L 8 SB 4165/20

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
8.
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 13 SB 3260/18
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 SB 4165/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 25.11.2020 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.



Tatbestand

Die Beteiligten streiten darum, ob der Kläger die Voraussetzungen des Merkzeichens G (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) erfüllt.

Bei dem 1990 geborenen Kläger waren zuletzt mit Abhilfebescheid vom 21.11.2012 ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 seit dem 12.04.2011 sowie die Schwerbehinderteneigenschaft festgestellt worden. Dies beruhte auf einer Bewertung einer Autismus-Erkrankung mit einem GdB von 50 in einer versorgungsärztlichen Stellungnahme von L vom 20.10.2012.

Ein Antrag auf höhere Neufeststellung des GdB und Feststellung des Merkzeichens B (Berechtigung zur Mitnahme einer Begleitperson) vom 25.04.2013 blieb ohne Erfolg (Bescheid vom 31.07.2013). Der Kläger legte hiergegen Widerspruch ein und verwies u.a. darauf, dass mit der Erkrankung eine massive Orientierungseinschränkung einhergehe. Der von ihm zur Unterstützung benannte D wies in einem Attest vom 25.02.2014 darauf hin, dass der Kläger selbständig zu seiner Arbeitsstelle als Hilfskoch komme und er keine körperlichen Einschränkungen habe. Dennoch bestehe bei ihm der Wunsch nach dem (gemeint: Merkzeichen) „G“. Mit Widerspruchsbescheid vom 02.04.2014 wies der Beklagte den Widerspruch zurück.

Der Kläger beantragte am 27.11.2014 unter Verweis auf seinen Asperger-Autismus und eine Weitsichtigkeit und eine damit verbundene hochgradige Einschränkung der Orientierung erneut die Erhöhung des GdB sowie die Feststellung der Merkzeichen G, B, H und RF. Mit Bescheid vom 14.01.2015 lehnte der Beklagte den Antrag ab. Der Kläger legte hiergegen Widerspruch ein. Der ihn für den Sozialpsychiatrischen Wohnverbund betreuende M wies darauf hin, dass sich der Kläger aufgrund seiner autistischen Behinderung u.a. bei der Nutzung, der Orientierung und Bewegung auf der Straße und im öffentlichen Nahverkehr schwer behindert und beeinträchtigt fühle. D wiederholte in einem Attest vom 27.03.2015 insoweit seine Angaben zu dem Merkzeichen G. Mit Widerspruchsbescheid vom 21.05.2015 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Dies beruhte auf einer versorgungsärztlichen Stellungnahme von S vom 25.04.2015, wonach der GdB weiterhin 50 betrage und u.a. die Voraussetzungen für das Merkzeichen G nicht gegeben seien. Die hiergegen zum Sozialgericht Stuttgart (SG) erhobene Klage vom 17.06.2015 (Az. S 7 SB 3346/15) nahm der Kläger zurück. Der Kläger beantragte stattdessen am 01.09.2015 wiederum die Neufeststellung des GdB und die Zuerkennung des Merkzeichens G. Mit Bescheid vom 24.09.2015 lehnte der Beklagte diesen Antrag ab.

Der Kläger beantragte am 09.12.2016 erneut eine höhere Feststellung des GdB sowie die Feststellung der Merkzeichen G und B. Er wies hierzu darauf hin, dass er durch den Autismus bei der Orientierung überfordert sei. Er orientiere sich anders als Normale nicht nach einem Stadtplan, sondern nach einzelnen Gebäuden. Er könne auch so gut wie nicht mit Stress umgehen. Durch einen zusätzlich aufgetretenen Fersensporn schmerze jeder Schritt. Er legte u.a. einen Befundbericht des S1 vom 19.10.2016 vor, wonach ein Kalkaneussporn beidseits bestand und eine Einlagenversorgung empfohlen wurde. Der Kläger sei im Urlaub in S2 gewesen und habe sich etwas in den Fuß eingetreten. Nach einem Befundbericht von S1 war das Gehvermögen nicht eingeschränkt. Der Beklagte holte daneben noch einen Befundbericht der A vom MVZ Krankenhaus C vom 09.02.2017 ein. Nach einer versorgungsärztlichen Stellungnahme von F vom 27.03.2017 lag der GdB für Autismus und seelische Störung unverändert bei 50. Gebrauchseinschränkungen des Fußes und eine Schilddrüsenerkrankung begründeten jeweils keinen Einzel-GdB von mindestens 10. Die Voraussetzungen für Merkzeichen seien nicht erfüllt. Mit Bescheid vom 10.04.2017 lehnte der Beklagte daher den Antrag ab.

