L 12 SB 3880/20

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
12.
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 19 SB 534/19
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 12 SB 3880/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 17.09.2020 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten, im Übrigen verbleibt es bei der Kostenentscheidung 1. Instanz.



Gründe

I.


Die Beteiligten streiten über den Grad der Behinderung (GdB) des Klägers.

Der am 19.09.2003 geborene Kläger leidet unter einer Achondroplasie, der häufigsten Form des genetisch bedingten Kleinwuchses.

Am 30.10.2003 beantragte er erstmals die Feststellung einer Behinderung. Mit Bescheid vom 24.02.2004 stellte das seinerzeit zuständige Versorgungsamt F einen GdB von 30 seit dem 19.09.2003 wegen einer Achondroplasie sowie einer Lungenfunktionseinschränkung fest. Mit Bescheid vom 15.09.2005 in Gestalt des bestandskräftigen Widerspruchsbescheids vom 23.11.2005 wurde aufgrund einer Achondroplasie mit Lungenfunktionseinschränkung, einer Funktionsbehinderung der Wirbelsäule sowie einer Wirbelsäulenverformung ein GdB von 50 sowie das Vorliegen des Merkzeichens „G“ festgestellt; die Voraussetzungen der ebenfalls beantragten Merkzeichen „B“, „H“ sowie „RF“ seien nicht erfüllt. Mit Bescheiden vom 26.05.2011 und 09.12.2013 lehnte das Landratsamt Ortenaukreis (LRA) die Anträge gerichtet auf Feststellung des Merkzeichens „B“ sowie eines höheren GdB ab und stützte sich dabei auf die versorgungsärztliche Stellungnahme vom 15.11.2013, wonach die neu vorliegende leichte Funktionsbehinderung beider Hüftgelenke nicht zu einer Erhöhung des GdB führe. Nach Ansicht des Versorgungsarztes seien auch die Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ eigentlich nicht erfüllt, dieses Merkzeichen könne allerdings nicht mehr entzogen werden.

Am 04.09.2017 beantragte der Kläger die Erhöhung des GdB sowie die Zuerkennung der Merkzeichen „B“ und „H“. Zur Begründung verwies er auf seine Achondroplasie sowie seine derzeitige Körpergröße von lediglich 115 cm und legte u.a. eine Stellungnahme des Bundesverbandes „Kleinwüchsige Menschen und ihre Familien“ vor, in der häufig vorkommende Funktionsbeeinträchtigungen bei Personen mit Achondroplasie ausführlich dargestellt werden.

Das LRA zog aktuelle ärztliche Befundberichte sowie Stellungnahmen bei und legte diese dem versorgungsärztlichen Dienst vor, der unter dem 06.02.2018 zu dem Ergebnis kam, dass gegenüber Gleichaltrigen eine eingeschränkte Gehstrecke des Klägers bestehe, dieser jedoch öffentliche Verkehrsmittel ohne Begleitperson nutzen könne. Überdies zeige sich ein flüssiges Gangbild bei klinisch gerader Beinachse. Der GdB von 50 sei daher weiterhin angemessen, sollte allerdings mit Eintritt der Volljährigkeit nochmals überprüft werden. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung eines Merkzeichens seien nicht erfüllt.

Das LRA hörte den Kläger daraufhin mit Schreiben vom 06.03.2018 zur beabsichtigten Entziehung des Merkzeichens „G“ an, woraufhin dieser mit Schreiben vom 29.04.2018 angab, die Wegstrecke von ca. 1,5 km zur Teilnahme am Sportunterricht oftmals nicht innerhalb der hierfür vorgesehenen Zeit zu schaffen. Gerade bei längeren Gehstrecken könne er nicht mit seinen Mitschülern mithalten, so dass er auch an Schulausflügen nicht normal teilnehmen könne. Durch seine kurze Armlänge könne er überdies viele Verrichtungen im Alltag nicht ausführen und beispielsweise auch keine Automaten nutzen. Schließlich sei er bei der Nutzung eines Busses auf fremde Hilfe beim Ein- und Ausstieg sowie zur Betätigung des Haltekopfes angewiesen.

Nach einer erneuten Konsultation des versorgungsärztlichen Dienstes lehnte das LRA mit Bescheid vom 24.05.2018 die Erhöhung des bisherigen GdB von 50 ebenso ab wie die Zuerkennung der Merkzeichen „B“ und „H“. Von der Entziehung des Merkzeichens „G“ sah das LRA ab.

