Auf die Revisionen der Kläger werden die Urteile des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 19. Dezember 2017 und des Sozialgerichts Trier vom 14. April 2016 sowie der Bescheid des Beklagten vom 18. März 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. April 2015 aufgehoben. Der Beklagte wird verpflichtet, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats über den Antrag vom 12. März 2015 auf Alg II bzw Sozialgeld endgültig zu entscheiden.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
G r ü n d e :
I
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Im Streit sind Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für April bis September 2015.
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Die Klägerin (geboren 1988) und der Kläger zu 2 (geboren 1972) sind die Eltern des 2007 geborenen Klägers zu 3 und des 2011 geborenen Klägers zu 4. Alle sind l Staatsangehörige. Die Kläger zu 1 bis 3 hielten sich ab Juli 2010 in Deutschland auf, der Kläger zu 4 ist in Deutschland geboren. Der Kläger zu 3 wurde im August 2013 eingeschult und besuchte fortlaufend die Grundschule. Ab Oktober 2016 wohnten die Kläger wieder in L.
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Die Klägerin war vom 23.6. bis 30.9.2014 bei einer Gebäudereinigungsfirma sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Für die Kinder wurde monatliches Kindergeld von je 186 Euro an den Kläger zu 2 gezahlt. Das beklagte Jobcenter bewilligte Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für die Zeit vom 1.8.2014 bis 31.3.2015.
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Den Antrag (vom 12.3.2015) auf Bewilligung von Leistungen ab 1.4.2015 lehnte der Beklagte ab (Bescheid vom 18.3.2015; Widerspruchsbescheid vom 27.4.2015); der Arbeitnehmerstatus der Klägerin sei, ausgehend vom unfreiwilligen Ende ihrer Beschäftigung zum 30.9.2014, am 31.3.2015 erloschen. Während des laufenden Widerspruchsverfahrens verpflichtete das SG den Beklagten auf einen Eilantrag hin, den Klägern vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts vom 1.4. bis 30.9.2015 in gesetzlicher Höhe zu gewähren (Beschluss des SG vom 14.4.2015), was der Beklagte auch umsetzte (zwei Bescheide vom 17.4.2015).
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Die Klage ist ohne Erfolg geblieben (Urteil des SG vom 14.4.2016; Urteil des LSG vom 19.12.2017). Die Kläger seien nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II (in der bis einschließlich 28.12.2016 geltenden Fassung, künftig: aF) von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen, denn ihr Aufenthaltsrecht ergebe sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche. Der Klägerin habe aus ihrer Beschäftigung bis 30.9.2014 nur ein nachwirkendes Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmerin nach § 2 Abs 2 Nr 1 iVm Abs 3 Satz 2 FreizügG/EU für die Dauer von sechs Monaten, also bis 31.3.2015. Der Kläger zu 2 sei in der Bundesrepublik noch nie erwerbstätig gewesen, sodass auch er allenfalls zur Arbeitsuche freizügigkeitsberechtigt gewesen sei. Folglich unterfielen auch die Kläger zu 3 und 4 als Familienangehörige dem Ausschlusstatbestand des § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II aF. Das Aufenthaltsrecht des Klägers zu 3 wegen des Schulbesuchs nach Art 10 VO (EU) Nr 492/2011 begründe kein eigenständiges, davon abgeleitetes Aufenthaltsrecht der Klägerin und der Kläger zu 2 und 4. Dies habe der Gesetzgeber mit der Neufassung des § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II durch das Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II und nach dem SGB XII vom 22.12.2016 (BGBl I 3155) bekräftigt. Leistungsansprüche nach § 23 SGB XII seien ebenfalls ausgeschlossen. Der entgegenstehenden Rechtsprechung des BSG vermöge man sich nicht anzuschließen.
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Mit ihren vom LSG zugelassenen Revisionen rügen die Kläger ua eine Verletzung von Art 10 VO (EU) Nr 492/2011. Der EuGH habe, nachdem das Verfahren vor dem BSG deshalb ausgesetzt gewesen sei, mittlerweile entschieden (vgl EuGH vom 6.10.2020 - C 181/19 - EU:C:2020:794 = ZESAR 2021, 43), dass Art 7 Abs 2 und Art 10 VO (EU) Nr 492/2011 einer Regelung wie § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 Buchst c SGB II in der Normfassung des Gesetzes vom 22.12.2016 entgegenstünden, nach der ein Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats und seine minderjährigen Kinder, die alle im Aufenthaltsstaat ein Aufenthaltsrecht aufgrund von Art 10 VO (EU) Nr 492/2011 genießen, weil die Kinder dort die Schule besuchen, unter allen Umständen automatisch vom Anspruch auf Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts ausgeschlossen seien. Hilfsweise rügen die Kläger einen Verstoß gegen die §§ 21, 23 SGB XII. Selbst wenn sie von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen wären, würde nach ständiger Rechtsprechung des BSG ein Anspruch auf Ermessensleistungen nach § 23 Abs 1 Satz 3 SGB XII aF bestehen.
