L 13 R 1964/20

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
13
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 11 R 2772/18
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 13 R 1964/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 18. Mai 2020 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.



Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.

Die 1962 in der Türkei geborene Klägerin war von 1989 bis 1997 als Metallarbeiterin und von 2007 bis 2015 als Reinigungskraft in Teilzeit versicherungspflichtig beschäftigt. Im Versicherungsverlauf vom 11. November 2021 sind zuletzt bis Juni 2017 Pflichtbeitragszeiten vermerkt. Ein Grad der Behinderung (GdB) von 70 ist seit 13. Juni 2019 anerkannt.

Vom 28. Oktober bis 25. November 2015 wurde die Klägerin stationär im Krankenhaus N – Abteilung Kardiologie und Innere Medizin und Psychosomatik behandelt (Diagnosen: Bluthochdruck, Schilddrüsenunterfunktion, Depression; es bestehe ein vollschichtiges Leistungsvermögen als Reinigungskraft sowie auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt für leichte bis mittelschwere körperliche Tätigkeiten in wechselnder Haltung).

Am 10. Juli 2017 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung und begründete ihren Antrag mit psychischen Erkrankungen, hohem Blutdruck, einer Schilddrüsenstörung, Herzrhythmusstörungen und Arthrose.

Die Beklagte veranlasste eine neurologisch-psychiatrische Begutachtung durch die O. Diese diagnostizierte im Gutachten vom 17. Januar 2018 eine Dysthymia sowie Z.n. mittelgradig depressiver Episode. Die Klägerin stehe in regelmäßiger nervenärztlicher Behandlung und erhalte eine antidepressive Medikation sowie eine ambulante Psychotherapie. Sie sei in der Lage, zu reisen und ihren Alltag zu gestalten, wobei sie eine gewisse Krankenrolle einnehme und habe soziale Kontakte. Neurologischerseits ließen sich außer einem Geruchsverlust keine Auffälligkeiten finden. Die Klägerin sei unter Beachtung qualitativer Einschränkungen vollschichtig leistungsfähig.
Mit Bescheid vom 22. März 2018 lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab, weil die Klägerin die medizinischen Voraussetzungen für eine Rente wegen Erwerbsminderung nicht erfülle.

In ihrem dagegen gerichteten Widerspruch brachte die Klägerin vor, es bestehe eine langjährige psychische Beeinträchtigung. Sie befinde sich seit fast sieben Jahren in psychiatrischer und psychotherapeutischer Behandlung. Ihre S gehe in der fachärztlichen Bescheinigung vom 12. April 2018 von einem deutlich unter sechsstündigen Leistungsvermögen aus. Auch ihre Psychotherapeutin F betrachte die Aufnahme einer beruflichen Tätigkeit in absehbarer Zeit als kontraindiziert.
Mit Widerspruchsbescheid vom 30. August 2018 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.
Dagegen hat die Klägerin am 2. Oktober 2018 Klage zum Sozialgericht Mannheim (SG) erhoben und im Wesentlichen das Vorbringen im Rahmen des Widerspruchs wiederholt. Sie könne sich der Leistungsbeurteilung der Sachverständigen O nicht anschließen.

