L 20 AL 170/19

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
20
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 15 AL 220/18
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 20 AL 170/19
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 11 AL 6/22 BH
Datum
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Aachen vom 22.10.2019 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt notwendige außergerichtliche Kosten des Klägers zur Hälfte für beide Rechtszüge.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über eine Versagung von Arbeitslosengeld nach dem SGB III (Alg) wegen fehlender Mitwirkung des Klägers sowie über einen Leistungsanspruch auf Alg.

Der am 00.00.1959 geborene Kläger war bei der R beschäftigt. Am 10.05.2017 kündigte die R das Beschäftigungsverhältnis fristlos. Hiergegen wandte sich der Kläger im Verfahren vor dem Arbeitsgericht Aachen (7 Ca 1691/17).

Mit Telefax vom 29.12.2017 beantragte der Kläger Alg zur „eventuellen Fristwahrung“ rückwirkend ab dem 29.02.2016. Am 01.02.2018 teilte er der Beklagten mit, er habe sich an diesem Tag vor dem Arbeitsgericht mit der R gütlich geeinigt, dass sein Arbeitsverhältnis mit dem 31.12.2017 ende, so dass er ab dem 01.01.2018 arbeitslos sei. Er melde sich deshalb rückwirkend zum 01.01.2018 arbeitslos. Wegen Erkrankung könne er nicht persönlich vorsprechen (Atteste seines behandelnden Allgemeinmediziners I vom 15.01.2018 über eine weiterhin bis zum 28.02.2018 bestehende Arbeits- bzw. Verhandlungsunfähigkeit). Unter dem 28.02.2018 teilte der Kläger mit, er sei weiter arbeits- und verhandlungsunfähig (Atteste des Dr. I vom 27.02.2018: weiterhin bis zum 17.03.2018). Seine Ehefrau habe an den beiden Vortagen vergeblich versucht, für ihn bei der Arbeitsagentur Aachen vorzusprechen; sie werde es in den kommenden Tagen wieder versuchen. Der Kläger fügte den am 01.02.2018 vom Arbeitsgericht Aachen (bei persönlicher Anwesenheit des Klägers) protokollierten Vergleich mit der R bei, demzufolge sein dortiges Arbeitsverhältnis aufgrund arbeitgeberseitiger Kündigung mit sozialer Auslauffrist zum 31.12.2017 sein Ende gefunden hat. Wegen der weiteren Einzelheiten (u.a. Zahlungen der R an den Kläger in einer Gesamtbruttohöhe von 166.200,00 €) wird auf den protokollierten Vergleich Bezug genommen.

Am 01.03.2018 sprach der Kläger persönlich bei der Beklagten vor. Dabei wurde er u.a. auf eine Meldung am letzten Tag der bis zum 17.03.2018 bescheinigten Arbeitsunfähigkeit hingewiesen. Mit Telefax vom 31.03.2018 teilte der Kläger u.a. mit, seine private Krankentagegeldversicherung hätte mindestens seit dem 03.10.2016 (eigentlich bereits seit dem 25.07.2015) Beiträge zur Arbeitslosenversicherung entrichten müssen; leider gebe es aber einen noch immer laufenden Rechtsstreit, der derzeit beim Oberlandesgericht Köln anhängig sei. Sein ehemaliger Arbeitgeber müsse im Anschluss an den geschlossenen Vergleich eigentlich auch für die Zeit vom 10.05. bis 31.12.2017 Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zahlen.

Die Beklagte teilte dem Kläger mit Schreiben vom 12.04.2018 u.a. Näheres zu einem Alg-Anspruch nach § 145 SGB III mit, ferner zur Anwartschaftszeit nach § 142 SGB III. Der Kläger möge bis zum 13.05.2018 zur Feststellung eines möglichen Anspruchs folgende Unterlagen einreichen: eine Arbeitsbescheinigung der R für die Zeit vom 10.03.1987 bis 31.12.2017 (Formular beigefügt), eine Bescheinigung über den Bezug von Krankentagegeld (Formular beigefügt), einen Nachweis über das Erschöpfen des Anspruchs auf Krankentagegeld, eine Bescheinigung zur Übernahme von Beiträgen zur Kranken-/Pfle­geversicherung nach § 174 SGB III (Formular beigefügt) sowie den Bescheid der Krankenkasse über die Befreiung von der Versicherungspflicht zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung. Ferner möge der Kläger hinsichtlich einer Nahtlosigkeit i.S.v. § 145 SGB III einen Gesundheitsfragebogen ausgefüllt zurücksenden (Formular beigefügt). Nach Eingang des Gesundheitsfragebogens werde die Beklagte ihren Ärztlichen Dienst mit einem Gutachten beauftragen; der Anspruch auf Leistungen sei u.a. vom Ergebnis dieses Gutachtens abhängig. Bei fehlender Mitwirkung könnten Leistungen für den Kläger versagt werden (§§ 60, 66 SGB I).

