 10 angesetzt. Daneben bestehe eine Plantarfasziitis links aufgrund eines Morbus Ledderhose bzw. posttraumatischen Narbenbildungen, die zu einer schmerzhaften Beeinträchtigung im alltäglichen Leben führe und mit einem GdB von 20 zu bewerten sei. Des Weiteren bestehe eine Epicondylitis humeri radialis (Tennisellenbogen) links, die bei fehlender Einschränkung der Beweglichkeit und fehlender Therapie mit einem GdB von 0 zu bewerten sei.

Mit Urteil vom 04.12.2020 hat das SG den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 05.01.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.10.2018 verurteilt, ab dem 17.10.2017 einen GdB von 20 festzustellen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Die Funktionsbeeinträchtigung am linken Sprunggelenk und die Gebrauchsbeeinträchtigung des linken Fußes sei in Übereinstimmung mit dem Sachverständigen F1 mit einem GdB von 20 zu bewerten. Eine mit einem höheren GdB zu bewertende Beeinträchtigung sei nicht zu erkennen. Der Kläger weise nach den Angaben des Sachverständigen ein normales Gangbild auf, ein Schmerz-oder Entlastungshinken sei nicht zu beobachten. Auch eine Umknickneigung des linken Fußes werde von dem Kläger verneint. Der Beinumfang unterscheide sich rechts und links nur minimal. Die leichte Schilddrüsenfunktionsstörung bedinge ebenso wie die Knick-Senkfüße und Hohlfüße keinen GdB von mindestens 10. Das Urteil ist dem Bevollmächtigten am 04.01.2021 zugestellt worden.

Der Kläger hat, vertreten durch seinen Bevollmächtigten, am 04.02.2021 Berufung zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt. Die bestehenden therapieresistenten Beeinträchtigungen mit dumpfen Schmerzen in der Fußsohle, die sich vor allem beim Stehen langsam steigerten, seien mit einem GdB von 20 nicht angemessen bewertet. Auch seien eine Hörminderung und ein Tinnitus bislang nicht berücksichtigt worden. Der Bevollmächtigte hat hierzu einen Befundbericht der C vom 31.03.2021 mit Tonaudiogramm vorgelegt. Die Hörminderung sei mit einem GdB von 30 zu bewerten. Der Kläger mache zudem Schlafstörungen und sozialen Rückzug aus Vereinsaktivitäten und in der Familie geltend.

Der Kläger beantragt (teilweise sinngemäß),

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Ulm vom 04.12.2020 sowie den Bescheid vom 05.01.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.10.2018 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, bei dem Kläger einen GdB von mindestens 30 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Senat hat die behandelnde C schriftlich als sachverständige Zeugin befragt. Diese hat mit am 09.09.2021 bei dem Gericht eingegangenem Schreiben von einer Behandlung am 30.03.2021 wegen einer rechts mittelgradigen und links leichtgradigen Schwerhörigkeit und einem Tinnitus aurium beidseits berichtet. Sie hat auf Anfrage des Senats sodann noch ein Sprachaudiogramm vom 28.09.2021 vorgelegt.

In einer versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 27.10.2021 hat W folgende Bewertung vorgenommen: Funktionsbehinderung des linken Sprunggelenks, Gebrauchseinschränkung des linken Fußes – Einzel-GdB 20; Schwerhörigkeit beidseitig – Einzel-GdB 10; Gesamt-GdB 20. Der Beklagte hat daher an der im Urteil vorgenommenen Bewertung des GdB im Ergebnis festgehalten.

Der Senat hat die Beteiligten mit Verfügung vom 17.11.2021 darauf hingewiesen, dass eine Entscheidung durch Beschluss nach § 153 Abs. 4 SGG beabsichtigt sei, und hat ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme bis 22.12.2021 gegeben.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte dieses Verfahrens sowie des erstinstanzlichen Verfahrens und auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen.


II.

