L 4 KR 3155/20

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
4.
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 16 KR 2335/18
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 KR 3155/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 31. Juli 2020 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten auch des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.



Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Kostenübernahme für eine Narbenkorrektur als Sachleistung.

Der 1973 geborenen, bei der Beklagten versicherten Klägerin wurde nach einem Verkehrsunfall mit offener Schädelfraktur im frontalen und temporalen Bereich am 9. Dezember 2016 im K.hospital S. eine CAD-Plastik im Gesicht implantiert.

Am 17. Oktober 2017 beantragte die Klägerin bei der Beklagten unter Vorlage eines Schreibens des Ärztlichen Direktors des M.hospitals Dr. H. vom 6. Juli 2017 die Kostenübernahme für eine Operation zur Narbenkorrektur. In diesem wurde eine stark auffällige, eingezogene Narbe in der Stirnmitte, an der Unterlid-/Wangengrenze links sowie eine breite, hypertrophe Narbe nach einem Koronarschnitt in der behaarten Kopfhaut beschrieben. Empfohlen werde eine Korrektur des Volumendefizits sowie der stark eingezogenen Narbe der Stirn links und der Augenbraue links mit Eigenfettgewebstransplantation.

Mit Schreiben vom 10. November 2017 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass sie nicht innerhalb der Frist des § 13 Abs. 3a Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) entscheiden könne, da ein Gutachten durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) erforderlich sei. In seinem im Auftrag der Beklagten erstellten Gutachten vom 11. Dezember 2017 beschrieb Dr. A. (MDK) eine Narbe vom Haaransatz bis zur Augenbraue ziehend. Die Narbe erscheine reizlos und sei leicht eingezogen. Eine funktionelle Störung der Lider liege nicht vor. Aus gutachterlicher Sicht sei die Stirnnarbe zwar deutlich zu erkennen, sei jedoch nicht so ausgeprägt, dass die Klägerin schon bei flüchtiger Begegnung die Aufmerksamkeit auf sich lenke. Eine medizinische Indikation für die Operation sei nicht gegeben. Die Klägerin habe angegeben, der Grund sei vorwiegend psychisch. Gegebenenfalls stelle eine psychotherapeutische Behandlung eine Hilfe dar. 

Mit Bescheid vom 22. Dezember 2017 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Eine medizinische Notwendigkeit einer Narbenkorrektur liege mangels Erkrankung nicht vor. Eine Kostenübernahme aus ästhetisch-kosmetischen Gründen sei gesetzlich nicht vorgesehen. Zur Begründung des dagegen eingelegten Widerspruches trug die Klägerin vor, eine Krankenhausbehandlung sei indiziert. Mit Widerspruchsbescheid vom 5. Juli 2018 wies der Widerspruchsausschuss der Beklagten den Widerspruch nach nochmaliger Einschaltung des MDK (Gutachten des Dr. C. vom 15. März 2018), der die bisherige Auffassung bestätigte, als unbegründet zurück. Da der kosmetische Aspekt im Vordergrund stehe, liege keine Krankheit vor. Eine Narbenkorrektur sei nur indiziert, wenn die Narbe entstellend wirke. Dies sei bei der Klägerin nicht der Fall.

Hiergegen erhob die Klägerin am 26. Juli 2018 Klage beim Sozialgericht Heilbronn (SG), mit der sie die Gewährung einer Operation zur Narbenkorrektur der Narbe in der Stirnmitte sowie Unterlid- und Wangengrenze links als Sachleistung begehrte. Die Narbe sei entstellend und überschreite die Erheblichkeitsschwelle. Sie, die Klägerin, sei durch die Narbe psychisch massiv beeinträchtigt.

Die Beklagte trat der Klage unter Verweis auf die Gründe der angefochtenen Bescheide entgegen.

Das SG zog Befundberichte des HNO-Arztes Dr. P., des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychoanalyse Dr. Hu. und des Facharztes Dr. E. bei. Auf Bl. 40/43, 45/48 und 49/56 der SG-Akte wird insoweit Bezug genommen.

