S 6 R 592/17

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Frankfurt (HES)
Sachgebiet
Rentenversicherung
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 6 R 592/17
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 2 R 266/18
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 5 R 291/21 B
Datum
Kategorie
Gerichtsbescheid

Die Klage wird abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.


Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Anerkennung von rentenrechtlichen Zeiten nach dem Sechsten Sozialgesetzbuch (SGB VI).

Der 1952 geborene Kläger hielt sich von September 1969 bis einschließlich September 1970 13 Monate in einem Heim des kirchlichen Heimträgers C. (Zweiganstalt D.) in K-Stadt (Niedersachsen) aufgrund einer Unterbringungsanordnung des zuständigen Jugendamtes auf. Während des Aufenthalts musste der Kläger für den Heimträger u.a. Torf stechen. Der Heimträger bot Berufsschulunterricht an (vgl. Bl. 22 d. Gerichtsakte).

Der Kläger erhielt ab 1. Januar 1986 durchgehend eine Rente wegen Erwerbsminderung. 

Der Kläger beantragte am 26. April 2017 die Regelaltersrente. Im Versicherungsverlauf bestand vom 16. August 1969 bis 30. September 1970 kein Eintrag zu einer Pflichtversicherung. Mit Bescheid vom 6. Juni 2017 wurde dem Kläger eine Altersrente bewilligt.

Hiergegen erhob der Kläger am 3. Juli 2017 Widerspruch und trug vor, dass die Zeit von September 1969 bis September 1970 nicht als rentenversicherungsrechtliche Zeit berücksichtigt worden sei.

Mit Schreiben vom 4. Juli 2017 wurde dem Kläger von der Beklagten mitgeteilt, dass für die Zeiten keine rentenrechtlichen Zeiten berücksichtigt werden könnten. Es handele sich bei ihm um ein ehemaliges Heimkind. Nach damaliger Anschauung sei das Prinzip der Erziehung durch Arbeit vorherrschend gewesen. Heimkinder hätten nicht in einem auf den freien Austausch von Arbeit und Lohn gerichteten Verhältnis gestanden. Der Kläger erwiderte daraufhin, dass das Bundesverfassungsgericht 1972 (Beschluss vom 14. März 1972; Az. 2 BvR 41/71) entschieden habe, dass die Grundrechte von Strafgefangenen nur durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden dürfe.

Mit Widerspruchsbescheid vom 19. Oktober 2017 wurde der Widerspruch als unbegründet zurückgewiesen. Rentenrechtliche Zeiten ergäben sich aus § 54 Abs. 1 SGB VI. Beitragszeiten aus § 55 Abs. 1 S. 1 SGB VI. Danach seien Pflichtbeitragszeiten auch solche Zeiten, für die zwar kein Beitrag gezahlt worden sei, für die Pflichtbeiträge nach besonderen Vorschriften jedoch als gezahlt gelten. Die von ehemaligen Heimkindern geleistete Arbeit könne nicht als rentenrechtliche Beitragszeit nach § 50 Abs. 1 SGB VI angerechnet werden. Vom Heim seien keine Beiträge gezahlt worden, auch habe kein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis im Sinne des § 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI vorgelegen. Denn es habe sich nicht um ein freiwilliges Beschäftigungsverhältnis gehandelt. Heimkindern sei es nicht möglich gewesen, nicht zu arbeiten. Die im Rahmen der Unterbringung erbrachten Leistungen, wie Kost und Logis, stellten kein beitragspflichtiges Arbeitsentgelt dar.

Hiergegen hat der Kläger am 6. November 2017 Klage am Sozialgericht Frankfurt am Main erhoben.

Der Kläger trägt vor, dass die rechtswidrige Einschränkung von Grundrechten jenseits des allgemeinen Arbeitsrechts nicht berücksichtigt worden seien. Es habe sich bei dem Heim um eine Haftanstalt mit organisierter Zwangsarbeit gehandelt. Er sei wie eine Person in einem Ghetto im Dritten Reich zu behandeln.

Der Kläger beantragt wörtlich,

1)    festzustellen, dass die Monate September 1969 bis September 1970 als Beitragszeiten gelten;

2)    festzustellen, dass die Beitragszeit von September 1969 bis September 1970 bereits 1984 bei der Berechnung bzw. Bewilligung der Erwerbsunfähigkeitsrente hätte berücksichtigt werden müssen;

3)    festzustellen, dass es in der C.-ler Anstalt D. Zwangsarbeit gegeben habe.

Mit Schriftsatz vom 5. Februar 2018 hat der Kläger seine Klage dahingehend erweitert,

4)    den Rentenbescheid bezüglich der Erwerbsminderungsrente von 1984 zu überprüfen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich hinsichtlich ihres Vortrags auf die Ausführungen im Bescheid und Widerspruchsbescheid.

