L 8 SB 3805/20

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
8.
1. Instanz
SG Ulm (BWB)
Aktenzeichen
S 1 SB 3792/18
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 SB 3805/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Ulm 13.10.2020 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.



Tatbestand

Der Kläger wendet sich gegen die Herabsetzung seines Grades der Behinderung (GdB).

Der 1961 geborene Kläger beantragte erstmals am 21.05.2002 die Feststellung eines GdB. Im Jahr 2012 erkrankte er an einem Prostatakarzinom mit der Klassifizierung pT3a, pNO, pLO, pV0. Im September 2012 erfolgte eine pelvine Lymphadenektomie und radikale Prostatavesikulektomie, anschließend erhielt der Kläger bis März 2013 eine Strahlenbehandlung. Mit Bescheid vom 11.01.2013 stellte der Beklagte einen GdB von 90 seit 24.10.2012 fest. Als Funktionsbeeinträchtigungen berücksichtigte er die Erkrankung der Prostata (in Heilungsbewährung) mit einen Einzel-GdB von 80, degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, mit Verformung verheilter Wirbelbruch, chronisches Schmerzsyndrom mit einem Einzel-GdB 30 sowie eine Funktionsbehinderung des linken Ellenbogengelenks und eine Funktionsbehinderung beider Kniegelenke mit einem Einzel-GdB von jeweils 10.

Im Juli 2017 überprüfte der Beklagte erstmals von Amts wegen den GdB und teilte nach Beiziehung von Befundberichten mit Bescheid vom 28.08.2017 mit, dass derzeit eine Herabsetzung nicht beabsichtigt sei.

Im Februar 2018 leitete der Beklagte eine Nachprüfung von Amts wegen ein. Der Kläger gab dabei als Gesundheitsstörungen Folgeprobleme nach der Krebs-Operation, eine Darmerkrankung, Wirbelsäulenbeschwerden, Beschwerden im Bereich der Kniegelenke und Ellenbogen, ein chronisches Schmerzsyndrom und Folgeschäden der Strahlenbehandlung an. Er beantragte die Beibehaltung des zuerkannten GdB. Er legte einen Bericht über eine MRT-Untersuchung des linkes Knies vom Januar 2018 und den Brief des Urologischen Zentrums E/B vom 21.03.2018 vor. Letzterer enthielt als Diagnosen unter anderem Stressinkontinenz, Chronic Fatigue Syndrom (CFS), inkompletter Linksschenkelblock, Hypercholesterinämie, Gonarthrose, Zustand nach Strahlenproktitis. Es fand sich kein Hinweis auf eine Progression der Tumorerkrankung, urologischerseits sei eine Verschlechterung der Harninkontinenz festzustellen.

H teilte in einer versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 03.05.2018 mit, dass zwischenzeitlich die Heilungsbewährung eingetreten sei. Für die degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule, den mit Verformung verheilten Wirbelbruch und ein chronisches Schmerzsyndrom setzte er einen Einzel-GdB von 30, für den unwillkürlichen Harnabgang, die erektile Dysfunktion und Restfolgen der Tumorbehandlung einen GdB von 20, für die Funktionsbehinderung beider Kniegelenke, Arthrose und Funktionsbehinderung des linken Ellenbogengelenkes jeweils einen Einzel-GdB von 10 an. Den Gesamt-GdB schätzte er mit 30 ein.

Mit Anhörungsschreiben vom 15.05.2018 hörte der Beklagte den Kläger zur beabsichtigten Herabsetzung und Neufeststellung des GdB von 90 auf 30 infolge des Eintritts der Heilungsbewährung an. Der Kläger hat hierauf nicht geantwortet.

Mit Bescheid vom 02.07.2018 änderte der Beklagte den Bescheid vom 11.01.2013 nach § 48 SGB X ab. Der GdB betrage ab 05.07.2018 nur noch 30. Seiner Entscheidung legte er die von H genannten Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde.