Das SG hat zunächst den W und die S schriftlich als sachverständige Zeugen vernommen.
Der W hat bezüglich der durchgeführten Untersuchung und der erhobenen Befunde ab dem 1. Januar 2017 auf die beigefügten Auszüge aus der Patientenakte verwiesen. Seit Anfang 2018 sei es zu einer Verschlechterung der vorbestehenden Schmerzen im Bereich des gesamten Rückens gekommen. Eine MRT-Untersuchung der Brustwirbelsäule habe keine erklärenden Befunde ergeben, so dass es sich um funktionelle Beschwerden handele. Dem Schreiben der F vom 27. April 2017 sei zu entnehmen, dass die Leistungsfähigkeit aufgrund der psychiatrischen Beschwerden erheblich gemindert sei und die Aufnahme einer beruflichen Tätigkeit in absehbarer Zeit kontraindiziert sei. Unter Hinweis auf das Testergebnis im Beck´schen Depressionsinventar im Rahmen der Begutachtung durch die O, welches einen hochsignifikanten Hinweis auf eine Depression ergeben habe, sei die Klägerin weiterhin nicht fähig, auch leichte Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, auch untervollschichtig oder nur stundenweise, durchzuführen. Sie könne kürzere Wege mit dem eigenen Auto zurückzulegen und das Zurücklegen einer Wegstrecke von über 500 Metern zu Fuß sei ihr zumutbar. Aufgrund der Klaustrophobie sei ihr die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, insbesondere zu Stoßzeiten, nicht zumutbar.
Die S hat eine rezidivierende chronifizierte depressive Störung mit z.T. schweren depressiven gehemmten, im Wechsel mit agitierten Episoden, diagnostiziert. Zuletzt im Dezember 2018 habe ein etwas gebessertes klinisches Bild im Sinne einer mittelgradigen Depressivität bestanden. Seit 2017 seien wiederholt schwere depressive Zustandsbilder aufgetreten, wobei eine vollständige Remission schon zuvor nicht mehr zu beobachten gewesen sei. Die Klägerin sei keinesfalls sechs Stunden leistungsfähig. Eine evtl. Besserung wäre durch stationäre Maßnahmen evtl. erreichbar. Nur zeitweilig sei ein Leistungsvermögen von drei bis sechs Stunden denkbar, zumeist aber unter drei Stunden oder das Leistungsvermögen sei ganz aufgehoben.
Das SG hat ferner das neurologisch-psychiatrische Gutachten des S1 vom 29. März 2019 eingeholt. Dieser hat die Klägerin am selben Tag ambulant untersucht und als Gesundheitsstörungen einen medikamentös behandelten Bluthochdruck und eine nach internistischer Mitteilung gering ausgeprägte Verengung der Herzkranzgefäße ohne dadurch bedingte Leistungsminderung sowie eine Arthrose der Daumengrundgelenke bds. ohne wesentliche Funktionsbehinderung angegeben. Seitens des neurologischen oder des psychiatrischen Fachgebietes seien keine weiteren Gesundheitsstörungen zu benennen. Im Rahmen des psychiatrischen Befunds wurde die Klägerin als bewusstseinsklare, allseits orientierte Frau beschrieben. Die Klägerin berichtete vor allem über ihre Beschwerden sehr ausführlich, verfolgte das Diktat aufmerksam und ergänzte es gelegentlich und rasch. Realitätsprüfung und Intentionalität waren intakt. Der Antrieb war ungestört, es bestanden keine Zeichen vorzeitiger Ermüdung, die Stimmungslage war ausgeglichen, sie zeigte Betrübnis bei der Schilderung der Beschwerden, das affektive Schwingungsvermögen erwies sich bei der Besprechung unterschiedlicher Themen als regelrecht. Der Affektausdruck war durchaus lebhaft, nicht überschießend, keine Störung der Distanzregulation, keine Hinweise für Beeinträchtigungen der Wahrnehmung, biographisches Gedächtnis, Konzentration und Merkfähigkeit waren intakt, bei der körperlichen Untersuchung zeigte sich keine Auffassungserschwernis für die Anweisungen, bei der Exploration bestand eine gute Kooperation, bei der körperlichen Untersuchung vom Sachverständigen gesehene offensichtlich Ausgestaltungsversuche.
Die Klägerin habe vor allem über Schmerzen an der Wirbelsäule und den Gliedmaßen geklagt. Schmerzen seien jedoch subjektive Empfindungen, die nicht ohne weiteres nachzuweisen oder zu widerlegen seien. Bezugnehmend auf die Leitlinien der AWMF über die Begutachtung chronischer Schmerzen (Nummer 094/003) ließen sich Schmerzen aber mittelbar nachweisen, wenn sie funktionsmindernd seien. Solche Funktionsminderungen habe er nicht feststellen können. Auch die regelrechte Bemuskelung der Gliedmaßen und die normalen Gebrauchsfunktionen, z.B. beim An- und Auskleiden, wiesen darauf hin, dass eine schmerzbedingte Funktionsstörung nicht festzustellen sei. Im Rahmen des erhobenen psychischen Befunds habe sich die Stimmungslage ausgeglichen gezeigt, das Schwingungsvermögen sei intakt, der Antrieb ungestört gewesen. Die Mitteilungen der Klägerin, dass sie praktisch nichts unternehme, auch nicht im Haushalt, seien nicht vereinbar mit dem erhobenen Befund, insbesondere nicht mit der Beweglichkeit, der Bemuskelung und den Arbeitsspuren sowie der Aktivität bei der Untersuchung.
S1 hat die Klägerin für in der Lage gehalten, leichte bis mittelschwere körperliche Tätigkeiten mit Heben und Tragen von Lasten bis 10 kg in wechselnden Haltungen, auch Bücken und Treppensteigen sowie auf Leitern und Gerüsten acht Stunden täglich an fünf Tagen in der Woche zu verrichten – unter Beachtung der näher dargelegten qualitativen Einschränkungen. Die Klägerin sei in der Lage, sich auf Anforderungen einzustellen, die mit der Aufnahme einer neuen Tätigkeit verbunden seien. Besondere Arbeitsbedingungen, z.B. unübliche Pausen, seien nicht notwendig. Die Wegefähigkeit sei nicht gemindert. Die Klägerin könne viermal täglich einen Fußweg von mehr als 500 Metern in weniger als 20 Minuten zurücklegen und zweimal täglich öffentliche Verkehrsmittel, auch während der Hauptverkehrszeiten, benutzen.