Mit Schreiben vom 17. Mai 2018 hat das Gericht die Beteiligten darauf hingewiesen, dass nach § 105 Sozialgerichtsgesetz (SGG) die Möglichkeit der Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid besteht, wenn der Sachverhalt keine Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweise. Das Gericht hat ferner mitgeteilt, dass es beabsichtige, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen und den Beteiligten eine Frist zur Stellungnahme von zwei Wochen gesetzt. Das Schreiben ist der Beklagten am 5. Juni, dem Kläger am 6. Juni 2018 zugestellt worden

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten ergänzend Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Der Rechtstreit konnte gemäß § 105 Abs. 1 S. 1 SGG nach Anhörung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entschieden werden, da die Streitsache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist.

Die Klage hat insgesamt keine Aussicht auf Erfolg.

Der Klageantrag zu 1) war zunächst auslegungsbedürftig. 

Das Gericht entscheidet gemäß § 123 SGG über die vom Kläger erhobenen Ansprüche, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein. Bei der Auslegung ist der für das Gericht und die anderen Beteiligten erkennbare Klagevortrag einschließlich der Verwaltungsvorgänge heranzuziehen (vgl. Schmidt in: Meyer-Ladewig et. al., SGG, 12. Aufl. 2017, § 92 Rn. 12 m.w.N.). Es gilt der sog. Grundsatz der Meistbegünstigung. Zur Bezeichnung genügt damit im Wesentlichen das, was für die Abgrenzung des Streitgegenstandes ausreicht. Dabei ist unter Streitgegenstand der prozessuale Anspruch zu verstehen, nämlich das vom Kläger auf Grund eines bestimmten Sachverhalts an das Gericht gerichtete Begehren der im Klageantrag bezeichneten Entscheidung (vgl. Schmidt in: Meyer-Ladewig et. al., SGG, 12. Aufl. 2017, § 95 Rn. 4 und § 99 Rn. 2).

Nach diesen Grundsätzen begehrt der Kläger eine Altersrente, bei deren Berechnung der Zeitraum von September 1969 bis September 1970 als rentenrechtliche Beitragszeiten berücksichtigt werden. Dieses Klageziel kann er mit einer Anfechtung des Rentenbescheids einerseits und einer Leistungsklage bzgl. einer derart berechneten Altersrente erreichen. Streitgegenständlich hinsichtlich des Klageantrags zu 1) ist daher der Bescheid vom 6. Juni 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. Oktober 2017, den der Kläger mit einer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage nach §§ 54 Abs. 1 und 4, 56 SGG angreift.

Die so verstandene Klage zu 1) ist unbegründet.

Der Kläger hat keinen Anspruch auf eine Rente, bei deren Berechnung der Zeitraum von September 1969 bis September 1970 als rentenrechtliche Zeiten anerkannt werden. Der Bescheid vom 6. Juni 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. Oktober 2017 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

Einzig strittig ist die Feststellung rentenrechtlicher Zeiten im Zeitraum von September 1969 bis September 1970, im Übrigen wendet sich der Kläger nicht gegen die bewilligte Altersrente. Auch bestehen diesbezüglich keine rechtlichen Bedenken.

Rentenrechtliche Zeiten sind nach § 54 Abs. 1 SGB VI Beitragszeiten (Nr. 1), entweder als Zeiten mit vollwertigen Beiträgen (a) oder als beitragsgeminderte Zeiten (b), beitragsfreie Zeiten (Nr. 2) und Berücksichtigungszeiten (Nr. 3).

Der Zeitraum von September 1969 bis September 1970 im Heim C. stellte keine rentenrechtliche Zeit in diesem Sinn dar. Für diese Zeiten sind weder freiwilligen Beiträge, § 55 Abs. 1 S. 1 2. Var. SGB VI, noch Beiträge nach Bundesrecht, § 55 Abs. 1 S: 1 1. Var. SGB VI, geleistet worden. Mangels Meldung eines Beschäftigungsverhältnisses greift zudem die Vermutung gezahlter Beiträge nach § 199 Abs. 1 SGB VI nicht ein.

Die Vermutungsregelung des § 203 SGB VI greift ebenfalls nicht ein.

Machen Versicherte glaubhaft, dass sie eine versicherungspflichtige Beschäftigung gegen Arbeitsentgelt ausgeübt haben und für diese Beschäftigung entsprechende Beiträge gezahlt worden sind, ist die Beschäftigungszeit nach § 203 SGB VI als Beitragszeit anzuerkennen. Machen Versicherte glaubhaft, dass der auf sie entfallende Beitragsanteil vom Arbeitsentgelt abgezogen worden ist, so gilt der Beitrag nach dessen Absatz 2 als gezahlt.

Hierfür fehlt es an einer Zahlung von Arbeitsentgelt an den Kläger. Dieser hat vielmehr selbst vorgetragen, dass er kein Arbeitsentgelt erhalten habe. Vielmehr sei die Weigerung der Arbeit durch körperliche Züchtigung durch die Erzieher bestraft worden. Die einzige Leistung, die der Kläger durch das Heim erhalten hat, waren Nahrung und Unterkunft, Kleidung und sonstige Gegenstände des täglichen Lebens. Zudem fehlt es an einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit, dass von diesen „Gegenleistungen“ Beiträge an die Rentenversicherung für die jeweils untergebrachte Person abgeführt worden sind. Vielmehr wurde die Arbeit der Kinder in den Heimen zur damaligen Zeit als nicht versicherungspflichtig angesehen (vgl. LSG Baden-Württemberg Urt. v. 24.2.2017 – L 8 R 1261/16).