Der Kläger stellte sodann am 07.09.2017 den hier gegenständlichen Antrag auf Neufeststellung des GdB und auf Feststellung des Merkzeichens G. Er verwies hierzu erneut auf den Asperger-Autismus, eine phobische Störung, eine Schilddrüsenerkrankung, einen Kalkaneussporn sowie eine 2017 diagnostizierte ADHS [Aufmerksamkeitsdefizits-/Hyperaktivitätsstörung]. Der Beklagte holte zunächst Befundberichte bei dem B und dem P ein. Dieser berichtete unter dem 17.10.2017 von einem Aspergersyndrom. Der Kläger wolle das Merkzeichen G, weil er eine Gehbehinderung habe in dem Sinne, dass er nicht in der Lage sei, wenn ihm jemand entgegenkomme, „auszuweisen“. Er habe eine Verhaltenstherapie empfohlen. Eine „MdE von 50%“ und das Merkzeichen G seien gerechtfertigt.

Nach versorgungsärztliche Stellungnahme von F vom 17.11.2017 verblieb es bei der bisherigen Bewertung.

Mit Bescheid vom 10.01.2018 lehnte der Beklagte den Antrag gestützt auf die versorgungsärztliche Stellungnahme ab. Die Voraussetzungen für eine höhere Bewertung des GdB lägen nicht vor. Das Merkzeichen G könne nicht festgestellt werden, da die erforderlichen Voraussetzungen nicht vorlägen.

Der Kläger legte hiergegen, vertreten durch seine Bevollmächtigte, am 19.01.2018 Widerspruch ein. Seine Bevollmächtigte rügte eine fehlende Begründung des Bescheides bezogen auf das Merkzeichen G. Dessen Voraussetzungen lägen hier vor. Obwohl der Kläger in der Innenstadt beschäftigt sei, bewege er sich dort ungern. Der Kläger könne sich in ihm unbekannten Städten an auffälligen Gebäuden orientieren, aber nicht anhand von Karten oder Beschreibungen oder Straßennamen. Alle Gebäude sähen für ihn gleich aus und wirkten wie ein Labyrinth, aus dem man den Ausgang finden müsse. Es dauere oft sehr lange, bis er sich zurechtfinde. Er könne sich nur mit elektronischen Mitteln orientieren. Im ÖPNV tue er sich schwer, Ruhe bei für ihn stressigen Situationen zu bewahren. Es werde nicht verkannt, dass das Beschwerdebild des Klägers nicht die üblichen Voraussetzungen des Merkzeichens G abbilde. Er sei zwar in der Lage, sich gehend fortzubewegen, jedoch sei jegliche Orientierung grundsätzlich von dem Bereithalten elektronischer Hilfsmittel abhängig. Ohne diese sei er in Kommunikation mit anderen außerstande, sich hinreichend zu orientieren und damit auch fortzubewegen. Die Orientierung sei Grundvoraussetzung für jede zielgerichtete Fortbewegung. P habe das Merkzeichen befürwortet. Der Beklagte habe sich damit jedoch nicht auseinandergesetzt. Der Kläger hat zuletzt noch mitgeteilt, dass er keine Verhaltenstherapie durchführe. Er hat hierzu auf Schwierigkeiten bei der Suche nach einem Therapeuten, mit dem er zudem als Person klarkommen müsse, hingewiesen.

Nach einer weiteren versorgungsärztlichen Stellungnahme von S vom 24.05.2018 war der Kläger in dem fachärztlichen Befundbericht als bewusstseinsklar und allseits orientiert beschrieben worden. Er halte alle Termine zuverlässig und selbständig ein. Die Voraussetzungen des Merkzeichens G seien sicher nicht erfüllt. Die persönliche Meinung des Klägers sei hier nicht relevant. Es verblieb auch bei der Bewertung der Funktionsbeeinträchtigungen Autismus, seelische Störung mit einem GdB von 50.