Gemäß § 153 Abs. 4 SGG kann der Senat - nach vorheriger Anhörung der Beteiligten - die Berufung durch Beschluss zurückweisen, wenn er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Das Sozialgericht hat hier durch Urteil aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden. Im vorliegenden Fall sind die Berufsrichter des Senats einstimmig zum Ergebnis gekommen, dass die Berufung unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht erforderlich ist. Die Entscheidung im schriftlichen Verfahren bedarf keiner Zustimmung der Beteiligten. Die Beteiligten sind mit Schreiben vom 17.11.2021 auf die in Betracht kommende Möglichkeit einer Entscheidung nach § 153 Abs. 4 SGG sowie deren Voraussetzungen hingewiesen worden und haben Gelegenheit erhalten, zur Sache und zum beabsichtigten Verfahren Stellung zu nehmen. Nach dem Ermessen des Senats ist eine mündliche Verhandlung vor dem Senat nicht erforderlich. Die Beteiligten haben insoweit auch nichts geltend gemacht.

Die nach § 151 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist gemäß §§ 143, 144 SGG zulässig, aber unbegründet. Denn der Kläger hat keinen über das Urteil des SG hinausgehenden Anspruch auf Feststellung eines GdB von mindestens 30. Der Bescheid vom 05.01.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.10.2018 ist nur insoweit rechtswidrig, als dort auch die Feststellung eines GdB von 20 ab der Antragstellung abgelehnt wurde. Da nur der Kläger Berufung eingelegt hat, ist hier nicht darüber zu entscheiden, ob der Anspruch auf Feststellung des GdB von 20 schon ab dem Datum des Antrags oder erst ab dem Datum des Antragseingangs bestand. Das angefochtene Urteil des SG ist nicht zu beanstanden.

Rechtsgrundlage für die GdB-Feststellung ist § 2 Abs. 1 SGB IX in den bis zum 31.12.2017 und ab dem 01.01.2018 geltenden Fassungen in Verbindung mit § 69 SGB IX in den bis zum 14.01.2015, 29.12.2016 und 31.12.2017 geltenden Fassungen beziehungsweise in Verbindung mit § 152 Abs. 1 und 3 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung. Im Hinblick auf die den vorliegend zu beurteilenden Zeitraum betreffenden unterschiedlichen Gesetzesfassungen sind diese – da Übergangsregelungen fehlen – nach dem Grundsatz anzuwenden, dass die Entstehung und der Fortbestand des sozialrechtlichen Anspruchs auf Leistungen nach dem Recht zu beurteilen ist, welches zur Zeit der anspruchsbegründenden Ereignisse oder Umstände jeweils gegolten hat (BSG, Urteil vom 16.12.2014 – B 9 SB 2/13 R; BSG, Urteil vom 04.09.2013 – B 10 EG 6/12 R –beide in juris; hingegen auf die Rechtslage zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung abstellend: LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 18.03.2021 – L 6 SB 3843/19 –, in juris Rn. 53).

Nach § 2 Abs. 1 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Nach § 2 Abs. 1 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung sind Menschen mit Behinderungen Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate hindern können, wobei eine Beeinträchtigung in diesem Sinne vorliegt, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. 

Nach § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX in den bis zum 14.01.2015 und 29.12.2016 geltenden Fassungen stellen die für die Durchführung des BVG zuständigen Behörden auf Antrag eines behinderten Menschen in einem besonderen Verfahren das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Nach § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung beziehungsweise nach § 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung gilt ergänzend, dass der GdB zum Zeitpunkt der Antragstellung festgestellt wird. Als GdB werden dabei nach § 69 Abs. 1 Satz 4 und 5 SGB IX in den bis zum 14.01.2015 und 29.12.2016 geltenden Fassungen, nach § 69 Abs. 1 Satz 5 und 6 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung beziehungsweise nach § 152 Abs. 1 Satz 5 und 6 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Zehnergraden abgestuft festgestellt, wobei eine Feststellung hierbei nur dann zu treffen ist, wenn ein GdB von wenigstens 20 vorliegt.