Der Kläger legte hiergegen am 13.07.2018 Widerspruch ein und trug, vertreten durch seinen Prozessbevollmächtigten vor, dass ein GdB von 30 deutlich zu niedrig bemessen sei. Der Einzel-GdB für die Stressharninkontinenz sei zu niedrig angesetzt, auch bestehe die erektile Dysfunktion weiterhin. Dem radiologischen Bericht vom Januar 2018 sei zu entnehmen, dass eine Verknorpelung der Knie mit osteochondraler Degeneration bei geringem Reizerguss bestehe, hierfür müsse wenigstens ein Teil-GdB von 20 angenommen werden.

Mit Widerspruchsbescheid vom 30.10.2018 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Eine höhergradige Inkontinenz liege nicht vor. Eine Progression der Tumorerkrankung sei ausgeschlossen worden, Bewegungseinschränkungen am Kniegelenk seien nicht beschrieben, der Erguss sei leicht und begründe keinen höheren GdB. Die Verdachtsdiagnose einer rheumatoiden Arthritis begründe keinen GdB. Ein GdB von 90 bei Rezidivfreiheit entbehre jeder Grundlage.

Die Klägerbevollmächtigten haben am 23.11.2018 Klage beim Sozialgericht Ulm (SG) erhoben und zur Begründung im Wesentlichen das Vorbringen im Widerspruchsverfahren wiederholt. Es liege nach wie vor ein GdB von 90 vor.

Das SG hat Beweis erhoben durch Einholung sachverständiger Zeugenauskünfte bei den den Kläger behandelnden Ärzten.

Der B1 hat in seiner Auskunft vom 13.06.2019 mitgeteilt, dass der Kläger unter anderem an einer erheblichen Einschränkung der Wirbelsäulenbeweglichkeit in allen Abschnitten sowie als Folge der Krebserkrankung an einer Harninkontinenz sowie einer erektilen Dysfunktion leide. Auch bestünden rheumatische Beschwerden. Eine entzündlich – rheumatische Erkrankung könne zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht festgestellt werden. Eine wesentliche Änderung liege nicht vor. Die Gelenk- und Wirbelsäulenbeschwerden hätten eher zugenommen.

Der P hat in seiner Aussage vom 24.06.2019 angegeben, dass eine Stressharninkontinenz Grad I, unter stärkerer Belastung Grad II ohne Urinverlust in Ruhe oder bei Nacht sowie eine erektile Dysfunktion mit bedarfsweisem Einsatz eines PDE-5 – Hemmers bestünden. Die regelmäßige Tumornachsorge in 6-monatlichen Abständen habe keine Hinweise auf eine Progression der Tumorerkrankung ergeben.

Der Beklagte hat mit Schreiben vom 29.10.2019 ein Vergleichsangebot unterbreitet, in dem er sich bereit erklärte, ab 05.07.2018 einen GdB von 40 festzustellen. Zugleich hat der Beklagte eine versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. Reiniger vom 24.10.2019 vorgelegt, wonach eine Tenorergänzung durch Verlust der Prostata vorgenommen werden könne und der GdB insgesamt mit 40 zu bewerten sei.

Der Kläger hat das Vergleichsangebot mit Schreiben vom 12.11.2019 nicht angenommen.