Im Widerspruchsverfahren machte der Kläger geltend, seit der letzten Feststellung des GdB von 50 im September 2005 habe sich sein Gesundheitszustand wesentlich verschlimmert, weshalb nunmehr ein GdB von mindestens 70 sowie die Zuerkennung des Merkzeichens „B“ gerechtfertigt sei. Der von den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VG) vorgesehene GdB bei Kleinwuchs sei auf einen harmonischen Körperbau bezogen. Gerade die Disproportionalität seines Körperbaus durch die Verkürzung der unteren Extremitäten müsse sich erhöhend auf den GdB auswirken. Außerdem leide er unter einer Hüftbeugekontraktur, Lungenfunktionseinschränkungen, einer Funktionsbehinderung der Wirbelsäule sowie einer Wirbelsäulenverformung. Die fehlende Zuerkennung des Merkzeichens „H“ machte der Kläger im Widerspruchsverfahren nicht mehr geltend.

Nach Einholung einer weiteren versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 17.08.2018, wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 24.01.2019 zurück.

Am 04.02.2019 hat der Kläger zum Sozialgericht Freiburg (SG) Klage erhoben und im Wesentlichen die Ausführungen im Widerspruchsverfahren wiederholt.

Das SG hat sachverständige Zeugenaussagen der behandelnden Ärzte des Klägers eingeholt. Der W hat unter dem 06.05.2019 ausgeführt, der Kläger leide unter einer Achondroplasie, einer Skoliose mit deutlicher Funktionsstörung der Wirbelsäule, einer eingeschränkten Lungenfunktion, einer Funktionsbehinderung beider Hüften mit eingeschränkter Beweglichkeit und Gehstrecke, unter einer Einschränkung beim Heben von Lasten sowie unter einer körperlichen und seelischen Belastung mit deutlicher Einschränkung in der Teilhabe am alterstypischen Alltagsleben. Die K hat in ihrer sachverständigen Zeugenauskunft vom 15.06.2019 angegeben, der Kläger werde seit März 2011 regelmäßig mindestens zweimal pro Jahr in der Sektion Kinderorthopädie des Uklinikums F behandelt. Er leide unter einer Achondroplasie mit einem disproportionierten Minderwuchs bei Störung der Knorpelbildung. Die Arme seien zwar frei beweglich, würden allerdings einen eingeschränkten Aktionsradius wegen der relativen Verkürzung im Vergleich zur Rumpflänge aufweisen. Bei der letztmaligen Vorstellung des Klägers im Mai 2019 sei eine Körpergröße von 127 cm festgestellt worden. Es sei mit einem geringfügigen weiteren Wachstum des Klägers zu rechnen, das spätestens mit Erreichen der Volljährigkeit voraussichtlich abgeschlossen sei.

Das SG hat auf Antrag und Kostenrisiko des Klägers ein Gutachten bei dem S eingeholt. S hat in seinem Gutachten vom 21.02.2020 die aktuelle Körpergröße des Klägers mit 127,2 cm (< 1. Perzentile) angegeben, mit einem weiteren Wachstum sei nicht zu rechnen. Beim Kläger zeige sich ein disproportionierter Kleinwuchs mit verkürzten Armen und Beinen, wobei die Fingerspitzen bei herabhängenden Armen bis zur Hüfte reichten. Die Muskelkraft sei wegen ungünstiger Hebelverhältnisse der Muskellänge zur Knochenlänge reduziert. Im Bereich der Wirbelsäule zeige sich eine leichte Skoliose. Die Beweglichkeit der Hüftbeugung sei leicht eingeschränkt. Der GdB für den Kleinwuchs betrage 50, hinzu kämen die Einschränkungen durch die Disproportionierung, die die Selbstständigkeit des Klägers im Alltag zusätzlich erheblich einschränken würden. S hat ferner die Notwendigkeit fremder Hilfe bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln gesehen, da der Kläger wegen seiner verkürzten Arme Fahrkartenautomaten nicht ohne Weiteres selbst bedienen könne und Schwierigkeiten habe, Treppenstufen zu überwinden sowie Schwierigkeiten beim Einsteigen etwa in einen Bus.

Mit Urteil vom 17.09.2020 hat das SG den Beklagten verurteilt, beim Kläger einen GdB von 70 seit dem 07.09.2017 festzustellen und die Klage im Übrigen abgewiesen. Entgegen der Ansicht des Beklagten sei mit keinem weiteren Wachstum zu rechnen.