Mit Widerspruchsbescheid vom 13.06.2018 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Eine Verschlimmerung des Gesundheitszustandes, die einen höheren GdB rechtfertigen könne, sei nicht festzustellen. In seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr sei erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurücklegen könne, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt würden. Bei geistig behinderten Menschen seien entsprechende Störungen der Orientierungsfähigkeit vorauszusetzen, wenn die behinderten Menschen sich im Straßenverkehr auf Wegen, die sich nicht täglich benutzten, nur schwer zurechtfinden könnten. Dies sei bei geistigen Behinderungen mit einem GdB von 100 immer und mit einem GdB von 80 oder 90 in den meisten Fällen zu bejahen. Bei einem GdB von unter 80 komme eine solche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit nur in besonders gelagerten Einzelfällen in Betracht. Eine schwergradige geistige Behinderung liege bei ihm nicht vor. Er sei als bewusstseinsklar und allseits orientiert beschrieben worden.

Der Kläger hat, vertreten durch seine Bevollmächtigte, am 24.06.2018 Klage zum Sozialgericht Stuttgart (SG) erhoben. Seine Bevollmächtigte hat erneut eine fehlende Begründung des Bescheides und des Widerspruchsbescheides gerügt, da eine Würdigung ihrer Argumentation oder eine Auseinandersetzung mit der Auffassung von P nicht zu erkennen sei. Auch habe die gebotene Untersuchung nicht stattgefunden. Er habe einen Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens G. Hierzu werde eine Begutachtung angeregt. Die Bevollmächtigte hat ferner eine handschriftliche Stellungnahme des Klägers vom 04.10.2019 vorgelegt, in der dieser seine Wahrnehmungen im Straßenverkehr und im städtischen Umfeld beschrieben hat. Er orientiere sich in fremden Städten oder auch in Stuttgart außerhalb seiner Alltagswege mit dem Handy (in 3D-Ansicht zur Darstellung auch der Höhen und Tiefen) oder durch Nachfrage bei Polizeibeamten wegen derer genauerer Ausdrucksweise. Nachfragen bei normaler Bevölkerung erzeugten bei ihm durch grobe oder ungenaue Wegbeschreibungen oder durch den schwäbischen oder bayerischen Dialekt Stress. Er lege auch längere Strecken zurück, um damit Menschenmassen aus dem Weg zu gehen oder um nicht in vollen Bussen oder Bahnen fahren zu müssen. Menschenmassen verursachten bei ihm innere Unruhe und Druck, was sich auch auf seine Orientierung auswirke. Die Gesellschaft habe nicht das Recht, ihn bewusst oder unbewusst auszugrenzen. Er fühle sich auch diskriminiert, da er anders als geistig Behinderte für das Merkzeichen G darlegen müsse, wie schlecht es ihm gehe. Er hat ferner seine Schwierigkeiten im sozialen Umgang außerhalb eines kleinen toleranten Personenkreises beschrieben. Es falle ihm sehr schwer, auf Fremde zuzugehen und er stoße selten auf Verständnis für seinen Autismus.

Das SG hat bei dem B1 ein Gutachten eingeholt, das dieser nach Untersuchung des Klägers am 05.11.2018 mit Datum vom 14.11.2018 schriftlich erstattet hat. Der Kläger hat nach der Anamnese in dem Gutachten dort u.a. mitgeteilt, dass er mit der Stadtbahn in Stuttgart zur Arbeit fahre. Er benutze ungern öffentliche Verkehrsmittel, weil diese so voll seien. Mit dem Merkzeichen G könne er nachweisen, dass es ihm „wirklich mies“ gehe. Der Sachverständige hat eine Persönlichkeitsstörung sowie geringgradige Hinweise auf eine agoraphobische Problematik festgestellt. Eine Störung aus dem Autismus-Spektrum könne er nicht festmachen, hingegen deutliche Versorgungswünsche. Für die Funktionsstörungen sei insgesamt ein GdB von 20 angemessen. Die Diagnose und die Bewertung der Funktionsbehinderung von P sei auch aus dessen eigenen Befunden nicht nachvollziehbar. Die Gehfähigkeit sei nicht beeinträchtigt. Auch bestehe keine entsprechend schwere geistige oder psychische Behinderung, die zu einer Störung der Orientierungsfähigkeit im Sinne des Merkzeichens G führe. Das Merkzeichen sei auch nicht andeutungsweise zu begründen.

Der Kläger hat dem Gericht mitgeteilt, dass er mit dem Gutachter nicht zufrieden gewesen sei, da dieser sich nicht die Mühe gemacht habe, sich in ihn hineinzuversetzen. Auch habe die Begutachtung zu lange gedauert.