Das SG hat mit Urteil vom 13.10.2020 den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 02.07.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.10.2018 verurteilt, einen GdB von 40 festzustellen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Die Heilungsbewährung sei eingetreten. Der GdB sei daher neu festzustellen. Die Funktionsbeeinträchtigungen im Bereich der Wirbelsäule seien mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten. Eine wesentliche Änderung liege in diesem Funktionsbereich nicht vor. Für die Harninkontinenz sei ein Einzel-GdB von 20 zugrunde zu legen. Die erektile Dysfunktion sei nicht mit einem eigenen GdB zu berücksichtigen. Zwar habe der Kläger in der mündlichen Verhandlung angegeben, dass die Verordnung eines PDE-5-Hemmers nicht sonderlich erfolgreich sei. Dass die Behandlung tatsächlich erfolglos ist, sei damit jedoch nicht nachgewiesen. Für die Funktionsbeeinträchtigung der Kniegelenke könne ein Einzel-GdB von 20 angenommen werden. Die Funktionsbeeinträchtigung des linken Ellenbogens sei wie bisher mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten, da eine wesentliche Verschlechterung hier nicht festgestellt werden könne. Insgesamt sei ein GdB von 40 angemessen und ausreichend.

Die Prozessbevollmächtigte des Klägers hat gegen das ihr am 09.11.2020 zugestellte Urteil am 02.12.2020 Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt. Ein GdB von 40 sei nicht ausreichend. Für die Harninkontinenz halte der Kläger einen höheren Teil-GdB für gerechtfertigt. Er leide unter erheblichen Folgen der Prostataerkrankung mit Entfernung der Prostata. Zudem bestehe eine Belastungsinkontinenz zweiten Grades für die mindestens ein Teil-GdB in Höhe von 30 für gerechtfertigt sei. Hinzu komme eine erektile Dysfunktion, die den Kläger auch psychisch beeinträchtige und durchaus behandelt werde. Auch sei eine erfolgreiche Behandlung entgegen der Auffassung des SG versucht worden. Alleine für die Folgen der Prostataerkrankung halte er die Schwerbehinderteneigenschaft für gerechtfertigt. Auch bestehe ein Fatigue-Syndrom als Folge der Bestrahlung, welches sich erhöhend auswirke. Hinzu kämen die orthopädischen Beeinträchtigungen, so dass die Schwerbehinderteneigenschaft in jedem Fall gerechtfertigt sei.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 13.10.2020 sowie den Bescheid vom 02.07.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.10.2018 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Beklagte hat zur Berufungserwiderung auf die Ausführungen im angefochtenen Urteil verwiesen.

Der Senat hat P ergänzend befragt. P hat mit Schreiben vom 18.05.2021 ausgeführt, dass die erektile Dysfunktion mit wechselndem Erfolg mit Einnahme eines PDE - 5 - Hemmers behandelt werde. Dadurch sei die Kohabitation möglich. Die Situation sei in den letzten 2 Jahren weitgehend unverändert.

Die Berichterstatterin hat das Verfahren mit den Beteiligten am 19.05.2021 nichtöffentlich erörtert.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 SGG erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge und die Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Die Berufung des Klägers, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung nach den §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG entscheidet, ist nach § 143 SGG statthaft und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) erhoben. Sie ist aber nicht begründet.

Streitgegenständlich ist vorliegend der Bescheid vom 02.07.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.10.2018, mit dem der Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheides vom 11.01.2013 den Gesamt-GdB seit dem 05.07.2018 mit nur noch 30 festgestellt hat. Die hiergegen zulässigerweise erhobene Anfechtungsklage ist zulässig, aber nur im vom SG festgestellten Umfang begründet. Der Beklagte ist im Ergebnis zutreffend von einer wesentlichen tatsächlichen Änderung ausgegangen. Das SG hat im angefochtenen Urteil vom 13.10.2020 den GdB zutreffend mit 40 festgestellt und im Übrigen die Klage abgewiesen.

Ermächtigungsgrundlage für die Herabsetzung des Gesamt-GdB ist § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X in Verbindung mit § 69 Abs. 1 und 3 SGB IX. Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X in Verbindung mit § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist, soweit in den rechtlichen oder tatsächlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse liegt vor, wenn sich durch das Hinzutreten neuer Gesundheitsstörungen oder eine Verschlimmerung der anerkannten Gesundheitsstörungen der Gesundheitszustand des behinderten Menschen verschlechtert oder er sich durch den Wegfall oder einer Besserung bereits anerkannter Gesundheitsstörungen gebessert hat. Von einer wesentlichen Änderung im Gesundheitszustand ist auszugehen, wenn aus dieser die Erhöhung oder Herabsetzung des Gesamt-GdB um wenigstens 10 folgt. Ob dies der Fall ist, ist durch einen Vergleich der für die letzte bindend gewordene Feststellung maßgebenden Befunde mit den jetzt vorliegenden Befunden zu ermitteln.

