1. Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 11. Juni 2021 wird zurückgewiesen.
2. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger begehrt eine Verletztenrente nach einem anerkannten Arbeitsunfall.
Er ist im Jahre 1964 geboren und wohnt im Inland. Er war als beschäftigter Lkw-Fahrer bei einem Entsorgungsunternehmen bei der Beklagten gesetzlich unfallversichert.
Am 30. November 2017 (einem Donnerstag) stürzte er bei der Arbeit aus zwei bis drei Metern Höhe von einer Leiter auf einen Steinboden, wobei er mit dem Rücken und der linken Seite aufprallte. Nach eigenen Angaben war er zunächst bewusstlos. Er wurde mit dem Hubschrauber in die Uklinik F verbracht. Ausweislich des D-Arzt-Berichts von S war der Kläger bei der Aufnahme wach und ansprechbar. Ein CT (Computer-Tomogramm) ergab keine intrakranielle Blutung, keine territoriale Ischämie und keine Frakturen im Bereich des Schädels. Im Seitenvergleich zeigte sich eine minimale Aufweitung der Facettengelenke an den Halswirbelkörpern (HWK) 3/4 und 4/5 links, aber kein Nachweis einer Traumafolge thorako-abdominell (Brust und Rumpf). Röntgenaufnahmen der Ellbogen und des linken Knies ergaben keinen Hinweis auf eine Fraktur. Der Kläger wurde bis zum 3. Dezember 2017 stationär behandelt. Bei der Entlassung wurden als Diagnosen eine Gehirnerschütterung, eine Prellung der Lendenwirbelsäule (LWS), eine epidermale Schürfwunde am linken Ellenbogen und eine Prellung des linken Knies angegeben (Zwischenbericht vom 4. Dezember 2017).
Am 30. Januar 2018 teilte die Krankenkasse IKK-Classic der Beklagten mit, der Kläger sei seit dem 11. Dezember 2017 wegen Kreuzschmerzen und Schwindels arbeitsunfähig erkrankt. Nach einer Heilverfahrenskontrolle teilte F am 8. Februar 2018 mit, es beständen Einschränkungen und Schmerzen an HWS, BWS und LWS links, erhebliche Rückenschmerzen, Unsicherheit, Verspannungen und eine Gefühlsminderung im linken Bein. Die Beklagte gewährte daraufhin Verletztengeld und Behandlungen zu ihren Lasten.
Vom 28. März bis zum 3. Mai 2018 befand sich der Kläger zu einer Komplexen Stationären Rehabilitation (KSR) in der BG-Klinik T. In dem Entlassungsbericht vom 2. Mai 2018 wurde ausgeführt, primär dominierten globale Rückenschmerzen und ein lageabhängiger Schwindel. Die Schwindelsituation sei insgesamt rückläufig gewesen. Im Verlauf habe sich in der HNO-ärztlichen Diagnostik ein Vestibularisausfall gezeigt.
Bei mehreren Untersuchungen in der Folgezeit stellten S bzw. F jeweils persistierende Schwindelbeschwerden fest und bescheinigten weitere Arbeitsunfähigkeit (vgl. z.B. Zwischenbericht vom 6. Juni 2018). Mit Zustimmung der Beklagten stellte sich Kläger am 20. September 2018 im interdisziplinären Zentrum für Schwindel und neurologische Sehstörungen des Uspitals Z vor. Dort fand man keine Hinweise auf eine peripher-vestibuläre Funktionsstörung. Die Ursache der Schwindelbeschwerden bleibe unklar. Im Raum stehe eine posttraumatische vestibuläre Migräne. Die gleiche Verdachtsdiagnose stellte am 4. März 2019 das deutsche Schwindel- und Gleichgewichtszentrum der LMU M.
Die DRV Baden-Württemberg übersandte der Beklagten ihren Bescheid vom 9. April 2019, mit dem sie die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung an den Kläger abgelehnt hatte.