Nach § 70 Abs. 2 SGB IX in der bis zum 29.12.2016 geltenden Fassung wird das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung des GdB und die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Nach § 70 Abs. 2 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung beziehungsweise nach § 153 Abs. 2 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung gilt diese Ermächtigung für die allgemeine – also nicht nur für die medizinische – Bewertung des GdB und die Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen sowie auch für die Kriterien für die Bewertung der Hilflosigkeit. Zwar ist von dieser Ermächtigung noch kein Gebrauch gemacht worden. Indes bestimmt § 159 Abs. 7 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung beziehungsweise § 241 Abs. 5 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung, dass – soweit eine solche Verordnung nicht erlassen ist – die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der auf Grund des § 30 Abs. 17 BVG in der bis zum 30.06.2011 geltenden Fassung beziehungsweise § 30 Abs. 16 BVG in der ab dem 01.07.2011 geltenden Fassung erlassenen Rechtsverordnungen entsprechend gelten. Mithin ist für die konkrete Bewertung von Funktionsbeeinträchtigungen die ab dem 01.01.2009 an die Stelle der „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz“ (AHP) getretene Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ (VG) zu § 2 Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (VersMedV) vom 10.12.2008 (BGBl. I S. 2412) in der jeweiligen Fassung heranzuziehen. In den VG sind unter anderem die Grundsätze für die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen (GdS) im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG festgelegt worden. Diese sind nach den VG, Teil A, Nr. 2 auch für die Feststellung des GdB maßgebend. Die VG stellen ihrem Inhalt nach antizipierte Sachverständigengutachten dar. Dabei beruht das für die Auswirkungen von Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe an der Gesellschaft relevante Maß nicht allein auf der Anwendung medizinischen Wissens. Vielmehr ist die Bewertung des GdB auch unter Beachtung der rechtlichen Vorgaben sowie unter Heranziehung des Sachverstandes anderer Wissenszweige zu entwickeln (BSG, Urteil vom 17.04.2013 – B 9 SB 3/12 R –, in juris). Die Bemessung des GdB ist grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe. Dabei hat insbesondere die Feststellung der nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens zu erfolgen (BSG, Urteil vom 17.04.2013 – a.a.O.). Ein von dem Gericht zu beachtender Ermessensspielraum ist dem versorgungsärztlichen Dienst bzw. dem Beklagten dabei nicht eingeräumt.

Ausgehend hiervon ist der GdB des Klägers in dem Zeitraum seit dem 17.10.2017 und damit auch seit der Antragstellung am 30.10.2017 mit nicht mehr als 20 zu bewerten.

Der Kläger leidet dabei im Wesentlichen unter einer Funktionsbeeinträchtigung der Beine (VG Teil A Nr. 2 Buchst. e) und hier des linken oberen Sprunggelenks bzw. des linken Fußes bei Arthrose des linken oberen Sprunggelenks und Zustand nach operativer Defektauffüllung einer Osteochondrosis dissecans der medialen Talusschulter im Jahr 2014. Der Senat stützt sich insoweit auf den als Urkunde verwertbaren Entlassungsbericht der F-Klinik vom 26.09.2017 und das Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen F1. Der Kläger leidet daneben unter einer Plantarfasziitis des linken Fußes. Der Senat stützt sich hierfür auf den in der Aussage des behandelnden Orthopäden H1 in Bezug genommenen Befundbericht vom 26.11.2018 (Bl. 23 der SG-Akte), in der diese Diagnose genannt wurde, sowie auf das Gutachten von F1. Das SG hat die hieraus resultierende Funktionsbehinderung durch die Bewegungseinschränkung des Sprunggelenks und die Schmerzen im Bereich der Fußsohle in Übereinstimmung mit dem sachverständigen Zeugen H1, dem Sachverständigen F1 und dem versorgungsärztlichen Dienst ausgehend von den Vorgaben in den VG Teil B Nr. 18.14 zutreffend mit einem GdB von 20 bewertet. Der Senat verweist daher auf die Entscheidungsgründe des Urteils und sieht von einer eigenen Darstellung ab (§ 153 Abs. 2 SGG).

