Die Berufung der Kläger gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 18. Mai 2021 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Streitig ist die Gewährung höherer Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II).
Die Kläger beziehen Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II vom Beklagten. Mit Schreiben vom 24.12.2018, mit welchem sie gleichzeitig Widerspruch gegen die Änderungsbewilligungsbescheide vom 24.11.2018, betreffend die Leistungen für Januar bis September 2019 einlegten, beantragten sie rückwirkend für die jeweiligen ergangenen Bescheide zum 01.01.2019 und sämtliche zuvor ergangenen Bescheide deren Überprüfung, nachdem die Leistungssätze unzureichend seien. Mit Schreiben vom 08.01.2019 wies der Beklagte darauf hin, dass eine Überprüfung von ergangenen Bescheiden nur erfolgen könne, wenn die zu prüfenden Bescheide genau bezeichnet seien und damit die Rechtmäßigkeit dieser Verwaltungsakte auch geprüft werden könne. Der Beklagte forderte insoweit die Kläger auf, die Bescheide konkret zu bezeichnen, welche auf ihre Rechtmäßigkeit nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) überprüft werden sollten. Eine dementsprechende Konkretisierung durch die Kläger erfolgte nicht.
Mit Bescheid vom 20.02.2019 wurde der Antrag auf Überprüfung sämtlicher ergangener Bescheide ohne Sachprüfung abgelehnt, da der Antrag pauschal gestellt worden sei, ohne die zu überprüfenden Bescheide konkret zu benennen und Gründe für deren Unrichtigkeit anzugeben. Hiergegen erhoben die Kläger am 22.03.2019 Widerspruch mit der Begründung, es sei noch nicht einmal entschieden worden, ab welchem Zeitpunkt seit der Antragstellung beim Jobcenter H (Ende 2013? - Ende 2014? - Anfang 2015?) ihnen Zahlungen zustehen. Mit Hinblick auf die Kritik der UN beziehe sich der Widerspruch auch auf die bisherigen Zahlungen des Jobcenters Landkreis R und die des Jobcenters H in NRW, weil diese nicht ein Leben in Würde ermöglichen würden. Die Übernahme der Müllentsorgungsgebühren sei ihnen zu Beginn der Zahlung noch nicht mitgeteilt worden. Der Kläger zu 1. habe denselben Anspruch wie die Klägerin zu 2. gegen das Jobcenter H während der Monate November 2015 bis Januar 2016. Der Selbstbehalt von 150 € pro Lebensjahr und Person sei ihm nicht mitgeteilt worden. Seit Ende der Unterhaltspflicht des Ehemanns der Klägerin zu 2. und Vaters des Klägers zu 1. hätten sie beide Anspruch auf Hartz 4 gehabt. Der Widerspruch wurde vom Beklagten mit Widerspruchsbescheid vom 08.04.2019 zurückgewiesen.
Am 09.05.2019 haben die Kläger Klage zum Sozialgericht Reutlingen (SG) erhoben unter Wiederholung ihres bisherigen Vorbringens. Die Klage ist nicht begründet worden, trotz mehrfacher Erinnerung durch das SG und Bitte um Klagebegründung, zuletzt bis 22.06.2020. Ein dezidierter Klageantrag ist nicht gestellt worden.
Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 18.05.2021 abgewiesen. Die zulässige Klage sei nicht begründet. Ein Anspruch auf Überprüfung sämtlicher bestandskräftiger Bescheide nach § 44 SGB X bestehe nicht. Nach der vom Beklagten zitierten Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 13.02.2014 (B 4 AS 22/13 R) fehle es an einer inhaltlichen Prüfungsverpflichtung des SGB II-Trägers, wenn der Sozialleistungsträger den Einzelfall, der zur Überprüfung gestellt werden solle, objektiv nicht ermitteln könne, wenn ein Leistungsberechtigter die Überprüfung sämtlicher bestandskräftiger Bescheide auf ihre Rechtmäßigkeit beantrage. Ein Einzelfall im Sinne des konkreten Inhalts eines bestimmten Bescheides, welcher zur Überprüfung gestellt werden könne, könne angesichts des klägerischen Vorbringens nicht ermittelt werden. Dies ergebe sich bereits daraus, dass sich die Kläger selbst nicht im Klaren seien, ab welchem Zeitpunkt sie eine Überprüfung bzw. höhere Leistungen begehrten. Der rein ins Blaue gerichtete Antrag löse keine Prüfpflicht aus, weshalb der Beklagte zu Recht den Antrag abgelehnt habe.