Am 15.05.2018 sprach der Kläger bei der Beklagten vor. Er stellte sich in Vollzeit für Tätigkeiten als Informatiker, Softwareentwickler im Tagespendelbereich überregional und bundesweit zur Verfügung.

Mit Schreiben vom 30.05.2018 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dieser sei der Aufforderung zur Mitwirkung im – nochmals beigefügten – Schreiben vom 12.04.2018 nicht nachgekommen und habe die angeforderten Unterlagen nicht vorgelegt. Ohne diese Unterlagen könne die Beklagte nicht entscheiden, ob und ab wann der Kläger Anspruch auf Alg habe. Er möge die Unterlagen nunmehr bis zum 25.06.2018 bei der Beklagten einreichen. Geschehe das bis zum genannten Termin nicht, werde die Geldleistung bis zur Nachholung der Mitwirkung versagt.

Der Kläger bat mit E-Mail vom 19.06.2018 wegen akuter Erkrankung um Fristverlän­gerung bis zum 15.07.2018. Er legte dazu ein Attest des Dr. I vom 06.06.2018 über eine weiterhin bis zum 08.08.2018 bestehende Arbeitsunfähigkeit vor.

Mit Bescheid vom 10.09.2018 versagte die Beklagte dem Kläger das am 12.04.2018 beantragte Alg ab jenem Tag vollständig. Der Kläger habe die fehlenden Unterlagen nicht vorgelegt und damit die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Alg nicht nachgewiesen. Die Entscheidung beruhe auf § 66 SGB I. Falls der Kläger die Mitwirkung nachhole und die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt seien, werde geprüft, ob die Leistung ganz oder teilweise nachgezahlt werden könne. Die Anspruchsdauer mindere sich jedoch um die Tage, für die die Leistung versagt oder entzogen worden sei, höchstens aber um vier Wochen.

Der Kläger legte Widerspruch ein mit der Begründung, er sei durchgehend verhandlungsunfähig krank gewesen; Bescheinigungen könne er auf Verlangen vorlegen. Da er allein lebe, habe er niemanden, der ihm bei den Unterlagen helfen könne.

Mit Widerspruchsbescheid vom 16.10.2018 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Der Kläger sei mit Schreiben vom 12.04.2018 um Vorlage diverser Unterlagen gebeten worden. Trotz Erinnerung vom 30.50.2018 und Belehrung über die Rechtsfolgen fehlender Mitwirkung sei er seiner Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen und habe auch keine Hinderungsgründe angegeben. Die jetzt angegebenen Gründe könnten zu keiner anderen Entscheidung führen; so, wie der Kläger den Widerspruch habe erstellen können, könne er auch die erforderlichen Unterlagen schriftlich anfordern und einreichen.