Für die Ermittlung des GdB gilt folgendes: Rechtsgrundlage ist § 2 Abs. 1 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung in Verbindung mit § 69 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung.

Nach § 2 Abs. 1 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.

Nach § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX in den bis zum 14.01.2015 und 29.12.2016 geltenden Fassungen stellen die für die Durchführung des BVG zuständigen Behörden auf Antrag eines behinderten Menschen in einem besonderen Verfahren das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Nach § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung gilt ergänzend, dass der GdB zum Zeitpunkt der Antragstellung festgestellt wird. Als GdB werden dabei nach § 69 Abs. 1 Satz 4 und 5 SGB IX in den bis zum 14.01.2015 und 29.12.2016 geltenden Fassungen, nach § 69 Abs. 1 Satz 5 und 6 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Zehnergraden abgestuft festgestellt, wobei eine Feststellung hierbei nur dann zu treffen ist, wenn ein GdB von wenigstens 20 vorliegt.

Nach § 70 Abs. 2 SGB IX in der bis zum 29.12.2016 geltenden Fassung wird das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung des GdB und die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Nach § 70 Abs. 2 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung gilt diese Ermächtigung für die allgemeine – also nicht nur für die medizinische – Bewertung des GdB und die Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen sowie auch für die Kriterien für die Bewertung der Hilflosigkeit. Zwar ist von dieser Ermächtigung noch kein Gebrauch gemacht worden. Indes bestimmt § 159 Abs. 7 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung, dass – soweit eine solche Verordnung nicht erlassen ist – die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der auf Grund des § 30 Abs. 17 BVG in der bis zum 30.06.2011 geltenden Fassung beziehungsweise § 30 Abs. 16 BVG in der ab dem 01.07.2011 geltenden Fassung erlassenen Rechtsverordnungen entsprechend gelten. Mithin ist für die konkrete Bewertung von Funktionsbeeinträchtigungen die ab dem 01.01.2009 an die Stelle der „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz“ (AHP) getretene Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ (VG) zu § 2 Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (VersMedV) vom 10.12.2008 (BGBl. I S. 2412), die durch die Verordnungen vom 01.03.2010 (BGBl. I S. 249), 14.07.2010 (BGBl. I S. 928), 17.12.2010 (BGBl. I S. 2124), 28.10.2011 (BGBl. I S. 2153) und 11.10.2012 (BGBl. I S. 2122) sowie das Gesetz vom 23.12.2016 (BGBl. I S. 3234) geändert worden ist, heranzuziehen. In den VG sind unter anderem die Grundsätze für die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen (GdS) im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG festgelegt worden. Diese sind nach den VG, Teil A, Nr. 2 auch für die Feststellung des GdB maßgebend. Die VG stellen ihrem Inhalt nach antizipierte Sachverständigengutachten dar. Dabei beruht das für die Auswirkungen von Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe an der Gesellschaft relevante Maß nicht allein auf der Anwendung medizinischen Wissens. Vielmehr ist die Bewertung des GdB auch unter Beachtung der rechtlichen Vorgaben sowie unter Heranziehung des Sachverstandes anderer Wissenszweige zu entwickeln (BSG, Urteil vom 17.04.2013 – B 9 SB 3/12 R – juris).

Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der GdB nach § 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX in den bis zum 14.01.2015, 29.12.2016 und 31.12.2017 geltenden Fassungen nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Zur Feststellung des GdB werden in einem ersten Schritt die einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinne von regelwidrigen (von der Norm abweichenden) Zuständen nach § 2 Abs. 1 SGB IX und die sich daraus ableitenden, für eine Teilhabebeeinträchtigung bedeutsamen Umstände festgestellt. In einem zweiten Schritt sind diese dann den in den VG genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. In einem dritten Schritt ist dann in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen der Gesamt-GdB zu bilden. Dabei können die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen (sich decken), sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinanderstehen (BSG, Urteil vom 17.04.2013 – B 9 SB 3/12 R – juris). Nach den VG, Teil A, Nr. 3 Buchst. c ist bei der Bildung des Gesamt-GdB in der Regel von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB auszugehen und sodann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob der Ausgangswert also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen um 10, 20 oder mehr Punkte zu erhöhen ist, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Insoweit führen nach den VG, Teil A, Nr. 3 Buchst. d, von Ausnahmefällen abgesehen, zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, die bei der Gesamtbeurteilung berücksichtigt werden könnte, auch dann nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es danach vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen. Außerdem sind nach den VG, Teil A, Nr. 3 Buchst. b bei der Gesamtwürdigung die Auswirkungen mit denjenigen zu vergleichen, für die in der GdB-Tabelle der VG feste Grade angegeben sind.

Die Bemessung des GdB ist grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe. Dabei hat insbesondere die Feststellung der nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens zu erfolgen (BSG, Urteil vom 17.04.201 – B 9 SB 3/12 R – juris).

Nach dieser Maßgabe hat der Beklagte den Bescheid vom 11.01.2013 zu Recht gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X teilweise aufgehoben. Denn im entscheidungserheblichen Zeitpunkt des Widerspruchsbescheids als letzter maßgeblicher Verwaltungsentscheidung (BSG, Urteile vom 13.08.1997 – 9 RVs 10/96 –; vom 10.09.1997 – 9 RVs 15/96 –; vom 11.08.2015 – B 9 SB 2/15 R –, alle in juris) lag eine wesentliche Änderung als materiell-rechtliche Voraussetzung des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X vor, aufgrund derer dem Kläger nur noch ein Gesamt-GdB von 40 zustand. Soweit der Beklagte den GdB im Bescheid vom 02.07.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.10.2018 zunächst auf 30 herabgesetzt hat, hat das SG im Urteil vom 13.10.2020 entsprechend dem Vergleichsangebot des Beklagten vom 29.10.2019 den GdB mit 40 bewertet.

Der ursprünglich zuerkannte GdB von 90 beruhte auf dem im Januar 2012 aufgetretenen Prostatakarzinom (im Stadium pT3a, pNO, pLO, pV0) und der hierfür für 5 Jahre nach Entfernung zuzuerkennenden Heilungsbewährung gemäß VG, Teil B, Nr. 13.6. Insoweit ist – auch zwischen den Beteiligten unstreitig – eine wesentliche Änderung im Gesundheitszustand des Klägers eingetreten, als die Heilungsbewährung von 5 Jahren für diese Erkrankungen im Juli rezidivfrei abgelaufen ist. Dies hat der behandelnde Urologe P in seinem Bericht vom 21.03.2018 im Verwaltungsverfahren sowie in seiner sachverständigen Zeugenaussage gegenüber dem SG vom 24.06.2019 bestätigt. Auch den mit Schreiben vom 18.05.2021 an den Senat eingereichten Befundberichten ist kein Anhaltspunkt für ein Rezidiv zu entnehmen.

Nach Ablauf der Heilungsbewährung bestimmt sich der GdB nur noch nach den tatsächlich vorhandenen Funktionseinbußen. Die noch vorliegenden Gesundheitsstörungen auf urologischen Gebiet rechtfertigen aber keinen Einzel-GdB von mehr als 20.