Gegen das ihm am 19.11.2020 zugestellte Urteil wendet sich der Beklagte mit seiner am 08.12.2020 beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegten Berufung. Beim Kläger liege ein harmonischer Kleinwuchs mit allenfalls leichten Einschränkungen vor. Aufgrund des Wachstums des Klägers könnten jedenfalls bis zum November 2018 die Tabellenwerte gemäß den VG, Teil B, Nr. 18.7 nicht zugrunde gelegt werden.

Der Beklagte beantragt.
           
das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 17.09.2020 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das Urteil für zutreffend.

Die Berichterstatterin hat im Termin zur Erörterung des Sachverhalts eine Entscheidung nach § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) angekündigt.

Wegen der Einzelheiten im Sachverhalt und im Vorbringen der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen sowie die Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen.


II.

Der Senat konnte die Berufung des Beklagten nach Anhörung der Beteiligten gemäß § 153 Abs. 4 SGG durch Beschluss zurückweisen, da er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Gründe für die Durchführung einer mündlichen Verhandlung liegen nicht vor.

Die Berufung des Beklagten ist nach § 143 SGG statthaft, insbesondere war sie nicht nach § 144 Abs. 1 Satz 1 SGG zulassungsbedürftig. Sie ist auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) erhoben. Sie ist jedoch unbegründet. Der Kläger hat, wie das SG zutreffend ausgeführt hat, einen Anspruch auf einen GdB von 70 seit 04.09.2017.

Rechtsgrundlage für die vom Kläger begehrte Neufeststellung des GdB ist in verfahrensrechtlicher Hinsicht § 48 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Wesentlich ist eine Änderung dann, wenn sich der GdB um wenigstens 10 erhöht oder vermindert. Im Falle einer solchen Änderung ist der Verwaltungsakt aufzuheben und durch eine zutreffende Bewertung zu ersetzen (vgl. BSG, Urteil vom 22.10.1986, 9a RVs 55/85, juris m.w.N.). Die den einzelnen Behinderungen welche ihrerseits nicht zum so genannten Verfügungssatz des Bescheides gehören zugrunde gelegten GdB-Sätze erwachsen nicht in Bindungswirkung (BSG, Urteil vom 29.04.2010, B 9 SB 2/09 R; Urteil vom 10.09.1997, 9 RVs 15/96, beide in juris). Hierbei handelt es sich nämlich nur um Bewertungsfaktoren, die wie der hierfür (ausdrücklich) angesetzte Einzel- oder Teil-GdB nicht der Bindungswirkung des § 77 SGG unterliegen. Ob eine wesentliche Änderung eingetreten ist, muss damit durch einen Vergleich des gegenwärtigen Zustands mit dem bindend festgestellten früheren Behinderungszustand ermittelt werden.

Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB ist § 2 Abs. 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) in Verbindung mit § 152 Abs. 1 und 3 SGB IX. Nach § 2 Abs. 1 SGB IX sind Menschen mit Behinderungen Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können, wobei eine Beeinträchtigung in diesem Sinne vorliegt, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Nach § 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung gilt ergänzend, dass der GdB zum Zeitpunkt der Antragstellung festgestellt wird. Als GdB werden dabei nach § 152 Abs. 1 Satz 5 und 6 SGB IX die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Zehnergraden abgestuft festgestellt, wobei eine Feststellung hierbei nur dann zu treffen ist, wenn ein GdB von wenigstens 20 vorliegt.

Nach § 153 Abs. 2 SGB IX gilt diese Ermächtigung für die allgemeine – also nicht nur für die medizinische – Bewertung des GdB und die Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen sowie auch für die Kriterien für die Bewertung der Hilflosigkeit. Zwar ist von dieser Ermächtigung noch kein Gebrauch gemacht worden. Indes bestimmt § 241 Abs. 5 SGB IX, dass – soweit eine solche Verordnung nicht erlassen ist – die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der auf Grund des § 30 Abs. 16 BVG in der ab 01.07.2011 geltenden Fassung (vormals § 30 Abs. 17 BVG) erlassenen Rechtsverordnungen entsprechend gelten. Mithin ist für die konkrete Bewertung von Funktionsbeeinträchtigungen die ab dem 01.01.2009 an die Stelle der „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz“ (AHP) getretene Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ (VG) zu § 2 Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (VersMedV) vom 10.12.2008 (BGBl. I S. 2412), die durch die Verordnungen vom 01.03.2010 (BGBl. I S. 249), 14.07.2010 (BGBl. I S. 928), 17.12.2010 (BGBl. I S. 2124), 28.10.2011 (BGBl. I S. 2153) und 11.10.2012 (BGBl. I S. 2122) sowie das Gesetz vom 23.12.2016 (BGBl. I S. 3234) geändert worden ist, heranzuziehen. In den VG sind unter anderem die Grundsätze für die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen (GdS) im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG festgelegt worden. Diese sind nach den VG, Teil A, Nr. 2 auch für die Feststellung des GdB maßgebend. Die VG stellen ihrem Inhalt nach antizipierte Sachverständigengutachten dar. Dabei beruht das für die Auswirkungen von Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe an der Gesellschaft relevante Maß nicht allein auf der Anwendung medizinischen Wissens. Vielmehr ist die Bewertung des GdB auch unter Beachtung der rechtlichen Vorgaben sowie unter Heranziehung des Sachverstandes anderer Wissenszweige zu entwickeln (BSG, Urteil vom 17.04.2013, B 9 SB 3/12 R, juris).

Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der GdB nach § 152 Abs. 3 Satz 1 SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Zur Feststellung des GdB werden in einem ersten Schritt die einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinne von regelwidrigen (von der Norm abweichenden) Zuständen nach § 2 Abs. 1 SGB IX und die sich daraus ableitenden, für eine Teilhabebeeinträchtigung bedeutsamen Umstände festgestellt. In einem zweiten Schritt sind diese dann den in den VG genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten (VG, Teil A, Nr. 2 Buchst. e). In einem dritten Schritt ist dann in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen der Gesamt-GdB zu bilden. Dabei können die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen (sich decken), sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinanderstehen (BSG, Urteil vom 17.04.2013, B 9 SB 3/12 R, juris). Nach den VG, Teil A, Nr. 3 Buchst. c ist bei der Bildung des Gesamt-GdB in der Regel von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB auszugehen und sodann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob der Ausgangswert also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen um 10, 20 oder mehr Punkte zu erhöhen ist, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Insoweit führen nach den VG, Teil A, Nr. 3 Buchst. d, von Ausnahmefällen abgesehen, zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, die bei der Gesamtbeurteilung berücksichtigt werden könnte, auch dann nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es danach vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen. Außerdem sind nach den VG, Teil A, Nr. 3 Buchst. b bei der Gesamtwürdigung die Auswirkungen mit denjenigen zu vergleichen, für die in der GdB-Tabelle der VG feste Grade angegeben sind.

Die Bemessung des GdB ist grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe. Dabei hat insbesondere die Feststellung der nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens zu erfolgen (BSG, Urteil vom 17.04.2013, B 9 SB 3/12 R, juris).

Unter Berücksichtigung des Vorstehenden ist der Senat, ebenso wie bereits das SG, überzeugt, dass die beim Kläger vorliegenden Behinderungen mit einem Gesamt-GdB von 70 zu bewerten sind.

Wie auch der Beklagte geht der Senat davon aus, dass die VG, Teil B, Nr. 18.7 allenfalls entsprechend zur Anwendung kommen (vgl. auch BSG, Urteil vom 17.09.1980, 9 RVs 3/80, juris). Der Anwendungsbereich ist bereits seinem Wortlaut zufolge, der auf die Körpergröße „nach Abschluss des Wachstums“ abstellt, auf kleinwüchsige Erwachsene beschränkt. Die vorgegebenen GdB-Werte berücksichtigen dementsprechend allein die aus der Kleinwüchsigkeit folgenden Einschränkungen von Erwachsenen bei der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft, also beispielsweise auch im allgemeinen Erwerbsleben (vgl. VG, Teil A, Nr. 2 Buchst. a). Deshalb ist es für die rechtliche Bewertung des GdB ohne Belang, dass bei dem im Zeitpunkt der Antragstellung 14-jährigen Kläger keine Wachstumsprognose erstellt werden konnte. Der direkten Anwendbarkeit der VG, Teil B, Nr. 18.7 steht vorliegend auch der Rechtsgedanke der VG, Teil A, Nr. 2 Buchst. h entgegen, wonach Gesundheitsstörungen, die erst in der Zukunft zu erwarten sind, bei der Bemessung des GdB nicht zu berücksichtigen sind (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 03.09.2015, L 13 SB 103/14, juris).