Hiergegen hat der Kläger am 16.11.2018 Klage beim Sozialgericht Aachen erhoben. Mit Telefax vom 26.02.2019 hat die nach ihren Angaben getrennt lebende Ehefrau des Klägers mitgeteilt, dieser habe sie für das Verfahren um Unterstützung gebeten. Beigefügt war u.a. eine bis zum 31.12.2019 gültige Vollmacht des Klägers. Mit weiterem Telefax vom 29.03.2019 hat die Ehefrau zur Begründung der Klage mitgeteilt, man habe ihr und dem Kläger bei persönlichen Vorsprachen in der Arbeitsagentur verwehrt, ausführlich darzulegen, dass der Kläger ab Sommer 2015 im Wesentlichen deshalb arbeitsunfähig gewesen sei, weil er sich fachärztlich verschriebene Medikamente und Nahrungsergänzungsmittel finanziell nicht habe leisten können und nur dadurch alte Erkrankungen wieder aufgetreten seien. Verursacht worden sei dies durch Nichtzahlung von Krankentagegeld und eine zeitweise Einstufung durch die Krankenkasse in den Notlagentarif. Das Gerichtsverfahren gegen die Krankenversicherung sei noch vor dem Oberlandesgericht anhängig. Folge des Fehlens der Medikamente und Nahrungsergänzungsmittel sei einerseits ein durchgehendes Wiederauftreten eines starken Reizdarmsyndroms und einer Hormonmangelerkrankung mit der Folge sehr häufiger Infekte, ferner eine Verschlimmerung eines Tinnitus. Erhielte der Kläger Alg, könnte er sich die Medikamente und Nahrungsergänzungsmittel leisten, und es stehe zu erwarten, dass er dann in absehbarer Zeit wieder voll arbeitsfähig sei. Die Arbeitsunfähigkeit sei mithin dadurch bedingt, dass er kein Alg erhalte. Dieses möge ihm deshalb rückwirkend gewährt werden. Beigefügt war eine bis zum 31.12.2020 befristete Vollmacht des Klägers vom 25.03.2019, der zufolge seine Ehefrau ihn in allen Angelegenheiten gegenüber der Beklagten und im vorliegenden gerichtlichen Verfahren vertreten konnte.

Der Kläger hat (in der Antragsfassung des Sozialgerichts) schriftlich sinngemäß beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 10.09.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.10.2018 zu verurteilen, ihm Alg ab Antragstellung zu zahlen.

Die Beklagte hat schriftlich beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat auf den angefochtenen Widerspruchsbescheid Bezug genommen. Verfahrens­gegenstand sei die Versagung von Alg. Der Kläger sei mehrfach aufgefordert worden, angeforderte Unterlagen einzureichen, damit ein Anspruch auf Alg geprüft werden könne. Bis heute lägen diese Unterlagen nicht vor. Gründe, die gegen eine Vorlage sprächen, seien nicht geltend gemacht worden.

Nachdem das Sozialgericht einen Erörterungstermin auf den 05.09.2019 bestimmt hatte, hat die Ehefrau des Klägers unter Hinweis auf die vorgelegte Vollmacht gebeten, den Termin um etwa sechs Monate zu verschieben. Denn es gehe dem Kläger wieder schlechter. Der private Krankenversicherer  habe auf Anraten des Oberlandesgerichts die Berufung zurückgenommen, so dass eine erfolgte Kündigung der Krankentagegeldversicherung entsprechend dem landgerichtlichen Urteil nichtig sei. Bis zur endgültigen Klärung, ob Krankentagegeld nachgezahlt werde, würden noch einige Monate vergehen. Sollte Krankentagegeld nachgezahlt werden, werde die Klage vor dem Sozialgericht voraussichtlich zurückgenommen. Beigefügt waren Atteste des Dr. I vom 10.07.2019 über eine weiterhin bis zum 15.09.2019 bestehende Arbeits- bzw. Verhandlungsunfähigkeit. Später hat der Kläger eine Bescheinigung des Dr. I vom 02.09.2019 über eine zur Zeit bestehende Verhandlungsunfähigkeit wegen eines schweren Reizdarm-Syndroms und einer rezidivierenden Depression nachgereicht. Das Sozialgericht hat die Beteiligten daraufhin unter dem 17.09.2019 zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört.

Mit Gerichtsbescheid vom 22.10.2019 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Der angefochtene Bescheid sei ein Versagungsbescheid wegen fehlender Mitwirkung, nicht aber eine endgültige Leistungsablehnung. Streitgegenstand sei nicht der materielle Anspruch, sondern Rechte und Pflichten im Verwaltungsverfahren. Eine anderweitige Klärung der Leistungsvoraussetzungen, welche eine über die Anfechtungsklage gegen den Versagungsbescheid hinausgehende Klage auf Leistungsgewährung als zulässig erscheinen ließe, werde nicht behauptet und liege nicht vor. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Gerichtsbescheid Bezug genommen.