Das SG hat sodann auf Antrag und Kostenrisiko des Klägers noch ein Gutachten bei dem B2 in Tübingen eingeholt, das dieser nach Untersuchung des Klägers am 13.01.2020 unter Mitwirkung der T mit Datum vom 30.01.2020 schriftlich erstattet hat. In dem Gutachten haben diese eine tiefgreifende Entwicklungsstörung diagnostiziert. Eine Differenzierung zwischen einer primär vorliegenden frühkindlichen autistischen Störung und einer durch frühkindliche Vernachlässigung erwobenen Entwicklungsproblematik sei rückwirkend nicht möglich. Die Diagnose eines Asperger-Syndroms sei formal nicht korrekt. Die von B1 gestellte Diagnose einer Persönlichkeitsstörung erfordere hingegen eine hier nicht gegebene Entstehung erst im späten Kindesalter bzw. der Adoleszenz. Bei bestehenden mittelschweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten betrage der GdB 50. Zum Merkzeichen G werde aber die kritische Einschätzung des Vorgutachters geteilt. Die Gehfähigkeit sei nicht eingeschränkt. Es zeigten sich lediglich Schwierigkeiten auf neuen Wegen vor allem aufgrund subjektiver Einschränkung der Orientierung und der Kommunikationsfähigkeit.

Der Kläger hat die Klage in Bezug auf das Merkzeichen G fortgeführt. Seine Bevollmächtigte hat hierzu ein weiteres (allerdings in einer anderen Handschrift als zuvor verfasstes) „Statement Autismus im Alltag“ vorgelegt, in dem erneut seine Schwierigkeiten u.a. im sozialen Umgang und in der Orientierung auf unbekannten Wegen dargelegt sind. Sie hat ferner eine handschriftliche „ergänzende Erläuterung“ des Klägers vorgelegt, in der er erneut seine Schwierigkeiten im sozialen Umgang mit anderen Menschen und den für ihn vergleichsweise gut möglichen Umgang mit Hunden dargelegt hat (Bl. 105/108 der SG-Akte).

Mit Gerichtsbescheid vom 25.11.2020 hat das SG nach Anhörung der Beteiligten die Klage abgewiesen. Ein Klageantrag sei nicht gestellt worden. Die Klage sei aber nur noch im Hinblick auf das Merkzeichen G aufrechterhalten worden. Die Voraussetzungen für dieses Merkzeichen lägen nicht vor. Bei dem Kläger bestehe keine geistige oder seelische Behinderung mit einem GdB von 80 oder 90, sondern allenfalls ein GdB von 50. Es bestünden auch keinerlei Anhaltspunkte für eine entsprechende erhebliche Einschränkung der Orientierungsfähigkeit des Klägers. Er nutze hierfür mit dem Handy ein allgemein gebräuchliches Hilfsmittel. Er habe 2016 auch alleine nach S2 reisen können. Die beiden Sachverständigen hätten die Zuerkennung des Merkzeichens auch nicht befürwortet. Der Gerichtsbescheid ist der Bevollmächtigten des Klägers am 08.12.2020 zugestellt worden.

Der Kläger hat, vertreten durch seine Bevollmächtigte, am 29.12.2020 Berufung zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt. Im Streit stehe der Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens G wegen der Asperger-Erkrankung. Das Merkzeichen umfasse nicht nur Probleme mit dem Gehen an sich, sondern auch mit der Orientierungsfähigkeit und Hemmnisse wegen empfindlicher Wahrnehmung und Reizüberflutung. Die versorgungsmedizinischen Grundsätze beschrieben lediglich Regelfälle, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die Voraussetzungen für das Merkzeichen G als erfüllt anzusehen seien. Diese könnten bei dort nicht erwähnten Behinderungen als Vergleichsmaßstab dienen. Nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 11.08.2015 – B 9 SB 1/14 R) könnten psychische Störungen, die sich spezifisch auf das Gehvermögen auswirkten, zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr führen, auch wenn sie Anfallsleiden oder Orientierungsstörungen nicht gleichzusetzen seien. Die Höhe des Einzel-GdB für die psychische Erkrankung könne bei der Zuerkennung des Merkzeichens G lediglich als Indiz herangezogen werden. Es sei aber nicht Voraussetzung für das Merkzeichen G, dass die psychische Erkrankung allein einen GdB von 50 bedinge. Bei geistig behinderten Menschen seien entsprechende Störungen in der Orientierungsfähigkeit vorauszusetzen, wenn sie sich im Straßenverkehr auf Wegen, die sie tatsächlich nutzten, nur schwer zurechtfinden könnten. Dies sei bei dem Kläger, folge man seinen vielfältigen Beschreibungen seiner Orientierungsfähigkeit insbesondere in unbekanntem Umfeld, der Fall. Er leide unzweifelhaft unter einem Asperger-Syndrom, das als schwergradig einzuschätzen und mit dem GdB von 50 auch abgebildet worden sei. Der Kläger habe beschrieben, dass ihm die Zurücklegung von üblichen Fußwegstrecken erhebliche Schwierigkeiten bereite oder eine Gefahr für sich oder andere mit sich bringe. Er reagiere beispielsweise mit großer Panik, wenn es bei der Nutzung der Transportmittel des ÖPNV zu Zugausfällen käme oder aber zu Verspätungen und Abweichungen vom Fahrplan. Er reagiere auf Abweichungen von gewohnten Wegen mit Stress. Die individuelle Überwindung der Schädigung sei unbeachtlich. Eine nochmalige Begutachtung durch einen entsprechend auf Autismus bzw. das Asperger Syndrom spezialisierten Gutachter könne im Ergebnis zu einer anderen Einschätzung der hier abgelehnten Leistungseinschränkung im Hinblick auf das begehrte Merkzeichen führen. Die Bevollmächtigte hat noch eine handschriftliche Stellungnahme des Klägers für das LSG vorgelegt. Der Kläger hat darin erneut auf Störungen der Orientierung sowie die durch die Corona-Pandemie gerade für autistische Menschen wie ihn entstandenen Probleme hingewiesen. Er halte das Merkzeichen G für gerechtfertigt, da er in Alltag, Beruf und Orientierung stark eingeschränkt sei.