Auf Antrag und eigenes Kostenrisiko der Klägerin gemäß § 109 SGG hat das SG das psychiatrisch-psychotherapeutische Gutachten des H vom 2. März 2020 eingeholt. Dieser hat die Klägerin am 27. November 2019 ambulant untersucht und eine Dysthymia und eine rezidivierende depressive Störung diagnostiziert. Im Rahmen des depressiven Geschehens sei von einer deutlichen Somatisierungstendenz im Sinne einer vitalgetönten depressiven Entwicklung auszugehen. Zum Zeitpunkt der Untersuchung sei eine Belastbarkeit von weniger als drei Stunden anzunehmen. Dies begründe sich in der Ausprägung des psychopathologischen Befundes, insbesondere in der psychomotorischen Verlangsamung, der psychomotorischen Unruhe und der verzögerten Auffassungsgabe. Die Klägerin sei nicht in der Lage, sich auf die Anforderungen einzustellen, die mit der Aufnahme einer neuen Tätigkeit verbunden sind. Sie sei in der Lage, viermal einen Fußweg von mehr als 500 Metern in jeweils unter 20 Minuten als Arbeitsweg zurückzulegen, wobei eine Einschränkung dann gelte, wenn das Ausmaß des depressiven Geschehens schwergradig sei. Die Klägerin sei auch in der Lage, zweimal täglich öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen.

Die Beklagte hat hierzu die sozialmedizinische Stellungnahme des N vom 20. März 2020 vorgelegt. Nach den Kriterien des ICD-10 lasse sich nicht einmal zweifelsfrei eine leichte depressive Episode feststellen, weshalb die Behauptung, es handle sich um ein schwerwiegendes Krankheitsbild, nicht nachvollzogen werden könne. Psychopathologisch werde nichts Wesentliches beschrieben was nicht schon im Gutachten der Sachverständigen O beschrieben worden wäre oder die Darstellung einer Dysthymia übersteigen würde. H habe auch auf eine körperliche Untersuchung verzichtet, die die notwendige Konsistenzprüfung zur behaupteten Inaktivität klären könnte und sei den subjektiven Angaben der Klägerin gefolgt. Das Gutachten des H bestätige die blande Befundlage einer allenfalls leichtergradigen, wenn auch chronifizierten Depressivität, wobei sich die diagnostischen Einschätzungen in Abweichung zu den Vorgutachten nicht zweifelsfrei nachvollziehen ließen. Es lasse sich nicht begründen, warum die Klägerin nicht vollschichtig arbeiten könne.