Die Höhe des GdB ist deshalb bei dem Kläger individuell unter Beachtung der „besonderen Gegebenheiten“ (vgl. VG, Teil A, Nr. 2 Buchst. d) zu bemessen, wobei als Vergleichsmaßstab nach den VG, Teil B, Nr. 1 Buchst. b die in der GdB-Tabelle aufgeführten Bewertungen entsprechend heranzuziehen sind (LSG Berlin-Brandenburg, a.a.O., BSG, a.a.O.). Ausgehend von den in § 2 Abs. 1 SGB IX niedergelegten Grundsätzen ist bei kleinwüchsigen Kindern darauf abzustellen, inwieweit ihre körperlichen Funktionen von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Dabei nehmen die Beeinträchtigungen mit zunehmendem Alter zu, da auch das Missverhältnis der Körpergröße zum Normalmaß immer mehr in Erscheinung tritt (BSG, a.a.O.). Mit der Einschulung wird, so das BSG, das sich vorher (u.a. beim Spielen) noch kaum auswirkende geringere Wachstum auch für andere leicht erkennbar und Probleme, wie die Bewältigung des Schulwegs, treten erstmals auf (BSG, a.a.O.).

Aufgrund der individuelle Gegebenheiten ist der GdB des Klägers mit 70 zutreffend bewertet. Insgesamt sieht der Senat im vorliegenden Fall das Leben des kleinwüchsigen jugendlichen Klägers im Vergleich zu Gleichaltrigen mindestens ebenso beeinträchtigt wie das eines kleinwüchsigen Erwachsenen im Vergleich zu seinen Altersgenossen und orientiert sich deshalb an den Vorgaben der VG, Teil B, Nr. 18.7, ohne diese direkt anzuwenden. Diese sehen allein für den Kleinwuchs einen Einzel-GdB von bis zu 50 vor (1). Darüber hinaus sind mit dem Kleinwuchs verbundene Störungen wie mangelhafte Körperproportionen, Verbildungen der Gliedmaßen, Störungen der Gelenkfunktion, Muskelfunktion und Statik, neurologische Störungen, Einschränkungen der Sinnesorgane, endokrine Ausfälle und außergewöhnliche psychoreaktive Störungen zusätzlich berücksichtigen (2).

(1) Die Körpergröße des Klägers im streitgegenständlichen Zeitraum betrug nach Angaben des behandelnden Kinderarztes am 24.10.2017, 30.11.2017 sowie am 18.01.2018 jeweils 117 cm und lag damit im unteren Bereich der 3er Perzentile von 150,75 cm, der Median liegt für 14-jährige Jungen bei 166,93 cm (vgl Robert-Koch-Institut [RKI], https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GBEDownloadsB/referenzperzentile/koerperlaenge.pdf?__blob=publicationFile, abgerufen am 23.06.2021). Im Mai 2019 betrug die Körpergröße nach Angaben der K 127 cm (3er Perzentile für 15,5-jährige 160,72 cm, Meridian 175,20 cm, vgl. RKI, a.a.O.). Im Zeitpunkt der Begutachtung durch S am 14.02.2020 betrug die Körpergröße 127,2 cm (3er Perzentile für 17-jährige 164,97 cm, Meridian 178,24 cm, vgl. RKI, a.a.O.) und lag damit nach Angaben von S in der 1er Perzentile. Der Wachstumsunterschied trat somit in jedem Fall schon seit 2017 sehr deutlich zutage. So ist der Kläger auch im Vergleich zu seinen nicht kleinwüchsigen Altersgenossen in seinem Gehvermögen und damit im Bereich der Mobilität eingeschränkt. Der Sachverständige S hat bei dem Kläger u.a. eine Spannweite von ca. 110 cm, über eine Schritthöhe von ca. 17 cm und über eine funktionelle Reichweite seiner Hände von ca. 135 cm (maximale Griffhöhe) gemessen. Die behandelnde K hat zudem berichtet, dass im Bereich beider Hüftgelenke ein Streckdefizit von ca. 10-15 Grad besteht und die Gehfähigkeit und die Gehstrecke des Klägers durch die verkürzte Schrittlänge, die Belastungseinschränkung der Gelenke und die hierdurch bedingte schnellere Ermüdbarkeit relevant eingeschränkt ist. Auch der Kläger selbst hat angegeben, in seiner Mobilität und damit seiner Teilhabe am Leben im Vergleich zu Gleichaltrigen beeinträchtigt zu sein. So kann er den Weg zur Schule und insb. zum Sportunterricht in der vorgesehenen Zeit nicht oder nur mit Hilfe seiner Schulkameraden bewältigen. Bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel ist er ebenfalls eingeschränkt, da er aufgrund der geringen Schrittlänge (auch im Vergleich zu Gleichaltrigen) die teilweise hohen Stufen in Bussen und Zügen nur schwer überwinden kann, wie der Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem SG glaubhaft erklärt und S in seinem Gutachten bestätigt hat. Die Bedienung eines Fahrkartenautomaten ist dem Kläger (auch im Vergleich zu Gleichaltrigen) allein kaum möglich.