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Die Kläger beantragen, |
unter Aufhebung der Urteile des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 19. Dezember 2017 und des Sozialgerichts Trier vom 14. April 2016 und des Bescheids des Beklagten vom 18. März 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. April 2015 den Beklagten zu verpflichten, ihnen Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum vom 1. April bis 30. September 2015 zu gewähren, |
hilfsweise, |
unter Aufhebung der Urteile des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 19. Dezember 2017 und des Sozialgerichts Trier vom 14. April 2016 den Beigeladenen zu verurteilen, Sozialhilfe für den Zeitraum vom 1. April bis 30. September 2015 zu gewähren. |
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Der Beklagte beantragt,
die Revisionen zurückzuweisen.
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Die Kläger könnten sich nicht auf ein Aufenthaltsrecht aus Art 10 VO (EU) Nr 492/2011 berufen. Denn die Klägerin sei weder zum Zeitpunkt der Wohnsitznahme in der Bundesrepublik noch der Einschulung des Klägers zu 3 Wanderarbeitnehmerin in Deutschland gewesen. Dies unterscheide den vorliegenden Sachverhalt von dem der EuGH-Entscheidung vom 6.10.2020 zugrundeliegenden als auch der Entscheidung des BSG vom 27.1.2021 (B 14 AS 42/19 R).
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Der Beigeladene hat sich nicht zum Verfahren geäußert und keinen Antrag gestellt.
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Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
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Die Revisionen der Kläger, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs 2 SGG), sind begründet (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG). Den Klägern stehen im streitbefangenen Zeitraum die bereits vorläufig bewilligten Leistungen (Alg II/Sozialgeld) endgültig zu; ein Leistungsausschluss besteht nicht.
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1. Gegenstand des Verfahrens sind neben den vorinstanzlichen Entscheidungen nur der Bescheid vom 18.3.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.4.2015, mit dem der Beklagte einen Anspruch der Kläger auf Alg II/Sozialgeld wegen eines nach § 7 Abs 1 Satz 2 SGB II aF bestehenden Leistungsausschlusses abgelehnt hat. Nicht nach § 86 SGG Gegenstand des Widerspruchs- und damit auch nicht des Klageverfahrens geworden sind hingegen die Bescheide vom 17.4.2015, mit denen der Beklagte die Entscheidung des SG im vorläufigen Rechtsschutz umgesetzt hat (sog Ausführungsbescheide; zur vergleichbaren Fallkonstellation vgl nur BSG vom 3.12.2015 ‑ B 4 AS 44/15 R ‑ BSGE 120, 149 = SozR 4‑4200 § 7 Nr 43, RdNr 12). Dass der Beklagte die Bescheide formal auf § 40 Abs 2 SGB II iVm § 328 SGB III gestützt hat, ist unschädlich. Denn nach ihrem eindeutigen Erklärungsgehalt wollte der Beklagte keine eigenständige Regelung treffen, sondern ausdrücklich nur die Entscheidung des SG ausführen. Dies folgt aus der Auslegung der Bescheide anhand des objektiven Empfängerhorizonts, zu der das BSG als Revisionsgericht befugt ist (dazu eingehend BSG vom 25.10.2017 ‑ B 14 AS 9/17 R ‑ SozR 4‑1300 § 45 Nr 19 RdNr 21 ff).