Nachdem das Beschäftigungsverhältnis des Klägers zum 30. März 2019 beendet worden war und eine Heilverfahrenskontrolle am 29. April 2019 bei B ergab, dass er zwar in seiner bisherigen Tätigkeit, nicht aber auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt arbeitsunfähig sei, stellte die Beklagte mit Bescheid vom 21. Mai 2019 das laufende Verletztengeld ein.
Die Beklagte erhob bei K das neurologische Gutachten vom 5. August 2019. Der Gutachter führte aus, der zuletzt geäußerte Verdacht auf eine posttraumatische vestibuläre Migräne sei nicht nachvollziehbar. Es seien regelrechte Befunde erhoben worden und die umfangreiche vestibuläre Diagnostik habe keinen Hinweis auf eine anhaltende peripher-vestibuläre Funktionsstörung ergeben. Derzeit stehe eine nachhaltig chronifizierte mittelschwere depressive Störung mit ausgeprägtem somatischem Syndrom im Vordergrund. Es sei jedoch zu bezweifeln, ob hier noch ein unmittelbarer Zusammenhang mit dem eher harmlosen Unfallereignis bestehe. Die Ursache sei vielmehr eine schwerwiegende psychoneurotische Fehlverarbeitung. Wahrscheinlich habe sich eine anfangs plausible Anpassungsstörung verselbstständigt. Auf neurologischem Fachgebiet bestehe derzeit und auf Dauer keine unfallbedingte MdE.
Ferner erstellte im Auftrag der Beklagten B das orthopädische Gutachten („Erstes Rentengutachten“) vom 18. September 2019. Er teilte mit, aus unfallchirurgischer Sicht zeige sich eine geringe Bewegungseinschränkung der HWS, die auf muskuläre Verspannungen zurückzuführen sei. Dagegen könnten die Befunde die Schmerzen am linken Kniegelenk und im linken Ellenbogen nicht erklären. Aus. Die MdE auf seinem Fachgebiet betrage unter 10 vH.
Mit Bescheid vom 13. November 2019 erkannte die Beklagte das Ereignis vom 30. November 2017 als Arbeitsunfall an. Eine Verletztenrente wurde abgelehnt. Folgen des Arbeitsunfalls seien eine geringe Bewegungseinschränkung der HWS nach Zerrung, eine ohne wesentliche Folgen verheilte Gehirnerschütterung, eine ohne wesentliche Folgen verheilte Prellung der LWS sowie ohne wesentliche Folgen verheilte Prellungen des linken Ellenbogens und des linken Knies. Die Folgen der mittelschweren depressiven Störung seien keine Unfallfolgen.
Im Widerspruchsverfahren zog die Beklagte das Gutachten vom 16. Dezember 2019 bei, das der S2 für die DRV Baden-Württemberg erstattet hatte. Darin war ausgeführt, bei dem Kläger beständen eine Somatisierungsstörung mit somatoformem Schmerzanteil, funktionelle Schwindelbeschwerden, eine Fehlverarbeitung und Anpassungsstörungen. Daraus ergäben sich keine wesentlichen Leistungseinschränkungen. Die aktuelle Untersuchung sei im Hinblick auf eine vestibuläre Funktionsstörung - objektiv - regelgerecht ausgefallen. Es habe sich eine gut erhaltene Gleichgewichtsfunktion gezeigt. Auch eine mittelschwere Depression liege aktuell nicht vor. Daraufhin erließ die Beklagte den zurückweisenden Widerspruchsbescheid vom 28. Mai 2020.
Hiergegen hat der Kläger am 26. Juni 2020 Klage zum Sozialgericht (SG) Freiburg erhoben und die Gewährung einer Verletztenrente nach einer MdE um 20 vH begehrt.
Das SG hat bei C das neurologische Gutachten vom 3. Februar 2021 erhoben. Der Sachverständige hat als Unfallfolge einen Zustand nach Gehirnerschütterung, folgenlos ausgeheilt, festgestellt. Eine sturzbedingte Irritation des rechten Gleichgewichtsorgans sei möglich, damit vereinbar sei der pathologische Lagerungsnystagmus, der bei der HNO-ärztlichen Untersuchung im Dezember 2017 nachgewiesen worden sei. Dieser sei ausgeheilt. Bei allen späteren Untersuchungen hätten sich, wie auch jetzt, entsprechende Auffälligkeiten nicht mehr gezeigt. Es gebe keine Hinweise auf eine anhaltende peripher-vestibuläre Funktionsstörung. Hierzu passe, dass sich unter der Medikation mit Amitriptylin keine Besserung zeige. Auch die erheblich wechselnden Angaben zu Qualität und Dauer des Schwindels sprächen gegen eine organische Ursache. Das depressive Syndrom, das K erwähnt habe, sei nicht mehr festzustellen.