Gegen den ihm am 24.10.2019 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger (ohne Mitwirkung seiner Ehefrau) am 23.11.2019 Berufung eingelegt. Er hat die Berufung zunächst nicht begründet, sondern wiederholt (u.a. unter Bezugnahme auf Bescheinigungen des Dr. I vom 12.11.2019, 15.01.2020, 17.03.2020 und 19.05.2020) eine Arbeits- und Verhandlungsunfähigkeit vorgetragen. Mit Schreiben vom 10.06.2020 hat ihn der Senat darauf hingewiesen, dass er sich vor Gericht anwaltlich oder durch einen Sozialverband oder eine Gewerkschaft vertreten lassen könne. Sollte er sich auch nach dem 20.07.2020 (Auslaufen des letzten Attestes) nicht in der Lage sehen, seine rechtlichen Angelegenheiten selbständig wahrzunehmen, könne er erwägen, die Bestellung eines rechtlichen Betreuers zu beantragen. Für die Berufungsbegründung werde eine Frist bis zum 09.08.2000 gesetzt. Sollte er weitere Atteste beibringen, mögen diese durch einen Facharzt für Psychiatrie erstellt werden und nachvollziehbare Angaben jenseits allgemein benannter Diagnosen beinhalten; Atteste eines Allgemeinmediziners würden dann nicht mehr als ausreichend angesehen.

Der Kläger hat anschließend wiederum mehrfach (unter Vorlage diverser weiterer Atteste des Dr. I) eine Verlängerung der Frist zur Berufungsbegründung unter Hinweis auf weiterhin bestehende Arbeits- oder Verhandlungsunfähigkeit beantragt. Auf seine Schreiben vom 28.08.2020, 05.10.2020, 23. und 24.10.2020, 23.12.2020, 27.12.2020, 21.02.2021, 07.03.2021 und 05.07.2021 sowie auf darauf reagierende Schreiben des Senats vom 16.12.2020, 18.01.2021, 23.02.2021 und 06.09.2021 wird wegen der Einzelheiten Bezug genommen.

Mit Schreiben vom 06.07.2021 hat der Senat den Kläger darauf hingewiesen, dass ein von ihm gewünschtes Ruhen des Verfahrens nicht möglich sei, da die Beklagte es abgelehnt habe, ein solches zu beantragen. Ein weiteres Zuwarten könne nicht mehr akzeptiert werden. Ärztliche Bescheinigungen des behandelnden Allgemeinmediziners Dr. I seien über eine so lange Zeit nicht aussagekräftig, worauf der Kläger bereits mehrfach hingewiesen worden sei. Wenn er stattdessen ein detailliertes fachärztliches (insbes. psychiatrisches) Attest vorlegen könne, aus dem Diagnosen und Folgen für die Führung des Verfahrens nachvollziehbar zu entnehmen seien, möge er dies unverzüglich tun. Der Kläger sei bereits unter dem 10.06.2020 auf die Möglichkeit hingewiesen worden, die Bestellung eines Betreuers zu beantragen; mittlerweile möge dies naheliegen. Er sei stets in der Lage gewesen, Rechtsmittel fristgerecht einzulegen. Es sei kein Grund ersichtlich, dass er gehindert wäre, sein Berufungsverfahren nunmehr zu betreiben. Er werde deshalb aufgefordert, die Berufung unverzüglich zu begründen. Dabei möge er vorsorglich auch beantworten, seit wann genau er arbeitsunfähig und ggf. zwischenzeitlich wieder arbeitsfähig gewesen sei, ob die Krankentagegeldversicherung zwischenzeitlich Krankentagegeld nachgezahlt habe, ob und ggf. mit welchem Ergebnis er einen Rentenantrag gestellt habe und ob seine Gewerkschaft eine Vertretung im vorliegenden Fall abgelehnt habe. Es folgte ein Hinweis auf § 156 Abs. 2 Satz 1 SGG.