Gegen den am 21.05.2021 gestellten Gerichtsbescheid haben die Kläger am 21.06.2021 Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt.
Die den Klägern eingeräumte Frist zur Berufungsbegründung ist mehrfach verlängert worden, zuletzt bis 10.10.2021. Mit am 18.10.2021 eingegangenen E-Mail-Schreiben haben die Kläger in allen vier beim Landessozialgericht anhängigen Verfahren (L 9 AS 2098/21, L 9 AS 2099/21, L 9 AS 2100/21 und L 9 AS 2101/21) aus „gesundheitlichen, familiären und zeitlichen Gründen“ eine nochmalige Fristverlängerung bis 30.10.2021 beantragt, hierzu auf die aus ihrer Sicht bestehende Verfassungswidrigkeit der Regelsätze sowie das aus ihrer Sicht rechtswidrige Verhalten der unterschiedlichen Sachbearbeiterinnen beim Jobcenter H im Zusammenhang mit der Leistungsgewährung in den Jahren 2014-2016 hingewiesen. Auf Mitteilung des Gerichts, dass Gründe für eine nochmalige Fristverlängerung nicht dargetan sind bzw. nicht vorliegen, haben die Kläger mit weiterem am 19.01.2021 eingegangenen E-Mail-Schreiben nochmals die aus ihrer Sicht rechtswidrige Bearbeitung ihrer Leistungsanträge beim Jobcenter H beanstandet.
Die Kläger haben keinen Sachantrag gestellt. Sie beantragen sinngemäß,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 18. Mai 2021 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 20.02.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids mit Widerspruchsbescheids vom 08.04.2019 zu verpflichten, die früheren bewilligenden Verfügungen zu ändern und ihnen höhere Leistungen zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Senat hat die Berufung wird gemäß § 153 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) dem Vorsitzenden Richter übertragen, der zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern entscheidet, nachdem der Senat keine Gründe feststellen konnte, die eine Entscheidung durch den ganzen Senat erforderlich machen und solche auch nicht in der Anhörung von den Beteiligten mitgeteilt wurden.
Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die fristgemäß eingelegte und auch sonst zulässige Berufung der Kläger gegen den Gerichtsbescheid des SG vom 18.05.2021, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs. 2 SGG), ist unbegründet.
Der Senat hat keine Veranlassung zur nochmaligen Verlängerung der Berufungsfrist in allen Verfahren gesehen. Den Klägern ist bei Einlegung der Berufungen (21.06.2021) eine angemessene Frist zur Berufungsbegründung gesetzt worden, die mehrmals verlängert worden ist, zuletzt bis 10.10.2021. Die von den Klägern zur Begründung der Fristverlängerungsgesuche in sämtlichen Klage- und Berufungsverfahren (wie schon im früheren Verfahren vor dem LSG Baden-Württemberg L 3 AS 102/18) durchgehend bemühte stereotype Formulierung „aus gesundheitlichen, familiären und zeitlichen Gründen“ gibt keinen Anlass zur nochmaligen Fristverlängerung. Dies umso mehr, als die Berufungen teilweise bereits begründet worden sind und das Vorbringen der Kläger, soweit es über die pauschale Rüge der Verfassungswidrigkeit der Regelleistungen hinausgeht, sich insbesondere auf die Vorgänge im Jobcenter H in den Jahren 2014 bis 2016 bezieht, wie zuletzt im Schriftsatz vom 19.10.2021 ausgeführt. Das Jobcenter Hagen ist aber nur in einem der vier jetzigen Berufungsverfahren (L 9 AS 2101/18) Beteiligter. Zudem waren diese Vorgänge bereits Gegenstand der früheren Verfahren vor dem LSG Baden-Württemberg (Urteile vom 11.07.2018 – L 3 AS 100/18 und L 3 AS 101/18 – und Beschluss vom 05.06.2018 – L 3 AS 102/18 -), in denen die Kläger bereits ausführlich Gelegenheit zur Äußerung hatten. Es ist nicht dargelegt oder sonst erkennbar, dass hierzu substantiell neuer Vortrag zu erwarten ist.
Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Beklagte hat es rechtlich zutreffend abgelehnt, eine inhaltliche Überprüfung der benannten Verwaltungsakte nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X vorzunehmen. Es mangelt bereits an einem hinreichend objektiv konkretisierbaren Antrag im Sinne dieser Vorschrift.
Nach § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II i.V.m. § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Erfolgt die Überprüfung aufgrund eines Antrags des Leistungsberechtigten, löst dieser Antrag zwar grundsätzlich eine Prüfpflicht des Leistungsträgers aus. Der Antrag bestimmt jedoch zugleich auch den Umfang des Prüfauftrags der Verwaltung im Hinblick darauf, ob bei Erlass des Verwaltungsakts das Recht unrichtig angewandt oder von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen worden ist. Aufgrund oder aus Anlass des Antrags muss sich der Verwaltung im Einzelfall objektiv erschließen, aus welchem Grund - Rechtsfehler und/oder falsche Sachverhaltsgrundlage - nach Auffassung des Leistungsberechtigten eine Überprüfung erfolgen soll. Dazu muss der Antrag konkretisierbar sein, d.h. entweder aus dem Antrag selbst – ggf. nach Auslegung - oder aus einer Antwort des Leistungsberechtigten aufgrund konkreter Nachfrage des Sozialleistungsträgers muss der Umfang des Prüfauftrags für die Verwaltung bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens erkennbar werden. Ist dies nicht der Fall, ist der Sozialleistungsträger berechtigt, von einer inhaltlichen Prüfung dieses Antrags abzusehen. Diese Begrenzung des Prüfauftrags der Verwaltung wird nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) durch den Wortlaut, die Gesetzesbegründung sowie den Sinn und Zweck des § 44 SGB X gestützt.
Nach dem Wortlaut von § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X soll „im Einzelfall“ eine Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes - sei es ein rechtswidriger belastender Verwaltungsakt, mit dem Leistungen ganz oder teilweise abgelehnt worden sind, sei es ein Rückforderungsbescheid (vgl. Voelzke/Hahn, SGb 2012, 685, m.w.N.) - erfolgen. Hieraus hat das BSG geschlossen, dass dann, wenn nicht ein einzelner oder mehrere konkrete, ihrer Zahl nach bestimmbare Verfügungssätze von Verwaltungsakten, sondern das Verwaltungshandeln - ohne jede Differenzierung - insgesamt zur Überprüfung durch die Verwaltung gestellt wird, keine Prüfung im Einzelfall begehrt wird. Trotz des Vorliegens eines „Antrags" löst ein solches Begehren bereits nach dem Wortlaut der Vorschrift noch keine inhaltliche Prüfpflicht des Sozialleistungsträgers aus (BSG, Urteile vom 13.02.2014 - B 4 AS 22/13 R = BSGE 115, 126 = SozR 4-1300 § 44 Nr. 28 Rn. 14, vom 28.10.2014 - B 14 AS 39/13 R = SozR 4-1300 § 44 Nr.31 Rn. 15 sowie vom 14.03.2012 - B 4 AS 239/11 B – Rn. 6).
Nach diesen Grundsätzen durfte der weder bei der Antragstellung noch nachfolgend hinreichend konkretisierte und spezifizierte Überprüfungsantrag vom Beklagten ohne weitere Sachprüfung abgelehnt werden.
Die Berufung war daher mit der Kostenfolge des § 193 SGG zurückzuweisen.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
9
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 5 AS 1161/19
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 AS 2099/21
Datum
3. Instanz
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Aktenzeichen
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Datum
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Kategorie
Urteil
Rechtskraft
Aus
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