Mit Urteil vom 18. Mai 2020 hat das SG die Klage abgewiesen. Die Klägerin sei nicht erwerbsgemindert. Sie sei in der Lage, Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mindestens sechs Stunden arbeitstäglich unter Berücksichtigung qualitativer Leistungseinschränkungen zu verrichten. Dabei hat sich das SG auf das Gutachten des S1 und das im Wege des Urkundsbeweises verwertete Gutachten der Sachverständigen O gestützt. Das SG hat sich mit den von S1 erhobenen Befunden auseinandergesetzt und sich auf die von S1 aufgezeigten Widersprüche zwischen den Schilderungen der Klägerin im Beck´schen Depressionsinventar bzw. bei der klinischen Untersuchung und den objektiven Untersuchungsbefunden (z.B. unplausible Kraftminderung beider Hände, behauptete Inaktivität bei gleichmäßig kräftig ausgeprägter Muskulatur an den Armen) bezogen.
Dem Gutachten des Sachverständigen H und der abweichenden Auffassung der S ist das SG nicht gefolgt. Die von H diagnostizierte Double Depression lasse sich nicht mit den objektiv festgestellten Befunden in Einklang bringen. Die von H – und bereits S1 – berichteten Ängste passten zu keiner Angststörung im klassischen Sinne. N vom sozialmedizinischen Dienst der Beklagten wende zu Recht ein, dass sich die Einschätzung des H im Hinblick auf die diagnostische Differenzierung in der nüchternen Betrachtung des psychopathologischen Befundes nicht nachvollziehen lasse. Außerdem lasse sich nicht ableiten, inwieweit die Klägerin überhaupt ausführlich genug untersucht worden sei, weil die Anamnese, die erst nach dem psychopathologischen Befund dokumentiert sei, überhaupt keine Depression schildere. Die behauptete Inaktivität werde nicht einer notwendigen Konsistenzprüfung unterzogen. S1 habe überzeugend dargelegt, dass sich die behauptete Inaktivität bei dem Status der Muskulatur an den Armen (beide Seiten seien gleichmäßig kräftig ausgeprägt gewesen) nicht im beschriebenen Ausmaß nachvollziehen lasse. Da das Gutachten des H auf diese Befunderhebung verzichtet habe, sei zu vermuten, dass er nur den subjektiven Angaben der Klägerin ohne hinreichende Konsistenzprüfung gefolgt sei. Die Klägerin sei auch in der Lage, einen Arbeitsplatz aufzusuchen. Ihre Wegefähigkeit sei nicht eingeschränkt. Aufgrund ihres Geburtsjahres habe sie auch von vornherein keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung nach § 240 Abs. 1 SGB VI.

Gegen das ihrem Prozessbevollmächtigten am 27. Mai 2020 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 3. Juli 2020 Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt.
Das Gutachten des H sei überzeugender als das Gutachten des S1. Soweit das SG daran zweifele, dass die Klägerin ausreichend genug untersucht worden sei, da die Anamnese keine Depression schildere, sei anzumerken, dass H eine ausführliche Anamnese vorgenommen und auch nach dem Tagesablauf der Klägerin gefragt habe. Im Gegensatz hierzu sei das Gutachten des S1 weniger ausführlich, auch sei der Tagesablauf von S1 nicht erfragt worden. Auch die Diagnose des S1, wonach aus psychiatrischer Sicht überhaupt keine relevante Diagnose vorliege, sei nicht überzeugend. Bei der Klägerin sei bereits im Reha-Entlassbericht vom 1. Dezember 2015 eine Depression festgestellt worden, zudem sei sie seit Jahren und auch weiterhin bei der S in Behandlung.
Daher könnten die Gutachten des S1 und der Sachverständigen O nicht überzeugen. Auch habe die O zumindest eine Dysthymie festgestellt, wohingegen S1 keine Gesundheitsstörungen auf psychiatrischem Fachgebiet festgestellt habe. Soweit das SG davon ausgehe, dass die Klägerin klassische Zeichen der Symptomübertreibung zeige, werde diese Ansicht nicht geteilt. H habe auf Seite 12 seines Gutachtens ausgeschlossen, dass bei der Klägerin die Erkrankungsbilder vorgetäuscht würden im Sinne einer Aggravation oder Simulation. Auch sei fraglich, ob die Sprachkenntnisse der Klägerin ausreichend seien, um eine Begutachtung ohne Dolmetscher durzuführen. Sie sei schwer depressiv und verlasse das Haus nur in Begleitung. Zudem leide sie unter Schlafstörungen. Des Weiteren leide sie unter Sehstörungen. Trotz Brille sehe sie nur verschwommen aufgrund eines Bluthochdruck. Diesbezüglich sei sie in Behandlung bei dem W1. Auch bestünden aufgrund einer Entzündung in der Wirbelsäule erhebliche Schmerzen. Diesbezüglich könne die M befragt werden. Diese könne auch zu der Arthrose in den Händen befragt werden. Aufgrund der Schmerzen in den Händen könne sie im Haushalt keine Tätigkeiten mehr machen.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 18. Mai 2020 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 22. März 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30. August 2018 zu verurteilen, ihr eine Rente wegen Erwerbsminderung ab dem 1. Juli 2017 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hat an ihrem Rechtsstandpunkt festgehalten.