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2. Verfahrenshindernisse stehen einer Sachentscheidung des Gerichts nicht entgegen. Ihren Anspruch auf Alg II/Sozialgeld verfolgen die Kläger zutreffend mit der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1, § 56 SGG), weil sie die begehrte Leistung vom Beklagten im Ergebnis eines einstweiligen Rechtsschutzverfahrens bereits erhalten haben und keinen Anspruch auf höhere Leistungen geltend machen, der mit der (kombinierten) Leistungsklage zu verfolgen wäre. Mit der Verpflichtung zum Erlass eines Verwaltungsakts wird zugunsten der Kläger ein Rechtsgrund für das Behaltendürfen dieser Leistungen geschaffen; denn die einstweilige Anordnung verliert mit der endgültigen Entscheidung ihre Rechtswirkungen (BSG vom 3.12.2015 ‑ B 4 AS 49/14 R ‑ juris RdNr 14 mwN; BSG vom 9.12.2016 ‑ B 8 SO 8/15 R ‑ BSGE 122, 154 = SozR 4‑3500 § 53 Nr 5, RdNr 17; BSG vom 18.7.2019 ‑ B 8 SO 4/18 R ‑ SozR 4‑3500 § 54 Nr 19 RdNr 11). Der Anspruch der Kläger ist auch zulässigerweise auf den Erlass eines Grundurteils gerichtet, das auch bei einer kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage statthaft sein kann, wenn im Streit lediglich das Behaltendürfen einer bereits erbrachten Leistung steht (vgl zur vergleichbaren Situation der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage bei Klage auf zuschussweise statt darlehensweiser Leistung BSG vom 9.12.2016 ‑ B 8 SO 15/15 R ‑ SozR 4‑3500 § 90 Nr 8 RdNr 16; vgl auch BSG vom 12.9.2018 ‑ B 4 AS 39/17 R ‑ BSGE 126, 294 = SozR 4‑4200 § 41a Nr 1, RdNr 11).
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3. Rechtsgrundlage für den Anspruch auf Alg II/Sozialgeld sind §§ 7 ff, 19 ff SGB II in der Fassung, die das SGB II durch die Bekanntmachung der Neufassung des Zweiten Buches vom 13.5.2011 (BGBl I 850) erhalten hat (Geltungszeitraumprinzip, vgl BSG vom 19.10.2016 ‑ B 14 AS 53/15 R ‑ SozR 4‑4200 § 11 Nr 78 RdNr 14 f). Insbesondere lässt sich dem Gesetz vom 22.12.2016 nicht entnehmen, dass es sich Geltung für die Zeit vor seinem Inkrafttreten am 29.12.2016 beimisst (dazu zuletzt BSG vom 27.1.2021 ‑ B 14 AS 42/19 R ‑ RdNr 10 mwN).
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4. Die Kläger erfüllten im streitbefangenen Zeitraum die allgemeinen Leistungsvoraussetzungen nach dem SGB II (dazu 5.). Sie sind nicht nach § 7 Abs 1 Satz 2 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen, weil sie sich auf ein Aufenthaltsrecht aus Art 10 VO (EU) Nr 492/2011 berufen konnten (dazu 6.). Der Kläger zu 3 besuchte die Schule und die Klägerin war nach europarechtlichen Maßstäben Arbeitnehmerin (dazu 7.). Auch die weiteren Voraussetzungen aus Art 10 VO (EU) Nr 492/2011 lagen vor (dazu 8.).
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5. Nach § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II aF erhalten Leistungen nach diesem Buch Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht haben, erwerbsfähig und hilfebedürftig sind und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Leistungsberechtigte). Die erwerbsfähige Klägerin und der Kläger zu 2 hatten das 15. Lebensjahr vollendet, die Altersgrenze des § 7a SGB II noch nicht erreicht und hatten nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des LSG ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Die Kläger zu 3 und 4 können als minderjährige, dem Haushalt der Klägerin und des Klägers zu 2 angehörende Kinder Ansprüche auf Sozialgeld haben (§ 7 Abs 3 Nr 4, § 19 Abs 1 Satz 2, § 23 SGB II). Die Kläger waren auch hilfebedürftig, denn sie verfügten nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des LSG mit Ausnahme des für die Kläger zu 3 und 4 an den Kläger zu 2 gezahlten Kindergelds weder über Einkommen noch Vermögen.
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6. Nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II aF sind "ausgenommen" ‑ also keine leistungsberechtigten Personen iS des § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II und § 7 Abs 2 SGB II und ohne Leistungsberechtigung nach dem SGB II ‑ Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen. Von diesem Leistungsausschluss umfasst sind erst recht die Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten der EU, die keine deutsche Staatsangehörigkeit besitzen (EU-Ausländer) und nicht über eine materielle Freizügigkeitsberechtigung nach dem FreizügG/EU oder ein Aufenthaltsrecht nach dem AufenthG verfügen. Bereits das Vorliegen der Voraussetzungen für ein mögliches anderes bzw bestehendes Aufenthaltsrecht als ein solches aus dem Zweck der Arbeitsuche hindert sozialrechtlich die positive Feststellung eines Aufenthaltsrechts "allein aus dem Zweck der Arbeitsuche" iS von § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II aF bzw lässt den Leistungsausschluss "von vornherein" entfallen (vgl zuletzt BSG vom 27.1.2021 ‑ B 14 AS 42/19 R ‑ RdNr 15 mwN).