Mit angekündigtem Gerichtsbescheid vom 11. Juni 2021 hat das SG die Klage abgewiesen. Der bei dem Kläger bestehende Schwindel und die geltend gemachten Kopfschmerzen seien nicht auf den Unfall zurückzuführen, die ebenfalls geltend gemachte mittelschwere Depression bestehe nicht. Dies ergebe sich aus den Gutachten, vor allem jenem von C.
Gegen diesen Gerichtsbescheid hat der Kläger am 22. Juni 2021 Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg erhoben. Er behauptet, er leide an massivem Schwindel, immer wieder auftretender Migräne, Schmerzen in Schulter, Nacken, linkem Kniegelenk, ferner fehle ihm die nötige Konzentration. Er meint, diese Beschwerden beruhten auf dem Unfall.
Der Kläger hat in seiner Berufungsschrift auch von der DRV Baden-Württemberg die Gewährung einer Rente verlangt. Die DRV hat auf Nachfrage mitgeteilt, ein entsprechendes Klageverfahren wegen einer Erwerbsminderungsrente sei noch bei dem SG Freiburg anhängig. Das SG hat die Akte des Rentenstreitverfahrens (S 13 R 2555/20) übersandt.
Der Berichterstatter des Senats hat daraufhin die Sach- und Rechtslage, den Stand beider Streitverfahren und die sinnvollen Anträge mit dem Kläger erörtert. Wegen der Einzelheiten wird auf das Protokoll der nichtöffentlichen Sitzung vom 6. September 2021 Bezug genommen.
Demnach beantragt der Kläger,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 11. Juni 2021 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung ihres Bescheids vom 13. November 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28. Mai 2020 zu verurteilen, ihm wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 30. November 2017 eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 20 vH zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt den angegriffenen Gerichtsbescheid und ihre Entscheidungen.
Im Nachgang zu dem Erörterungstermin haben sich der Kläger (Schriftsatz vom 12. September 2021) und die Beklagte (Schriftsatz vom 21. September 2021) mit einer Entscheidung des Berichterstatters als Einzelrichter und ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen der Ergebnisse der Beweisaufnahme im Einzelnen wird auf die medizinischen Unterlagen, insbesondere die Gutachten aus dem Verwaltungsverfahren von K und B sowie das Gutachten des Gerichtssachverständigen C verwiesen.
Entscheidungsgründe
Mit Zustimmung beider Beteiligter entscheidet nach § 155 Abs. 3, Abs. 4 SGG der Berichterstatter als Einzelrichter anstelle des Senats. Daher sind auch die ehrenamtlichen Richter nicht beteiligt (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 155 Rn. 11). Auf die mündliche Verhandlung haben die Beteiligten verzichtet (§ 124 Abs. 2 SGG).
Gegenstand des Verfahrens ist nur die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des SG vom 11. Juni 2021, also seine Klage gegen die Beklagte wegen einer Verletztenrente. Eine weitere Klage gegen die DRV Baden-Württemberg - die wegen anderweitiger Rechtshängigkeit unzulässig gewesen und außerdem in der falschen Instanz erhoben worden wäre - hat er nach seinen Angaben in dem Erörterungstermin am 6. September 2021 nicht erhoben.
Insoweit ist die Berufung statthaft (§ 105 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 143 SGG), insbesondere war sie nach § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG nicht zulassungsbedürftig, da der Kläger eine laufende Sozialleistung für mehr als ein Jahr begehrt. Sie ist auch im Übrigen zulässig, aber nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen.