Beim Kläger liegt noch eine Entleerungsstörung der Harnblase mit Harninkontinenz vor. Dies entnimmt der Senat den insoweit übereinstimmenden Bekundungen des behandelnden Urologen P. Nach den VG, Teil B, Nr. 12.2.4 führt eine relative Harninkontinenz mit leichtem Harnabgang bei Belastung (z.B. Stressinkontinenz Grad I) zu einem Einzel-GdB von 0-10 und bei Harnabgang tags und nachts (z.B. Stressinkontinenz Grad II-III) zu einem solchen von 20-40. Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben ist jedenfalls ein höherer Einzel-GdB als 20 hier nicht gerechtfertigt. P hat in seiner sachverständigen Zeugenaussage gegenüber dem SG vom 24.06.2019 eine Stressharninkontinenz Grad I, unter stärkerer Belastung Grad II ohne Urinverlust in Ruhe oder in der Nacht mitgeteilt. Der Kläger muss je nach Situation Vorlagen verwenden und ist nach seinen Angaben in seinen Freizeitaktivitäten und am Arbeitsplatz eingeschränkt. Nach den von P mitgeteilten Befunden ist ein GdB von 20 für das derzeitige Ausmaß der Harninkontinenz angemessen. Angesichts des fehlenden Urinverlustes in der Nacht oder in Ruhe ist es nicht gerechtfertigt, den für eine mittelschwere Harninkontinenz eingeräumten Bewertungsrahmen von 20-40 nach oben hin vollständig auszuschöpfen. Der Verlust der Prostata begrünet für sich genommen keinen messbaren Einzel-GdB. P hat in seinen Befundberichten vom 23.06.2019 über einen unauffälligen Tastbefund berichtet. Die sonographische Kontrolle der Nieren, der Blase und der Prostataloge sowie die transrektale Sonographie der Blase und der Prostataloge ist gleichfalls ohne Befund geblieben. Der GdB ist danach für die Harninkontinenz bei Prostataverlust mit 20 festzusetzen.

Die erektile Dysfunktion rechtfertigt derzeit noch keinen Einzel-GdB. Denn die Bewertung mit einem Einzel-GdB (von dann bereits 20) setzt gemäß den VG, Teil B, Nr. 13.2 eine Impotentia coeundi mit nachgewiesener erfolgloser Behandlung voraus (vgl. hierzu auch Senatsurteil vom 20.03.2020 - L 8 SB 2115/29 -, juris). Eine solche erfolglose Behandlung ist indes nicht nachgewiesen. P hat in seinem Bericht vom 21.03.2018 über eine fortbestehende erektile Dysfunktion mit derzeit deutlich reduzierter Kohabitationsfrequenz berichtet. In der sachverständigen Zeugenaussage gegenüber dem SG vom 24.06.2019 hat P hierzu mitgeteilt, dass bedarfsweise ein PDE - 5 - Hemmer eingesetzt werde. Auf Nachfrage des Senats hat P am 18.05.2021 mitgeteilt, dass die erektile Dysfunktion mit wechselndem Erfolg mit Einnahme eines PDE - 5 - Hemmers behandelt werde. Dadurch sei die Kohabitation möglich. Die Aussage des Klägers im Erörterungstermin vom 18.05.2021, wonach die erektile Dysfunktion bislang erfolglos medikamentös behandelt werde, kann durch die Aussage von P vom 18.05.2021 nicht bestätigt werden. Der Senat kann sich danach nicht von einer erfolglosen Behandlung im Sinne der VG, Teil B, Nr. 13.2 überzeugen. Somit kann nach der derzeitigen Befundlage kein eigenständiger GdB für die erektile Dysfunktion festgestellt werden.

Der Kläger leidet des Weiteren im Funktionssystem Rumpf an einer degenerativen Veränderung der Wirbelsäule mit einem mit Verformung verheiltem Wirbelbruch und einem chronischen Schmerzsyndrom, welches der Senat in Übereinstimmung mit den VG Teil B 18.9 mit einem GdB von 30 bewertet. Neuere Befundberichte oder Hinweise auf eine Verschlechterung der Funktionsstörungen in diesem Funktionssystem liegen nicht vor. Die Bewertung mit einem GdB von 30 ist somit nicht zu beanstanden.