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Ein Aufenthaltsrecht nach Art 10 VO (EU) Nr 492/2011 steht in diesem Sinne einem Leistungsausschluss entgegen (BSG vom 3.12.2015 ‑ B 4 AS 43/15 R ‑ BSGE 120, 139 = SozR 4‑4200 § 7 Nr 46, RdNr 27; BSG vom 27.1.2021 ‑ B 14 AS 25/20 R ‑ SozR 4‑4200 § 7 Nr 59; BSG vom 27.1.2021 ‑ B 14 AS 42/19 R, juris; EuGH vom 6.10.2020 ‑ C‑181/19 ‑ EU:C:2020:794 = ZESAR 2021, 43 zu § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 Buchst c SGB II idF vom 22.12.2016, BGBl I 3155). Nach Art 10 VO (EU) Nr 492/2011 können Kinder eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats (hier L), der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats (hier in der Bundesrepublik Deutschland) beschäftigt ist oder beschäftigt gewesen ist, wenn sie im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats wohnen, unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats am allgemeinen Unterricht teilnehmen. Dieses Recht auf Gleichbehandlung hinsichtlich des Zugangs zur weiteren Teilnahme am Unterricht (vgl EuGH vom 6.10.2020 ‑ C‑181/19 ‑ EU:C:2020:794 = ZESAR 2021, 43, RdNr 35) vermittelt sowohl den Kindern als auch den sie betreuenden Elternteilen ein materielles Aufenthaltsrecht (vgl im Einzelnen BSG vom 3.12.2015 ‑ B 4 AS 43/15 R ‑ BSGE 120, 139 = SozR 4‑4200 § 7 Nr 46, RdNr 27, 29 ff; zuletzt zusammenfassend BSG vom 27.1.2021 ‑ B 14 AS 25/20 R ‑ SozR 4‑4200 § 7 Nr 59 und B 14 AS 42/19 R, juris). Das Recht knüpft an den Arbeitnehmerstatus eines Elternteils an, reicht aber zeitlich über die Beschäftigung hinaus. Mit dem Erfordernis der (früheren) Beschäftigung verweist Art 10 VO (EU) Nr 492/2011 auf den Arbeitnehmerbegriff des Art 45 AEUV, wovon auch der EuGH ausgeht (EuGH vom 6.10.2020 ‑ C‑181/19 ‑ EU:C:2020:794 = ZESAR 2021, 43, RdNr 35 ff) und was sich im Übrigen aus der zu Art 10 gehörenden Abschnittsüberschrift und dem Sinn und Zweck der VO (EU) Nr 492/2011 ergibt, das Ziel der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu erreichen (Erwägungsgrund Nr 3 der VO <EU> Nr 492/2011).
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7. Die Klägerin war während ihrer von Juni bis September 2014 ausgeübten versicherungspflichtigen Beschäftigung nach europarechtlichen Maßstäben Arbeitnehmerin. Der freizügigkeitsrechtliche Begriff des Arbeitnehmers ist als autonomer Begriff des Gemeinschaftsrechts unionsrechtlich zu bestimmen (EuGH vom 23.3.1982 ‑ C‑53/81 ‑ Levin, EU:C:1982:105, Slg 1982, 1035 RdNr 11 = NJW 1983, 1249; zur Bedeutung dieses Begriffs und dem der Beschäftigung in anderen Regelungszusammenhängen vgl nur Fuchs in Fuchs, Europäisches Sozialrecht, 7. Aufl 2018, Teil 1, Art 45‑48 AEUV RdNr 10; Steinmeyer in Franzen/Gallner/Oetker, Kommentar zum europäischen Arbeitsrecht, 4. Aufl 2022, Art 45 AEUV RdNr 10 ff; zum Arbeitnehmerbegriff auch Junker, EuZA 2016, 184, 188 ff; Wank, EuZA 2018, 327 ff; Benecke, EuZA 2018, 3 ff) und nicht eng auszulegen (EuGH vom 21.2.2013 ‑ C‑46/12, EU:C:2013:97, RdNr 39 mwN); er muss mit dem jeweiligen mitgliedstaatlichen Arbeitnehmerbegriff nicht übereinstimmen (Steinmeyer aaO RdNr 10). In Abgrenzung zu Nichterwerbstätigen (dazu Junker, EuZA 2016, 184, 188, 192) ist jeder als "Arbeitnehmer" iS von Art 45 AEUV anzusehen, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen. Das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht nach dieser Rechtsprechung darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält (EuGH vom 23.3.2004 ‑ C‑138/02 ‑ Collins, EU:C:2004:172 = ZESAR 2004, 490 RdNr 26; EuGH vom 7.9.2004 ‑ C‑456/02 ‑ Trojani, EU:C:2004:488 = NZA 2005, 757 RdNr 15; EuGH vom 3.5.2012 ‑ C‑337/10 ‑ Neidel, EU:C:2012:263 = NVwZ 2012, 688 RdNr 23; EuGH vom 19.6.2014 ‑ C‑507/12 ‑ Saint Prix, EU:C:2014:2007 = NZA 2014, 765 RdNr 33 f; EuGH vom 1.10.2015 ‑ C‑432/14 ‑ Bio Philippe, EU:C:2015:643 = ZESAR 2016, 222 RdNr 22).