Mit Urteil vom 31. Juli 2020 wies das SG die Klage ab. Der Sachleistungsanspruch auf Krankenbehandlung nach § 27 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) setze voraus, dass die Krankenbehandlung notwendig sei, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Krankheit im Sinne dieser Norm sei nach gefestigter Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ein regelwidriger, vom Leitbild des gesunden Menschen abweichender Körper- oder Geisteszustand, der ärztlicher Behandlung bedürfe oder den Betroffenen arbeitsunfähig mache. Krankheitswert im Rechtssinne komme nicht jeder körperlichen Unregelmäßigkeit zu. Erforderlich sei vielmehr, dass der Versicherte in seinen Körperfunktionen beeinträchtigt werde oder dass er an einer Abweichung vom Regelfall leide, die entstellend wirke. Eine Funktionsbeeinträchtigung liege bei der Klägerin nicht vor. Eine solche sei weder vorgetragen noch den vorliegenden Befundberichten oder dem Schreiben von Dr. H. vom 6. Juli 2017 zu entnehmen. Soweit in letzterem angegeben werde, das Volumendefizit könne langfristig zur Verstärkung der Blepharochalasis und Gesichtsfeldeinschränkungen führen, sei dies bislang weder eingetreten noch sei ein solcher Verlauf nach den vorliegenden Unterlagen zwingend. Eine Entstellung liege nicht vor. Für eine solche genüge nicht jede körperliche Abnormität. Vielmehr müsse es sich objektiv um eine so erhebliche Auffälligkeit handeln, die naheliegende Reaktionen der Mitmenschen wie Neugier oder Betroffenheit auslöse und die damit zugleich erwarten lasse, dass der Betroffene ständig viele Blicke auf sich ziehe, zum Objekt besonderer Beachtung anderer werde und sich deshalb aus dem Leben in der Gemeinschaft zurückziehe und zu vereinsamen drohe, so dass die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft gefährdet sei. Hierfür müsse objektiv eine beachtliche Erheblichkeitsschwelle überschritten sein, so dass sich die körperliche Auffälligkeit schon bei flüchtiger Begegnung in alltäglichen Situationen „quasi im Vorbeigehen“ bemerkbar mache und regelmäßig zur Fixierung des Interesses anderer auf den Betroffenen führe (Verweis auf BSG, Urteile vom 23. Juli 2002 – B 3 KR 66/01 R – juris, Rn. 15 und vom 28. Februar 2008 – 1 KR 19/07 R – juris, Rn. 13). Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme, insbesondere der durchgeführten Inaugenscheinnahme im Rahmen der mündlichen Verhandlung, habe die Klägerin zwar eine deutlich wahrnehmbare, etwa 10 cm lange Narbe an der Stirn. Diese sei jedoch nicht so auffällig, dass sie eine beachtliche Erheblichkeitsschwelle überschreite. Zwar befinde sich diese nicht geringe Narbe im Gesicht, also an einer Stelle, wo sie im alltäglichen Kontakt mit Menschen potentiell besonders auffallen könne. Allerdings sei sie weder durch ihre Form, Tiefe, Ausgestaltung noch Farbe derart auffällig, dass sie „quasi im Vorbeigehen“ bemerkbar sei. Die Kammer sei auch nicht davon überzeugt, dass die Narbe, wenn sie denn – bei nicht nur flüchtiger Begegnung – bemerkt werde, Reaktionen wie Neugier oder Betroffenheit auslösen könne. Psychische Beeinträchtigungen aufgrund der Narbe rechtfertigten keinen operativen Eingriff, sondern seien vorrangig psychiatrisch oder psychotherapeutisch zu behandeln (Verweis auf BSG, Urteil vom 28. Februar 2008 – B 1 KR 19/07 R – juris, Rn. 18).

Gegen dieses ihr am 7. September 2020 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 7. Oktober 2020 Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt. Zur Begründung hat sie ausgeführt, wie das SG selbst ausführe, befinde sich die 10 cm große Narbe im Gesicht. Diese werde daher von jedem Menschen im Alltag wahrgenommen und gesehen. Nach ihrer, der Klägerin, Erfahrung werde die Narbe insbesondere auch quasi im Vorbeigehen von Dritten wahrgenommen. Dadurch sei sie, die Klägerin, auch psychisch massiv beeinträchtigt. Außerdem ergebe sich der Anspruch auf die begehrte Leistung aus der Genehmigungsfiktion nach § 13 Abs. 3a SGB V wegen nicht fristgerechter Entscheidung über den Antrag.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 31. Juli 2020 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 22. Dezember 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 5. Juli 2018 zu verurteilen, ihr eine Operation zur Narbenkorrektur der Narbe in der Stirnmitte sowie Unterlid- und Wangengrenze links als Sachleistung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Das Begehren auf eine Sachleistung könne nicht auf die Genehmigungsfiktion gestützt werden (Verweis auf BSG, Urteil vom 26. Mai 2020 – B 1 KR 9/18 R – juris).