Der Senat hat die behandelnden Ärzte der Klägerin schriftlich als sachverständige Zeugen vernommen. Die M hat als Diagnosen chron. rez. Lumboischialgien li. bei Spondylolisthesis L4/L5, mäßige degenerative Veränderungen der unteren LWS und Heberden-Arthrose beider Hände, beginnende Rhizarthrose bds. angegeben. Ferner hat sie den Befund der CT der LWS vom 30. September 2020 (Beurteilung: Sekundäre Spondylarthrose LWK 4/5 und 5/SWK 1 bei Spondylolyse und Listhesis Grad I LVVK 4/5. Kein Nachweis einer Spinalkanal- oder Neuroforamenstenose. Kein Nachweis eines NPP) vorgelegt.

Der W1 hat als Visus RA: cc 0,4 LA: cc 0,4 mitgeteilt und eine Hyperopie sowie Fundus hypertonicus II Cataract mitgeteilt. Die Diagnosen seien schon länger bekannt und es lägen keine Fremdbefunde vor.

Der W hat mitgeteilt, die Klägerin habe sich im Jahre 2019 dreimal wegen depressiver Verstimmung sowie somatoformer Störungen vorgestellt. Desweiteren hätten ein erhöhter Blutdruck sowie anamnestisch Schmerzen im Bereich des muskoskelettaren Systems bestanden. 2020 sei es zu mehreren Vorstellungen aufgrund eines akuten Harnwegsinfektes sowie einer schwerwiegenden Infektion der oberen Atemwege gekommen. Anfang November 2020 habe sich die Klägerin vorgestellt, weil ihr Blutdruck nicht mehr richtig eingestellt sei. Bei dieser Vorstellung habe sie berichtet, dass sie permanent in Behandlung bei M sei. Bei der Vorstellung am 3. November 2020 habe die Klägerin starke Schmerzen im Nacken und im Rücken angegeben und mitgeteilt, sie könne die Arme nicht heben und nicht lange sitzen.

Die S hat mitgeteilt, ab dem 5. Februar 2019 sei das zuvor episodenhafte depressive Geschehen einem chronisch persistierenden schweren Versagenszustand mit resignativer affektiver Starre gewichen. Inhaltlich darauf eingeengt, werde in sthenisch gehemmtem Zustand resignativ in wenigen monotonen Worten jeweils der Stand des laufenden Gerichtsverfahrens berichtet. Die Klägerin sei hierbei nicht auslenkbar oder aufheiterbar, alternative Gedanken, Überlegungen, Vorschläge erreichten sie kaum noch. Zusammenfassend handle es sich im Verlauf um einen schweren depressiven chronifizierten Defektzustand.
Die Beklagte hat hierzu die sozialmedizinische Stellungnahme des N vom 1. Februar 2021 vorgelegt, der an seiner bisherigen Einschätzung festgehalten hat.
F hat mitgeteilt, die Klägerin befinde sich seit dem 26. Januar 2016 bei ihr in ambulanter Psychotherapie (kognitive Verhaltenstherapie). Bisher seien 9 Sprechstunden/probatorische Sitzungen, 25 Sitzungen einer Kurzzeittherapie (15. März 2016 - 7. März 2017), 8 Stunden einer Akutbehandlung (11. April 2017 — 7. Oktober 2019) sowie weitere 3 Stunden im Rahmen der aktuellen Kurzzeittherapie (seit 27. Januar 2021) erfolgt. Sie hat als aktuelle Diagnose eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode ohne psychotische Symptome angegeben. Die Schwere der depressiven Symptomatik habe im Verlauf der Therapie variiert, sodass phasenweise eine mittelgradige Ausprägung der Depression vorgelegen habe (F33.1 - rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradig Episode). Teilweise habe die Klägerin die Kriterien für eine Generalisierte Angststörung (F41.1) erfüllt. Im Beck Depressionsinventar BDI-11 habe die Klägerin Werte erreicht, welche für eine schwere Depressivität sprächen. Im Rahmen der Symptomcheckliste SCL-90-R hätten im April 2016 und im Februar 2021 alle Skalenwerte im klinisch relevanten Bereich gelegen.