Der Kläger beantragt (sinngemäß)

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 25.11.2020 und den Bescheid der Beklagten vom 10.01.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.06.2018 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, bei dem Kläger das Merkzeichen G festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verweist auf das eindeutige Ergebnis der Gutachter B1 und T bzw. B2.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte dieses Verfahrens sowie des erstinstanzlichen Verfahrens und auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Der Senat entscheidet im Einverständnis der Beteiligten nach § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung.

Die nach § 151 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist gemäß §§ 143, 144 SGG auch im Übrigen zulässig, jedoch nicht begründet. Der Bescheid vom 10.01.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.06.2018 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Denn der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung des Merkzeichens G. Der Gerichtsbescheid vom 25.11.2020 ist daher nicht zu beanstanden.

Gegenstand des Klage- wie auch des Berufungsverfahrens ist dabei ausschließlich der Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens G. Dies ergibt sich bei Auslegung des Berufungsantrages anhand des erkennbaren Berufungsbegehrens (§ 123 SGG) und hier aus der Berufungsbegründung des rechtskundig vertretenen Klägers. Die Höhe des GdB ist damit nicht streitgegenständlich.

Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Denn der Kläger hat auch nach Überzeugung des Senats keinen Anspruch auf Feststellung des Merkzeichens G. Dieses Merkzeichen ist nach § 3 Abs. 1 Nr. 7 der Schwerbehindertenausweisverordnung einzutragen, wenn der schwerbehinderte Mensch in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt im Sinne des § 229 Absatz 1 Satz 1 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch oder entsprechender Vorschriften ist. Der Kläger ist nach der bestandskräftigen Feststellung des Beklagten in dem Bescheid vom 21.11.2012 bei einem GdB von 50 schwerbehindert (§ 2 Abs. 2 SGB IX).

Der Senat verweist hinsichtlich des Verfahrens und der allgemeinen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens G nach dem SGB IX und Teil D Nr. 1 der Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" zur Versorgungsmedizin-VO (VG) auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Gerichtsbescheides und sieht daher von einer eigenen Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 153 Abs. 2 SGG).

Ebenso wie bereits das SG stellt auch der Senat fest, dass das Merkzeichen G nach den Vorgaben der VG hier nur mit Störungen der Orientierungsfähigkeit begründet werden kann. Denn das Gehvermögen des Klägers ist nicht beeinträchtigt. Dies ergibt sich aus dem Befundbericht des Orthopäden S1 (Bl. 168 der Verwaltungsakte) sowie aus dem Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen B1 und ergänzend auch aus dem Gutachten von B2. Hierüber besteht auch kein Streit. Der Hinweis des Klägers auf das Urteil des BSG vom 11.08.2015 (B 9 SB 1/14 R – in juris) kann den von ihm geltend gemachten Anspruch nicht stützen. Denn das BSG hat dort lediglich entschieden, dass auch psychische Gesundheitsstörungen, die zu einer Einschränkung des Gehvermögens führen, das Merkzeichen begründen können. Derartige Störungen liegen bei dem Kläger jedoch unstreitig nicht vor.