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (Schriftsätze vom 30. September und 11. Oktober 2021; Bl. 43, 44 der Senatsakten).

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf die Verfahrensakten des SG und des Senats sowie die Verwaltungsakte der Beklagten.


Entscheidungsgründe

1. Die nach §§ 143, 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten nach § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist statthaft und zulässig. Sie bedarf nicht der Zulassung gemäß § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG, da der Wert des Beschwerdegegenstands angesichts der zu erwartenden Kosten der begehrten stationär durchzuführenden Operation 750,00 € übersteigt.

2. Die Berufung der Klägerin ist jedoch nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 Var. 2, Abs. 4, §§ 56, 130 Abs. 1 Satz 1 SGG) zulässige Klage ist nicht begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 22. Dezember 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 5. Juli 2018 (§ 95 SGG) ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die begehrte Operation zur Narbenkorrektur der Narbe in der Stirnmitte sowie Unterlid- und Wangengrenze links als Sachleistung.

Das SG hat in dem mit der Berufung angefochtenen Urteil vom 31. Juli 2020 die rechtlichen Voraussetzungen für einen Anspruch auf Krankenbehandlung in Form einer operativen Narbenkorrektur unter Berücksichtigung der maßgeblichen höchstrichterlichen Rechtsprechung zutreffend dargestellt und deren Vorliegen unter Würdigung der Ergebnisse der Beweisaufnahme, einschließlich einer Inaugenscheinnahme, überzeugend verneint. Der Senat macht sich die dortigen Feststellungen zu eigen und schließt sich dieser Beurteilung aufgrund eigener Prüfung auch anhand der Beschreibung der Narbe nach Augenschein des SG in dessen Protokoll über die mündliche Verhandlung vom 31. Juli 2020 (Bl. 83 der SG-Akte) an, das der Senat im Wege des Urkundsbeweises verwertet (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 128 Rn. 8e). Er nimmt daher auf dessen Entscheidungsgründe Bezug und sieht von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 153 Abs. 2 SGG). Eine Entstellung im krankenversicherungsrechtlichen Sinne liegt demnach nicht vor. Lediglich ergänzend ist festzuhalten, dass der von Dr. Hu. vorgelegte Arztbrief vom 7. Dezember 2017 (Bl. 45 der SG-Akte) bestätigt, dass eine Beeinträchtigung einer Körperfunktion durch die Narbe nicht vorliegt. Danach zeigte sich zwar der Lidspalt links schmaler als rechts. Das Gesichtsfeld war fingerperimetrisch aber intakt. Es bestanden auch keine Sensibilitätsstörung am Gesicht.

Auf die Genehmigungsfiktion vermag die Klägerin den geltend gemachten Sachleistungsanspruch nicht mit Erfolg zu stützen. Selbst wenn die Tatbestandsvoraussetzungen des § 13 Abs. 3a SGB V vorlägen, begründet eine fingierte Genehmigung nach dem Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung (§ 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V) keinen eigenständigen Naturalleistungsanspruch. Sie vermittelt dem Versicherten eine Rechtsposition sui generis. Diese erlaubt es ihm, sich die Leistung (bei Gutgläubigkeit) selbst zu beschaffen und verbietet es der Krankenkasse, nach erfolgter Selbstbeschaffung eine beantragte Kostenerstattung mit der Begründung abzulehnen, nach dem Recht der gesetzlichen Krankenversicherung bestehe kein Rechtsanspruch auf die Leistung (BSG, Urteil vom 26. Mai 2020 – B 1 KR 9/18 R – juris, Rn. 10 ff.). Die Klägerin macht vorliegend aber keine Kostenerstattung für eine selbst beschaffte Leistung, sondern einen Sachleistungsanspruch geltend.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.

4. Die Revision war nicht zuzulassen, da Gründe hierfür (vgl. § 160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen.

Rechtskraft
Aus
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