Die Beweiserleichterung des § 286 Abs. 5 SGB VI kommt ebenfalls nicht in Betracht. Machen Versicherte für Zeiten vor dem 1. Januar 1973 glaubhaft, dass sie eine versicherungspflichtige Beschäftigung gegen Arbeitsentgelt ausgeübt haben, die vor dem Ausstellungstag der Versicherungskarte liegt oder nicht auf der Karte bescheinigt ist, und für diese Beschäftigung entsprechende Beiträge gezahlt worden sind, ist die Beschäftigungszeit als Beitragszeit anzuerkennen. Beide Merkmale sind hierbei durch den Versicherten glaubhaft zu machen (vgl. LSG Bayern Urt. v. 28.1.2009 – L 13 R 610/08; LSG NRW Urt. v. 22.5.2013 – L 18 KN 52/10). 

Es fehlt bereits an der Glaubhaftmachung der Ausübung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung. Der 17 bzw. 18 Jahre alte Kläger war auf der Grundlage des Jugendwohlfahrtsgesetzes 1961 in dem Kinderheim C. ohne seine Zustimmung untergebracht worden. In der damals vorherrschenden Meinung diente diese Erziehung dazu, den Minderjährigen zu einem brauchbaren und ordentlichen Menschen zu erziehen, in erster Linie, ihn zu gewissenhafter und regelmäßiger Arbeitsleistung anzuhalten (BSG Urt. v. 30.1.1975 – 2 RU 200/72). Die Unterbringung umfasste Erziehung und Ertüchtigung für ein späteres selbständiges Leben. Als „Ersatzfamilie“ wurden dem Kläger die für das Leben notwendigen Dinge, neben Unterkunft und Verpflegung u.a. Kleidung, zur Verfügung gestellt. Zudem wurde eine Schulausbildung angeboten (vgl. LSG Baden-Württemberg Urt. v. 24.2.2017 – L 8 R 1261/16). Der Kläger hat selbst vorgetragen, dass die Berufsschulausbildung grundsätzlich angeboten wurde, wenn auch durch einen Lehrer, und er an diesem Unterricht grundsätzlich teilgenommen hat.

Glaubhaft ist, dass der Kläger durch den Heimträger zu Arbeiten herangezogen wurde, die über Haushaltsmithilfe hinausging. Diese stellt jedoch keine versicherungspflichtige Beschäftigung dar. Das Gericht schließt sich der ausführlichen Begründung des LSG Baden-Württemberg in dessen Urteil vom 24. Februar 2017 (L 8 R 1261/16) insoweit an. Zwischen dem der staatlichen Fürsorge unterstellten Minderjährigen und der Unterbringungsanstalt fehlt es an einem auf freiwilliger Entscheidung beruhenden Arbeitsverhältnis. Insbesondere fehlt es an einem Arbeitsentgelt als Gegenleistung für die geleistete Arbeit, da die durch das Heim gewährten Leistungen (Kost, Logis, Gegenstände des Alltags) auch dann angefallen wären, wenn der Kläger sich geweigert hätte, die aufgetragenen Arbeiten auszuführen (vgl. zudem LSG Baden-Württemberg Urt. v. 9.6.2005 – L 12 R 2441/04).

Die Klageanträge zu 2) bis 4) sind bereits unzulässig.

Für die Klageanträge zu 2) und 3) fehlt es am besonderen Feststellungsinteresse i.S.d. § 55 Abs. 1 SGG.

Die mit dem Klageantrag zu 2) begehrte Feststellung, dass bereits bei Bewilligung der Erwerbsminderungsrente der streitgegenständliche Zeitraum als rentenversicherungsrechtlich relevante Zeiten hätte Berücksichtigung finden müssen, deckt sich mit dem Begehr des Klägers, welches im Klageantrag zu 4) ausgedrückt wird, den Rentenbescheid bzgl. der Bewilligung der Erwerbsminderungsrente 1984 zu überprüfen. Die Überprüfung dieses Bescheids ist der einfachere Weg, die vom Kläger begehrte Feststellung zu erreichen.

Das Feststellungsbedürfnis fehlt ebenso hinsichtlich des Klageantrags zu 3). Denn ob Zwangsarbeit vorlag, war bereits inzident im Klageantrag zu 1) bzgl. der Rechtmäßigkeit der Rentenbewilligung und der damit festgestellten Rentenzeiten zu prüfen.

Der Klageantrag zu 4) ist unzulässig, da der Rentenbescheid bzgl. der Bewilligung der Erwerbsminderungsrente 1984 bestandskräftig geworden ist. Ein weiteres Verwaltungsverfahren zur Überprüfung des Rentenbescheids nach § 44 Zehntes Sozialgesetzbuch ist nicht durchgeführt worden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens.

Das zulässige Rechtsmittel der Berufung folgt aus §§ 143 ff. SGG.
 

Rechtskraft
Aus
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