Mit Schreiben vom 01.10.2021 hat der Kläger ausgeführt, er begehre Alg ab dem 01.01.2018. Er habe mehrfach versucht, dies in persönlicher Vorsprache zu beantragen, sei aber bei der Beklagten stets an der Rezeption abgewiesen worden, weil er – da er sich Medikamente und Nahrungsergänzungsmittel nicht habe leisten können – arbeitsunfähig gewesen sei. Für weitere Ausführungen benötige er mehr Zeit, da es ihm gesundheitlich schlechter gehe als vor Wochen, zumal noch eine Katarakt-Operation ausstehe und sich eine depressive Episode durch den Tod seines Bruders verschlimmert habe. Er werde versuchen, sich durch seine Gewerkschaft vertreten zu lassen.

Der Senat hat beim Kläger unter dem 15.11.2021 angefragt, ob er mittlerweile zu seiner Gewerkschaft Kontakt aufgenommen habe. Er möge die im Schreiben der Beklagten vom 12.04.2018 genannten (vom Senat nochmals ausdrücklich aufgelisteten) Unterlagen bis zum 15.12.2021 vollständig vorlegen, damit die Beklagte in die Lage versetzt werde, über den Anspruch auf Alg zu entscheiden. Es erfolge zu gegebener Zeit eine Ladung zur mündlichen Verhandlung. Wenn der Kläger vorab eine Rechtsberatung bei seiner Gewerkschaft suchen wolle, möge es angebracht sein, dies zeitnah zu tun. Das Gericht warte nunmehr nicht weiter ab.

Auf die Ladung zur mündlichen Verhandlung hat der Kläger mit Schreiben vom 22.12.2022 mitgeteilt, seit Ende Oktober sei seine Mietwohnung wegen mangelhaften zweiten Rettungsweges von der Bauaufsicht gesperrt, ihm gehe es gesundheitlich sehr schlecht, und wegen eines fortgeschrittenen Katarakts, dessen Operation wegen seiner Versicherung immer noch nicht erfolgt sei, könne er noch schlechter sehen und seine Unterlagen nicht bearbeiten bzw. an sie gelangen. Er werde versuchen, sich im Laufe des Januar zu melden. Mit Schreiben vom 31.01.2022 hat er ergänzend ein Attest des Dr. I vom 04.01.2022 vorgelegt, wonach er zur Zeit und voraussichtlich bis zum 20.02.2022 verhandlungsunfähig sei. Er hat um Verschiebung des Verhandlungstermins auf die Zeit nach Juni 2022 gebeten. Der Senat hat ihm daraufhin (Schreiben vom 02.02.2022) mitgeteilt, dass es bei dem Termin am 21.02.2022 verbleibe. Mit Schreiben vom 15.02.2022 hat der Kläger nochmals um Verlegung des Verhandlungstermins auf die Zeit nach Juli 2022 gebeten und zwei Atteste des Dr. I vom 11.02.2022 über eine voraussichtlich bis zum 03.04.2022 bestehende Verhandlungs- bzw. Arbeitsunfähigkeit vorgelegt. Der Senat hat ihm daraufhin mitgeteilt, dass es bei dem Termin vom 21.02.2022 verbleibe. Mit Schreiben vom 17.02.2022 hat der Kläger um Aufhebung des Verhandlungstermins vom 21.02.2022 gebeten. Mit Schreiben vom 18.02.2022 hat er nochmals Terminsaufhebung beantragt; er habe an diesem Tag überraschend einen Scheidungsantrag seiner Ehefrau erhalten, was bei ihm „sofort wieder eine schwere depressive Episode ausgelöst“ habe.

Der Senat hat in der mündlichen Verhandlung vom 21.02.2022 darauf hingewiesen, dass der Bescheid vom 10.09.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.10.2018 aufzuheben sein dürfte, weil die Beklagte darin keinerlei Ermessen ausgeübt habe. Daraufhin hat die Beklagte in der mündlichen Verhandlung zu Protokoll des Senats diese Bescheide zurückgenommen.