Die Funktionsbehinderung beider Kniegelenke hat das SG zutreffend und in Übereinstimmung mit den VG Teil B 18.14 mit einem GdB von 20 für die von B2 im Befundbericht vom 16.07.2018 mitgeteilten Befunde und Beweglichkeitseinschränkung bewertet. Befundberichte, welche eine höhergradige Funktionseinschränkung und Reizerscheinungen belegen, liegen nicht vor.

Auch die Funktionsbehinderung des linken Ellenbogens ist nach den VG Teil B 18.13 mit einem GdB von 10 angemessen bewertet. Hinweise auf eine Verschlechterung liegen nicht vor.

Das von P sowie von B1 mitgeteilte CFS (chronic fatigue syndrom) hat derzeit noch nicht zu einer eigenständigen Behandlung geführt. Ein CFS ist nach den VG Teil B 3.7 je nach Schweregrad wie „leichtere psychovegetative oder psychische Störungen“ mit einem GdB von 0 bis 20 oder „stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z.B. ausgeprägtere depressive hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen)“ mit einem GdB von 30 bis 40 zu bewerten (vgl. auch Bayerisches LSG, Urteil vom 11.06.2014 – L 3 SB 182/10 –, juris). Ohne Befunde, die eine über das normale Maß, welches bei der Einstufung der jeweiligen Gesundheitsstörung somatischer Art bereits berücksichtigt wird, hinausgehende psychoreaktive Symptomatik mit eigenständigem Krankheitswert beschreiben, kann eine Bewertung mit einem eigenständige GdB nicht erfolgen. Dem Senat liegen keine entsprechenden Befundberichte über die Behandlung des CFS vor. Insofern kann auch kein eigenständiger GdB hierfür festgestellt werden (vgl. hierzu auch Senatsurteil vom 20.03.2020, a.a.O.).

Auch die von B1 in seiner sachverständigen Zeugenaussage vom 13.06.2019 mitgeteilten rheumatischen Beschwerden sind derzeit noch nicht mit einem GdB zu bewerten. Eine entzündlich – rheumatische Erkrankung konnte nach Aussage von B1 nicht festgestellt werden. Auch nach dem Befundbericht von P vom 23.06.2019 wurde eine Erkrankung aus dem rheumatologischen Bereich ausgeschlossen. Zudem ist bereits bei der Wirbelsäulenerkrankung auch ein chronisches Schmerzsyndrom berücksichtigt. Eine darüberhinausgehende Berücksichtigung der rheumatischen Beschwerden kommt daher nach der aktenkundigen Befundlage nicht in Betracht

Unter Berücksichtigung der vorstehenden Darlegungen zur Bildung des Gesamt-GdB und ausgehend von den Funktionsbeeinträchtigungen im Funktionssystem mit Rumpf mit einem Einzel – GdB von 30, den Funktionsbeeinträchtigungen auf urologischem Gebiet mit einem Einzel-GdB von 20 sowie den Funktionsbeeinträchtigungen der Kniegelenke mit einem Einzel – GdB von 20 erhöht sich der Gesamt-GdB auf 40. Die daneben bestehende Erkrankung der Ellenbogengelenke ist dagegen lediglich leichtgradig und mit einem GdB von 10 bewertet. Sie wirkt sich daher nicht erhöhend auf den Gesamt – GdB aus. Das SG hat somit zutreffend den GdB mit insgesamt 40 ab dem 05.07.2018 festgestellt und die vom Beklagte vorgenommene Herabsetzung des GdB von 90 auf 40 insoweit bestätigt.

Die Berufung des Klägers war zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.

Rechtskraft
Aus
Saved