Die von dem Kläger erst im Berufungsverfahren geltend gemachte Schwerhörigkeit mit Ohrgeräuschen ist nach den VG Teil B Nr. 5 jedenfalls ab dem Beginn der Behandlung bei der C am 30.03.2021 mit einem GdB von 10 für das Funktionssystem „Ohren“ zu bewerten. Der Aussage des Facharztes für Allgemeinmedizin H vom 18.07.2019 lässt sich dabei noch keine Erkrankung auf dem HNO-ärztlichen Gebiet bzw. eine entsprechende fachärztliche Behandlung entnehmen. Nach dem Befundbericht des K vom 06.12.2018 bestand lediglich ein Verdacht auf ein obstruktives Schlafapnoesyndrom; eine fachärztliche Therapie wurde für nicht erforderlich gehalten (Bl. 37 SG-Akte). Dem von der C vorgelegten Sprachaudiogramm vom 28.09.2021 lässt sich bei der in den VG Teil B Nr. 5.2.1 zur Ermittlung des prozentualen Hörverlustes aus den Werten der sprachaudiometrischen Untersuchung vorgesehenen Anwendung des gewichteten Gesamtwortverstehens für das rechte Ohr ein prozentualer Hörverlust von 0% (bei einem gewichteten Gesamtwortverstehen von etwa 275 und einem Hörverlust für Zahlen von weniger als 20dB) und links 10% (bei einem entsprechenden Gesamtwortverstehen, aber einem Hörverlust für Zahlen von 20dB) entnehmen. Der Senat schließt sich damit nach eigener Prüfung der Auswertung des Sprachaudiogramms durch den versorgungsärztlichen Dienst an. Dieser hat auch ausgeführt, dass sich bei zusätzlicher Auswertung auch des Tonaudiogramms nach der Drei-Frequenz-Tabelle nach Röser (gemäß VG Teil B Nr. 5.2.3) zwar ein Hörverlust von 30% für beide Ohren ergibt, in dieser Konstellation aber nur Hörverluste von maximal 20% als akzeptabler Wert gelten können. Dies ist für den Senat nachvollziehbar, da für die Bewertung des GdB bei Hörstörungen nach den VG Teil B Nr. 5 die Herabsetzung des Sprachgehörs maßgebend ist. Ein Hörverlust von 20% beidseits bedingt gemäß VG Teil B Nr. 5.2.4 allenfalls einen Einzel-GdB von 10. Dies wird im Übrigen auch dadurch bestätigt, dass der Sachverständige F1 bei der Untersuchung bei dem Kläger keine Einschränkung des Hörvermögens wahrgenommen hat. Der Hörverlust besteht dabei nach der Aussage der Fachärztin – insoweit wiederum nach den anamnestischen Angaben des Klägers – seit zwei Jahren und hätte ausgehend hiervon bereits zum Zeitpunkt der Untersuchung bei dem Sachverständigen vorgelegen. Der Kläger leidet nach der Aussage der C ferner unter einem Tinnitus, der ohne nennenswerte psychische Begleiterscheinungen nach den VG Teil B Nr. 5.3 mit einem Einzel-GdB von maximal 10 zu bewerten ist.

Der bei der Untersuchung durch F1 festgestellte Tennisellenbogen links führt bei fehlender Bewegungseinschränkung nach den VG Teil B Nr. 18.13 zu keinem GdB. Der Senat stützt sich insoweit auf das Gutachten des Sachverständigen F1. Die nach dem Bericht der BG-Klinik vom 13.02.2019 nach dem Arbeitsunfall vom 05.10.2018 mit Ellenbogenquetschung bestehende Schmerzsymptomatik war zum Untersuchungszeitpunkt bereits rückläufig und erforderte keine Einnahme von Schmerzmitteln. Eine nach den VG Teil B Nr. 18.13 relevante Bewegungseinschränkung des Ellenbogengelenks bestand bei einer Beweglichkeit von 0-0-130 Grad in Extension / Flexion bzw. Streckung / Beugung nicht (Bl. 38/39 bzw. 43 SG-Akte). Eine mindestens 6 Monate dauernde Funktionsbehinderung, die dazu einen GdB von mindestens 10 begründen könnte, lag damit nicht vor.