Der Kläger, der in der mündlichen Verhandlung nicht erschienen und auch nicht vertreten gewesen ist, beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen sinngemäß,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Aachen vom 22.10.2019 zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 10.09.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.10.2018 zu verurteilen, ihm ab dem 01.01.2018 Alg nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Nach Zurücknahme des Bescheides vom 10.09.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.01.2018 in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hält sie die Berufung für unbegründet.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie des beigezogenen Verwaltungsvorgangs der Beklagten Bezug genommen. Der Inhalt war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

 

Entscheidungsgründe:

I. Der Senat konnte verhandeln und entscheiden, obwohl der Kläger nicht erschienen und nicht vertreten gewesen ist. Denn der Kläger ist rechtzeitig und ordnungsgemäß zum Termin geladen und dabei darauf hingewiesen worden, dass auch in seiner Abwesenheit verhandelt und entschieden werden könne (§§ 110 Abs. 1 Satz 2, 126 SGG). Auf seine Anträge vom 30.01. und 15.02.2022, den Termin zu verschieben, ist ihm zudem mitgeteilt worden, dass es bei dem Termin verbleibe. Anschließend durfte der Kläger nicht mehr davon ausgehen, dass der Termin in seiner Abwesenheit nicht durchgeführt werde. Weitere, nicht mit einer Unterschrift versehene Terminsaufhebungsanträge mit Telefax jeweils vom 17. und 18.02.2022 (Donnerstag bzw. Freitag) ändern daran nichts; der Kläger hat sich insoweit vor der auf Montag, den 21.02.2022 terminierten mündlichen Verhandlung für den Senat unerreichbar gemacht, weil er in jenen Schreiben darauf hingewiesen hat, selbst nicht per Telefax erreichbar zu sein. Er konnte im Anschluss an den vorausgegangenen Schriftverkehr mit dem Senat nicht davon ausgehen, dass der Termin nicht stattfinden werde. Das Übersenden seines Schreibens vom 18.02.2021 durch E-Mail an die Poststelle des Landessozialgerichts erfolgte erst am Terminstag. Keineswegs war der Kläger am Terminstag verhandlungsunfähig. Entsprechende Atteste seines behandelnden Arztes Dr. I, die er – auch im Zusammenhang mit der Terminsladung – über die gesamte Dauer des Verfahrens immer wieder vorgelegt hat, sind – worauf der Senat ihn mehrfach hingewiesen hat – nicht aussagekräftig. Anderweitige Atteste hat der Kläger trotz mehrfacher Hinweise des Senats hierzu nicht vorgelegt (siehe Entsprechendes auch noch sogleich zur Frage der Prozessfähigkeit).

II. Die Berufung des Klägers ist zulässig. Insbesondere ist sie wirksam erhoben worden.

Der (im Berufungsverfahren nicht mehr durch seine Ehefrau vertretene) Kläger ist insbesondere prozessfähig (zur Prozessfähigkeit als Prozesshandlungsvoraussetzung und damit auch als Voraussetzung zu einer wirksamen Berufungseinlegung vgl. Schmidt in Meyer-Ladewig u.a., SGG, 13. Auflage 2020, § 71 Rn. 3 m.w.N.).

1. Die Überzeugung des Senats von der Prozessfähigkeit des Klägers gründet sich darauf, dass dieser stets inhaltlich präzise und auf den Punkt kommend vorträgt, auch wenn er dabei eine inhaltliche Stellungnahme zu seinem Berufungsverfahren so gut wie durchgehend umgeht. Die vielfach vorgelegten Atteste seines behandelnden Allgemeinmediziners Dr. I reichen nicht aus, um eine Unfähigkeit des Klägers zur Betreibung seines Verfahrens über so lange Zeit glaubhaft erscheinen zu lassen. Denn immer, wenn es um die Einhaltung verfahrensrechtlich bedeutsamer Fristen ging – bei der Widerspruchs-, Klage- und Berufungsfrist wie auch bei der Betreibensfrist des § 156 Abs. 2 Satz 1 SGG – war der Kläger jeweils in der Lage, die Frist einzuhalten. Auch mit Blick auf die Ladung zur mündlichen Verhandlung vom 21.02.2022 konnte er (mehrfach) Stellung nehmen. Zwar hat er mehrfache Hinweise des Senats, er möge ggf. ein aussagekräftiges fachärztliches Attest beibringen, durchgehend ignoriert (ebenso wie die Bitte, die von der Beklagten zur Bearbeitung des Alg-Antrages erbetenen Unterlagen vorzulegen). Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang im Übrigen auch, dass der Kläger zwar vom Beginn des Verwaltungsverfahrens an bis heute das vorliegende Verfahren unter Hinweis auf gesundheitliche Schwierigkeiten nicht verständig fördert, jedoch (während des bereits laufenden Verwaltungsverfahrens) durchaus in der Lage war, persönlich im Termin vor dem Arbeitsgericht zu erscheinen, dort in einen Vergleich mit der R einzuwilligen und noch am gleichen Tag die Beklagte auf diesen Vergleich hinzuweisen.