Allerdings ist die Klage als Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG) zulässig. Die Beklagte hat in dem angefochtenen Bescheid und im anschließenden Widerspruchsverfahren (§ 78 Abs. 1 SGG) ausdrücklich über die begehrte Verletztenrente entschieden.
Die Klage ist aber nicht begründet. Ein Anspruch auf Verletztenrente besteht nicht.
Verletztenrente in der gesetzlichen Unfallversicherung steht nach § 56 Abs. 1 Satz 1 SGB VII Versicherten zu, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls - hier eines Arbeitsunfalls - über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 vH gemindert ist. Ist die Erwerbsfähigkeit infolge mehrerer Versicherungsfälle gemindert und erreichen die Vomhundertsätze zusammen wenigstens die Zahl 20, besteht für jeden, auch für einen früheren Versicherungsfall, Anspruch auf Rente (§ 56 Abs. 1 Satz 2 SGB VII). Die Folgen eines Versicherungsfalls sind nur zu berücksichtigen, wenn sie die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10 vH mindern (§ 56 Abs. 1 Satz 3 SGB VII). Den Versicherungsfällen stehen gleich Unfälle oder Entschädigungsfälle nach den Beamtengesetzen, dem Bundesversorgungsgesetz, dem Soldatenversorgungsgesetz, dem Gesetz über den zivilen Ersatzdienst, dem Gesetz über die Abgeltung von Besatzungsschäden, dem Häftlingshilfegesetz und den entsprechenden Gesetzen, die Entschädigung für Unfälle oder Beschädigungen gewähren (§ 56 Abs. 1 Satz 4 SGB VII).
Bei dem Kläger verlangt demnach eine Verletztenrente eine MdE um wenigstens 20 vH, nachdem andere, stützende Versicherungsfälle oder Entschädigungstatbestände nicht vorgetragen oder ersichtlich sind. Diese MdE erreichen die Folgen des Unfalls vom 30. November 2017 aber nicht.
Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII).
Erfasst werden nur Beeinträchtigungen, die der Unfall bzw. der dadurch verursachte Gesundheitsschaden (Gesundheitserst- und Gesundheitsfolgeschäden) verursacht hat. Der Unfall muss jeweils die wesentliche Ursache gewesen sein. Dabei müssen die anspruchsbegründenden Tatsachen, d.h. neben dem Arbeitsunfall auch die Gesundheitsstörung mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit bewiesen sein (Vollbeweis). Für den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem schädigenden Ereignis und dem Gesundheitsschaden (haftungsbegründende Kausalität) sowie Folgeschäden (haftungsausfüllende Kausalität) ist demgegenüber hinreichende Wahrscheinlichkeit ausreichend. Es genügt, wenn bei Abwägung aller Umstände die für den Zusammenhang sprechenden Erwägungen überwiegen (BSGE 32, 203, 209; 45, 285, 286).
In einem zweiten Schritt ist zu prüfen, in welchem Ausmaß der Versicherte durch die Folgen des Versicherungsfalls in ihrer Fähigkeit gehindert ist, zuvor offenstehende Arbeitsmöglichkeiten zu ergreifen (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl. 2017, S. 123). Diese Einbuße ist sodann mit einer MdE zu bemessen. Hierbei handelt es sich um eine Tatsachenfeststellung des Gerichts, das gemäß § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung entscheidet (BSG, Urteil vom 18. Januar 2011 - B 2 U 5/10 R -, juris, Rn. 16). Die zur Bemessung der MdE in Rechtsprechung und Schrifttum herausgearbeiteten Erfahrungssätze sind dabei zu beachten. Sie sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend, bilden aber die Grundlage für eine gleiche und gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis und unterliegen ständigem Wandel (BSG, Urteil vom 22. Juni 2004 - B 2 U 14/03 R -, BSGE 93, 63 <65>).