Die in dem Entlassungsbericht der F-Klinik angegebene behandelte Hypothyreose bedingt nach den VG Teil B Nr. 15.6 keinen GdB. Weitere Funktionsbeeinträchtigungen, die mit einem Einzel-GdB von zumindest 10 zu bewerten wären, sind hier nicht ersichtlich.

Liegen – wie hier – mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der GdB nach § 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX in den bis zum 14.01.2015, 29.12.2016 und 31.12.2017 geltenden Fassungen beziehungsweise nach § 152 Abs. 3 Satz 1 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Zur Feststellung des GdB werden in einem ersten Schritt die einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinne von regelwidrigen (von der Norm abweichenden) Zuständen nach § 2 Abs. 1 SGB IX und die sich daraus ableitenden, für eine Teilhabebeeinträchtigung bedeutsamen Umstände festgestellt. In einem zweiten Schritt sind diese dann den in den VG genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. In einem dritten Schritt ist dann in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen der Gesamt-GdB zu bilden. Dabei können die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen (sich decken), sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinanderstehen (BSG, Urteil vom 17.04.2013 – B 9 SB 3/12 R –, in juris). Nach den VG Teil A, Nr. 3 Buchst. c ist bei der Bildung des Gesamt-GdB in der Regel von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB auszugehen und sodann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob der Ausgangswert also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen um 10, 20 oder mehr Punkte zu erhöhen ist, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Insoweit führen nach den VG, Teil A, Nr. 3 Buchst. d, von Ausnahmefällen abgesehen, zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, die bei der Gesamtbeurteilung berücksichtigt werden könnte, auch dann nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es danach vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen. Außerdem sind nach den VG, Teil A, Nr. 3 Buchst. b bei der Gesamtwürdigung die Auswirkungen mit denjenigen zu vergleichen, für die in der GdB-Tabelle der VG feste Grade angegeben sind.

Ausgehend hiervon erhöht sich der GdB für das Funktionssystem „Beine“ von 20 durch das Hinzutreten der mit einem GdB von 10 bewerteten Hörminderung mit Ohrgeräuschen nicht weiter.

Der Sachverhalt ist vollständig aufgeklärt. Der Senat hält weitere Ermittlungen von Amts wegen nicht für erforderlich. Die vorliegenden ärztlichen Unterlagen haben dem Senat zusammen mit den im erstinstanzlichen Verfahren eingeholten sachverständigen Zeugenaussagen und den beiden Gutachten der gerichtlichen Sachverständigen die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen sachlichen Grundlagen vermittelt (§ 118 Abs. 1 Satz 1 SGG, § 412 Abs. 1 ZPO). Denn der festgestellte medizinische Sachverhalt bietet die Basis für die alleine vom Senat vorzunehmende rechtliche Bewertung des GdB unter Einschluss der Bewertung der sich zwischen den einzelnen Erkrankungen und Funktionsbehinderungen ergebenden Überschneidungen und Wechselwirkungen. Das Gericht muss sich das dafür notwendige ärztliche Fachwissen nicht nur (ausschließlich) in Form von Sachverständigengutachten verschaffen. Vielmehr kann hierfür auch etwa die Einholung von Befundberichten der behandelnden Ärzte oder die Beiziehung von ärztlichen Entlassungsberichten aus Krankenhäusern oder medizinischen Rehabilitationseinrichtungen ausreichend sein (BSG, Beschluss vom 24.02.2021 – B 9 SB 39/20 B –, juris). Dies ist hier zur Überzeugung des Senats der Fall.

Nach alledem war die Berufung zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.

Rechtskraft
Aus
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