III. Die Berufung des Klägers ist, nachdem die Beklagte den angefochtenen Versagensbescheid vom 10.09.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.10.2018 in der mündlichen Verhandlung aufgehoben hat, insgesamt unbegründet.

1. Die gegen den Bescheid vom 10.09.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.10.2018 geführte (reine) Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 SGG) ist unzulässig und die Berufung deshalb insoweit unbegründet geworden. Nach Aufhebung der vom Kläger angefochtenen Bescheide können diese keine Rechtswirkung mehr entfalten; deshalb ist der Kläger seither von vornherein nicht mehr i.S.d. § 54 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 SGG beschwert. Ohne eine solche Beschwer fehlt jedoch eine notwendige Prozessvoraussetzung (Keller in Meyer-Ladewig u.a., a.a.O., Vor § 51 Rn. 15).

2. Die vom Kläger mit dem Antrag, die Beklagte zur Gewährung von Alg ab dem 01.01.2018 zu verurteilen, zugleich verfolgte Leistungsklage war von Anfang an unzulässig. Denn die Beklagte hat mit dem – zwischenzeitlich aufgehobenen – Bescheid vom 10.09.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.10.2018 nicht über einen Alg-Anspruch des Klägers als solchen entschieden. Sie hat vielmehr einzig die Leistung wegen fehlender Mitwirkung des Klägers am Verwaltungsverfahren solange versagt (§ 66 SGB I), bis eine ausreichende Mitwirkung nachgeholt sei. Streitgegenstand eines solchen Rechtsstreits ist nicht der materielle Anspruch (hier: auf Alg), sondern allein die Auseinandersetzung über Rechte und Pflichten der Beteiligten im Verwaltungsverfahren (hier: das Fehlen der Erfüllung von Mitwirkungspflichten durch den Kläger). Daher kann im Wege der Klage gegen einen auf § 66 SGB I gestützten Versagensbescheid grundsätzlich auch nicht die Verpflichtung der Behörde zur Gewährung der beanspruchten Sozialleistung erstritten werden. § 66 SGB I normiert vielmehr einen eigenständigen Versagensgrund; die Anwendung der Vorschrift setzt von vornherein nicht voraus, dass die Anspruchsvoraussetzungen der geltend gemachten Sozialleistung nicht erfüllt sind (BSG, Urteil vom 12.10.2018 – B 9 SB 1/17 R Rn. 13 m.w.N.).

Eine Ausnahme von diesem Grundsatz, dass lediglich eine isolierte Anfechtung des Versagensbescheides statthaft ist, besteht im Falle des Klägers nicht. Für eine solche Ausnahme im Einzelfall werden Gründe der Prozessökonomie und des effektiven Rechtsschutzes angeführt. Eine zusätzliche Klage auf Leistungsgewährung ist danach ggf. zulässig, wenn die anderweitige Klärung der Leistungsvoraussetzungen zwischen den Beteiligten unstreitig ist oder vom Kläger behauptet wird (BSG, Urteil vom 01.07.2009 – B 4 AS 78/08 R Rn. 11 ff.). Beides trifft auf den Fall des Klägers ersichtlich nicht zu.

Ist die Leistungsklage des Klägers mithin unzulässig, so ist zugleich seine Berufung auch insoweit unbegründet.

3. Für eine gegen eine (etwa künftig erfolgende) Ablehnung eines Alg-Anspruches zulässige Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 4 SGG) fehlt es bisher an einem anfechtbaren Verwaltungsakt, welcher über einen Alg-Anspruch des Klägers als solchen bereits eine Entscheidung getroffen hätte.

IV. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und berücksichtigt, dass die Beklagte ihre vom Kläger angefochtene Versagensentscheidung erst in der mündlichen Verhandlung im Berufungsverfahren aufgehoben hat.

V. Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) bestehen nicht.

 

Rechtskraft
Aus
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