Insgesamt folgt der Senat insoweit der Einschätzung des Gutachters S, der allein für den Kleinwuchs einen Einzel-GdB von 50 berücksichtigt.

(2) Daneben liegen beim Kläger mit dem Kleinwuchs verbundene weitere Störungen im Hinblick auf mangelhafte Körperproportionen und gestörter Gelenk- und Muskelfunktionen sowie Beeinträchtigungen im Bereich der gesamten Wirbelsäule und der Lungenfunktion vor (so W), die eine Erhöhung des GdB auf 70 rechtfertigen. Aufgrund der verkürzten Oberarme hat der Kläger (die Fingerspitzen reichen gerade bis zur Hüfte) einen deutlich eingeschränkten Aktionsradius, worauf sowohl die behandelnden Ärzte als auch der Sachverständige hingewiesen haben. Aus diesem Grund ist der Kläger kaum in der Lage, normale Toiletten zu benutzten, wie der Sachverständige in seinem Gutachten nachvollziehbar darlegt. Darüber hinaus ist er bei der Intimhygiene eingeschränkt bzw. teilweise auf fremde Hilfe angewiesen, was auch die behandelnde Orthopädin bestätigt. Auch im weiteren Alltag, etwa beim Einkaufen, ist der Kläger, wie das SG zutreffend dargelegt hat, auch im Vergleich zu Altersgenossen deutlich eingeschränkt, da er z.B. obere Regale nicht selbst erreichen kann. Auch die Benutzung von Geldautomaten, um sein Taschengeldkonto nutzen zu können, ist dem Kläger ohne fremde Hilfe kaum möglich, wie er nachvollziehbar im Widerspruchsverfahren angegeben hat.

Außerdem ist nach den Feststellungen des S die Muskelkraft aufgrund ungünstiger Hebelverhältnisse der Muskellänge zur Knochenlänge reduziert, was der behandelnde W bestätigt. Der Kläger kann, so der Sachverständige, kaum schwere Dinge in einem Rucksack tragen. Für den Schulbesuch wurde dem Kläger deshalb ein zweiter Satz Schulbücher zur Verfügung gestellt, damit er die Bücher nicht immer hin und her tragen muss. Aber auch in der Teilhabe am Schulunterricht ist der Kläger durch den Kleinwuchs eingeschränkt. So kann er nicht wie seine gleichaltrigen Mitschüler am Sportunterricht teilnehmen; für die Bewertung der Leistungen gibt es für Kleinwüchsige besondere Tabellen, was bereits die Abweichung zu nicht kleinwüchsigen Altersgenossen belegt. Viele Sportarten außerhalb des Schulsports – ein für Jugendliche durchaus wichtiger Lebensbereich – sind dem Kläger gänzlich verwehrt. Auch die Teilnahme an Schulausflügen oder anderen jugendtypischen Freizeitaktivitäten ist dem Kläger allenfalls eingeschränkt möglich, da er neben den Einschränkungen in der Gehfähigkeit aufgrund der fehlenden Kraft auch kaum einen Rucksack tragen kann, worauf der Kläger im Widerspruchsverfahren hingewiesen hat. Der W hat zudem angegeben, dass beim Kläger eine deutliche Einschränkung in der Teilhabe am alterstypischen Alltagsleben besteht, was sowohl der Kläger als auch dessen Mutter im Termin zur Erörterung des Sachverhaltes dargelegt haben.

Auch der Vergleich mit anderen GdB-Werten (vgl. VG, Teil A, Nr. 3 Buchst. b) rechtfertigt einen GdB von 70 für die Einschränkungen des Klägers. So liegt ein Einzel-GdB von 70 beispielsweise vor bei einem Verlust eines Beines im Oberschenkel. Betroffene haben (zumeist) keine Probleme im Bereich der Intimhygiene. Ihnen ist oftmals die Benutzung von Unterarmgehstützen (zusätzlich zu einem Rollstuhl) möglich, die die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel oder auch höherer Stufen erleichtern.

Insgesamt liegt beim Kläger zumindest ab Antragstellung am 04.09.2017 ein GdB von 70 vor. Die Berufung des Beklagten war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) bestehen nicht.

Rechtskraft
Aus
Saved