Bei dem Kläger liegen als Folgen des Unfalls vom 30. November 2017 lediglich jene Schäden bzw. Funktionsstörungen vor, die die Beklagte in dem angegriffenen Bescheid anerkannt hat. Hierbei handelt es sich - auf neurologischem Fachgebiet - um eine folgenlos ausgeheilte Gehirnerschütterung sowie - auf orthopädischem Fachgebiet - um eine geringe Bewegungseinschränkung nach einer Zerrung der HWS und um - folgenlos verheilte Prellungen der LWS, des linken Ellenbogens und des linken Knies. Dass die Beklagte diese Schäden zu Recht als Unfallfolgen anerkannt hat, haben die Ermittlungen im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren bestätigt. Alle Diagnosen ergeben sich bereits aus dem Zwischenbericht der Uni-Klinik F vom 4. Dezember 2017. Die Gehirnerschütterung und ihre Ausheilung haben im Verwaltungsverfahren K und im Gerichtsverfahren C in ihren Gutachten bestätigt. Die orthopädischen Schäden hat insbesondere PD B in seinem Gutachten vom 18. September 2019 dargestellt. Die beiden Gutachten aus dem Verwaltungsverfahren verwertet der Senat als Urkunde mit öffentlichem Glauben (§§ 118 Abs. 1 Satz 1 SGG, 418 Abs. 1 ZPO). Ihre Beweiskraft ist - auch wegen der besonderen Verfahrensregelungen in § 200 Abs. 2 SGB VII - nicht geringer als diejenige eines Gutachtens eines Gerichtssachverständigen (§§ 397 ff., 412 Abs. 1 ZPO).
Die orthopädischen Unfallfolgen bedingen eine MdE von unter 10 vH. PD B hat überzeugend dargestellt, dass an funktionellen Einbußen lediglich die geringe, „endgradige“ Bewegungseinschränkung der HWS verblieben ist, während die Prellungen folgenlos verheilt sind. Eine Bewegungseinschränkung der HWS allein bedingt aber nach den medizinischen Erfahrungswerten keine nennenswerte Einschränkung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. In aller Regel führt eine Verletzung der HWS erst dann zu einer MdE, wenn es sich primär um eine strukturelle Läsion gehandelt hat, während Zerrungen der Halsmuskulatur, unter Umständen auch am Bandapparat der HWS selbst, zwangsläufig den physiologisch ablaufenden Heilungsvorgängen anheimfallen (Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 497 f.). Danach ist Bs Einschätzung, hier liege nur eine MdE um weniger als 10 vH vor, nicht zu beanstanden.
Die Schwindelbeschwerden, sofern man sie als gesichert ansieht, lassen sich nicht auf den Arbeitsunfall zurückführen. Dies ergibt sich aus dem Gutachten von C vom 3. Februar 2021. Nach seinen Ausführungen war der zunächst im Dezember 2017 im Rahmen einer HNO-Untersuchung nachgewiesene Lagerungsschwindel vereinbar mit dem Sturz, der zu einer Irritation des Gleichgewichtsorgans hat führen können. Bei allen folgenden Untersuchungen, auch in den Spezialambulanzen, hätten sich entsprechende Auffälligkeiten allerdings nicht mehr gezeigt. Auch die Untersuchung bei C selbst ergab keinen Hinweis auf eine anhaltende peripher-vestibuläre Funktionsstörung. Ferner sprechen die wechselnden Angaben des Klägers zu Qualität und Dauer des Schwindels gegen eine organische Ursache. Zumindest ist mit einer psychischen Überlagerung zu rechnen. Auf diesen Punkt weist insbesondere S2 in dem Gutachten vom 16. Dezember 2019 hin, das er im Auftrag der DRV Baden-Württemberg erstattet hat. Wie bereits zur Bewegungseinschränkung der HWS ausgeführt, haben sich ferner in den zeitnahen Untersuchungen nach dem Unfall keine Zeichen einer intrakraniellen Läsion ergeben, weder klinisch, noch bildgebend oder elektrophysiologisch. Vor diesem Hintergrund kommt C nachvollziehbar zu der Einschätzung, dass der - etwaige - Lagerungsschwindel des Klägers ausgeheilt ist und die womöglich weiterhin bestehenden Schwindelbeschwerden andere Ursachen als den Unfall haben. Zu dieser Einschätzung kam auch schon der Gutachter K in dem Gutachten vom 5. August 2019, das die Beklagte erhoben hatte.