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Die Klägerin war nach den Feststellungen des LSG vom 23.6. bis 30.9.2014 sozialversicherungspflichtig bei einem Glas- und Gebäudereinigungsunternehmen beschäftigt gewesen; Gesichtspunkte, die gegen einen Arbeitnehmerstatus sprechen könnten, hat das LSG nicht mitgeteilt. Auch der Beklagte ist, wie die Bewilligung von Alg II/Sozialgeld für die Zeit ab 1.10.2014 zeigt, offenbar vom Arbeitnehmerstatus ausgegangen.
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8. Die Kläger erfüllten auch die weiteren Voraussetzungen für ein Aufenthaltsrecht aus Art 10 VO (EU) Nr 492/2011. Der Kläger zu 3 besuchte ab August 2013 durchgehend die Grundschule und damit auch in der Zeit, in der die Klägerin als Arbeitnehmerin tätig war. Die Klägerin sowie der Kläger zu 2 nahmen die elterliche Sorge für ihre Kinder tatsächlich wahr. Anders als der Beklagte meint, setzt das Aufenthaltsrecht aus Art 10 VO (EU) Nr 492/2011 weder voraus, dass die Klägerin im Zeitpunkt der Einschulung des Klägers zu 3 oder gar zum Zeitpunkt der Wohnsitznahme in Deutschland Arbeitnehmerin war. Schon der Wortlaut des Art 10 VO (EU) Nr 492/2011, wonach auch Kinder ehemaliger Wanderarbeitnehmer Rechte aus der Verordnung ableiten können, spricht gegen das Verständnis des Beklagten. Dies hat auch der EuGH betont, wenn er ausführt, dass Art 10 VO (EU) Nr 492/2011 dem Kind im Zusammenhang mit dessen Anspruch auf Zugang zum Unterricht ein eigenständiges Aufenthaltsrecht einräumt, das nicht davon abhängig ist, dass der Elternteil oder die Eltern, die die elterliche Sorge für sie wahrnehmen, weiterhin Wanderarbeitnehmer im Aufnahmemitgliedstaat sind. Ebenso wenig hat der Umstand, dass der betreffende Elternteil nicht mehr Wanderarbeitnehmer ist, Auswirkungen auf dessen Aufenthaltsrecht nach Art 10 VO (EU) Nr 492/2011, das demjenigen des Kindes entspricht, für das er die elterliche Sorge tatsächlich wahrnimmt (EuGH vom 6.10.2020 ‑ C‑181/19 ‑ EU:C:2020:794 = ZESAR 2021, 43 RdNr 37).
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Keiner der vom Beklagten benannten Entscheidungen des EuGH kann Gegenteiliges entnommen werden. Der EuGH führte in der Entscheidung vom 23.2.2010 (C‑480/08 ‑ Teixeira, EU:C:2010:83 = NVwZ 2010, 887 ‑ RdNr 67) unter Berufung auf die Entscheidung Baumbast (EuGH vom 17.9.2002 - C-413/99, EU:C:2002:493 = NJW 2002, 3610) im Gegenteil aus, dass das Recht zum Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat, das der Elternteil genießt, dem die elterliche Sorge für ein Kind eines Wanderarbeitnehmers tatsächlich zukommt, während das Kind eine Ausbildung in diesem Staat absolviert, nicht von der Voraussetzung abhängt, dass einer der Elternteile des Kindes zu dem Zeitpunkt, zu dem es seine Ausbildung begonnen hat, als Wanderarbeitnehmer in diesem Mitgliedstaat berufstätig gewesen ist. Schließlich verweist der EuGH im Urteil vom 30.6.2016 (C‑115/15; EU:C:2016:487 = NVwZ 2016, 1471 RdNr 54) lediglich darauf, dass das Recht der Kinder von Wandererwerbstätigen auf Zugang zur Ausbildung im Aufnahmemitgliedstaat davon abhänge, dass das betreffende Kind zuvor seinen Wohnsitz im Aufnahmemitgliedstaat hatte. Dies war beim Kläger zu 3 nach den Feststellungen des LSG der Fall.
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