Bei dem Kläger liegen keine Störungen der Orientierungsfähigkeit vor, die so ausgeprägt wären, dass sie nach den Vorgaben der VG Teil D Nr. 1 Buchst. f) eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr begründen könnten.

Nach der Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" zur Versorgungsmedizin-VO (VG), hier Teil D Nr. 1 Buchst. f) sind die für das Merkzeichen G hier alleine in Betracht kommenden Störungen der Orientierungsfähigkeit regelmäßig erst ab einem GdB von 80 alleine wegen einer geistigen Behinderung gegeben. Es kann hier dahingestellt bleiben, ob die von B1 vorgeschlagene Bewertung des GdB mit 20 zutrifft. Denn die sowohl von den Beteiligten wie auch von dem gerichtlichen Sachverständigen B2 angenommene ausgeprägte Behinderung mit einem Einzel-GdB von 50 führt bereits für sich genommen zur Schwerbehinderteneigenschaft. Der Anspruch auf Feststellung des Merkzeichens G ergibt sich hier aber auch damit nicht aus den generellen Vorgaben der VG. Bei dem Kläger liegt auch kein besonders gelagerter Einzelfall i.S.d. VG Teil D Nr. 1 Buchst. f) (a.E.) vor, in dem das Merkzeichen auch bei Störungen der Orientierungsfähigkeit mit einem GdB unter 80 festgestellt werden kann. Dies ergibt sich aus dem Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen B1. Dieser hat für den Senat nachvollziehbar ausgeführt, dass keine schwere geistige oder psychische Behinderung vorliegt, die zu einer entsprechend ausgeprägten Störung der Orientierungsfähigkeit führt. Es kann dabei dahingestellt bleiben, wie die psychische Behinderung des Klägers diagnostisch genau einzuordnen ist. Denn die von B1 vorgenommene Einschätzung ist auch durch den gerichtlichen Sachverständigen B2 geteilt worden, der zudem den von dem Beklagten angenommenen GdB von 50 bei mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten bestätigt hat. Bereits der damals behandelnde D hatte in seinen Attesten vom 25.02.2014 und 27.03.2015 im Übrigen auf den (lediglich) subjektiven Wunsch des Klägers nach dem Merkzeichen G hingewiesen. Soweit der behandelnde P in seinem Befundbericht vom 17.10.2017 das Merkzeichen G befürwortet hat, vermag dies nicht zu überzeugen. Denn der Befundbericht lässt bereits nicht erkennen, dass P sich dabei mit den spezifischen Voraussetzungen für das Merkzeichen auseinandergesetzt hätte. Soweit P ausgeführt hat, dass der Kläger das Merkzeichen G wolle, weil er eine Gehbehinderung habe in dem Sinne, dass er nicht in der Lage sei, wenn ihm jemand entgegenkomme, „auszuweisen“ (gemeint wohl: auszuweichen), vermag dies den Anspruch nicht zu begründen. Denn damit wird gerade keine Störung der Orientierungsfähigkeit belegt, die hier alleine das Merkzeichen G begründen könnte. Aus diesem Grund können auch die subjektiven Einschätzungen des Klägers in seinen schriftlichen Stellungnahmen im Verfahren nicht den Anspruch auf das Merkzeichen begründen. Abgesehen davon soll das Merkzeichen G letztlich eine unentgeltliche Beförderung im ÖPNV ermöglichen. Gerade dort kann es typischerweise zu Begegnungen mit einer Vielzahl von Menschen auf beengtem Raum kommen, die von dem Kläger – was für den Senat gut nachvollziehbar ist – im Hinblick auf seine Behinderung als besonders belastend geschildert werden. Auf die unklaren Vorstellungen des Klägers hinsichtlich des durch das Merkzeichen zu erreichenden Nachteilsausgleichs hat im Übrigen auch der gerichtliche Sachverständige B1 hingewiesen.

Der Sachverhalt ist vollständig aufgeklärt. Der Senat hält weitere Ermittlungen von Amts wegen nicht für erforderlich. Die vorliegenden ärztlichen Unterlagen haben dem Senat zusammen mit den im erstinstanzlichen Verfahren eingeholten sachverständigen Zeugenaussagen die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen sachlichen Grundlagen vermittelt (§ 118 Abs. 1 Satz 1 SGG, § 412 Abs. 1 ZPO).

Die Berufung war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.

Rechtskraft
Aus
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