Das Gleiche gilt, wie das SG zutreffend ausgeführt hat, für die geltend gemachten Kopfschmerzen. Die Gehirnerschütterung, die der Kläger bei dem Sturz Ähnlich wie eine vestibuläre Schwindelerkrankung konnte C in seinen gutachterlichen Untersuchungen eine - ggfs. posttraumatische - vestibuläre Migräne ausschließen. Er hat darauf hingewiesen, dass in der Vorgeschichte und dem Verlauf die für eine posttraumatische Migräne typischen klinischen Zeichen fehlen. Gegen eine traumatische Genese spricht auch die fehlende Besserung unter Medikation. Auch diese Punkte hatte bereits K herausgearbeitet. Der Senat hat keinen Anlass, an dieser einhelligen Einschätzung der beiden neurologischen Gutachter zu zweifeln.
Die Gehirnerschütterung ist, wie ausgeführt und von den neurologischen Gutachtern bestätigt, folgenlos ausgeheilt. Insbesondere kommt sie nicht als Ursache der geltend gemachten Kopfeschmerzen in Betracht. Es entspricht auch den medizinischen Erfahrungswerten, dass eine Commotio cerebri (also ein Schädel-Hirn-Trauma 1. Grades, wie es auch bei dem Kläger vorlag), in aller Regel spätestens nach drei Monaten folgenlos ausheilt, insbesondere wenn keine nachweisbare Hirnschädigung vorliegt (Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 206).
Weiterhin kann sich auch der Senat nicht davon überzeugen, dass bei dem Kläger eine Erkrankung auf psychiatrischem Fachgebiet vorliegt, die eventuell der Unfall verursacht hätte. Zwar hatte K in seinem Gutachten eine „mittelschwere Depression“ diagnostiziert. Aber bereits er hatte einen rechtlich relevanten Zusammenhang mit dem Unfall für eher unwahrscheinlich gehalten. Nach seiner Ansicht hatte nach dem Unfall allenfalls eine Anpassungsstörung (F43.2 ICD-10 GM) vorgelegen, die sich auf Grund einer Fehlverarbeitung des Klägers verselbstständigt und zu einer dauerhaften bzw. länger andauernden psychischen Erkrankung geführt hat. In diesem Falle wäre aber nicht der Unfall die wesentliche Ursache, sondern die personenimmanenten Gründe der Fehlverarbeitung. Unabhängig hiervon ist jedoch diese Erkrankung, die K gesehen hatte, vor Ablauf der 26. Woche nach dem Arbeitsunfall folgenlos ausgeheilt und kann keine MdE mehr bedingen. Diese Einschätzung stützt auch der Senat im Wesentlichen auf das Gutachten des Gerichtssachverständigen C. Er hat bei seiner Untersuchung einen unauffälligen psychischen Befund erhoben. So waren Auffassung, Konzentration, Merkfähigkeit und Gedächtnis nicht beeinträchtigt. Das Stimmungsbild war ausgeglichen, Antrieb und Schwingungsfähigkeit nicht vermindert. C konnte keine Ängste, keine Phobien und keine sozialen Rückzugstendenzen feststellen, ebensowenig wie inhaltliche Denkstörungen oder Störungen des Ich-Erlebens oder der Wahrnehmung. Dementsprechend hat er – für das Gericht angesichts der erhobenen Befunde überzeugend – ein depressives Syndrom (und damit eine Diagnose nach F32.- oder F33.- ICD-10 GM) ausgeschlossen. Ferner hat er darauf hingewiesen, dass der - eher leichte - Unfall des Klägers auch nicht geeignet war, über eine Anpassungsstörung hinaus eine jahrelang anhaltende posttraumatische psychische Störung hervorzurufen. Gestützt wird C‘ Einschätzung durch das Gutachten von S2, der ebenfalls keine Symptome einer depressiven Erkrankung feststellen konnte. Damit fehlt es am erforderlichen Vollbeweis für das Bestehen der als Unfallfolge geltend gemachten Gesundheitsstörung.
Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.
Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1.
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 22 U 2225/20
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 1 U 2116/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Rechtskraft
Aus
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