Hierzu hat die Beklagte die weitere sozialmedizinische Stellungnahme ihres Beratungsarztes N vom 16. Juli 2021 vorgelegt. Dieser hat weiterhin keine Änderung in der Leistungsbeurteilung gesehen. Ferner hat die Beklagte den Versicherungsverlauf vom 11. November 2021 vorgelegt; danach seien die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen einer ab dem 1. August 2019 eingetretenen Erwerbsminderung nicht mehr erfüllt.

Am 3. November 2021 hat die Berichterstatterin des Senats den Sachverhalt mit den Beteiligten erörtert. Wegen der Einzelheiten wird auf das Protokoll vom 3. November 2021 verwiesen.

Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

Wegen des weiteren Vorbringens und der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Verwaltungsakten der Beklagten sowie die Prozessakten beider Instanzen Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Die gemäß den §§ 143, 144, 151 SGG zulässige Berufung der Klägerin, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 SGG entscheidet, ist unbegründet.

Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung.
Rechtsgrundlage für die hier begehrte Rente wegen Erwerbsminderung ist § 43 Sechstes Sozialgesetzbuch (SGB VI).
Nach § 43 Abs. 1 Satz 1 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie
teilweise erwerbsgemindert sind,
in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und
vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI).
Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze nach § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB VI, wenn sie
voll erwerbsgemindert sind,
in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und
vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI).
Voll erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs. 2 Satz 3 SGB VI auch
Versicherte nach § 1 Satz 1 Nr. 2, die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können und
Versicherte, die bereits vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit voll erwerbsgemindert waren, in der Zeit einer nicht erfolgreichen Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt.
Nicht erwerbsgemindert ist gemäß § 43 Abs. 3 SGB VI, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann, wobei die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen ist.

Das Vorliegen einer rentenberechtigenden Leistungsminderung und auch der weiteren Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung muss im Vollbeweis objektiv nachgewiesen sein. Dies erfordert, dass die Tatsachen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorliegen müssen (vgl. auch Bayerisches Landessozialgericht, Urteile vom 15. Januar 2009 – L 14 R 111/07 und vom 8. Juli 2010 – L 14 R 112/09). Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bedeutet, dass bei vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens der volle Beweis für das Vorliegen der genannten Tatsache – hier der vollen oder teilweisen Erwerbsminderung begründenden Einschränkungen des beruflichen Leistungsvermögens – als erbracht angesehen werden kann. Eine bloße gewisse Wahrscheinlichkeit genügt nicht. Kann das Gericht das Vorliegen der den Anspruch begründenden Tatsachen trotz Ausschöpfung aller zur Verfügung stehenden Erkenntnismöglichkeiten nicht feststellen, geht dieser Umstand zu Lasten desjenigen, der aus diesem Sachverhalt Rechte herleiten will, hier also zu Lasten der Klägerin.

Gemessen hieran ist die Klägerin nicht erwerbsgemindert.

Das SG hat unter Zugrundelegung der vorgenannten Anspruchsvoraussetzungen zutreffend dargelegt, dass die Klägerin nicht erwerbgemindert ist, weil sie in der Lage ist, Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mindestens sechs Stunden arbeitstäglich unter Berücksichtigung qualitativer Leistungseinschränkungen zu verrichten. Dabei hat sich das SG mit schlüssiger Begründung auf die Gutachten des S1 und das im Wege des Urkundsbeweises verwertete Gutachten der Sachverständigen O gestützt. Das SG hat berücksichtigt, dass bei der Klägerin im Rahmen der von S1 durchgeführten psychiatrischen Begutachtung keine kognitiven Funktionseinschränkungen festgestellt werden konnten (keine vorzeitige geistige Ermüdung oder psychische Erschöpfung, gute Gedächtnisfunktionen, kein gestörter Denkablauf), sich im affektiven Bereich kein Störungsbild erfassen ließ (ausgeglichen Grundstimmung, gute affektive Resonanzfähigkeit, normal lebendiges psychomotorisches Ausdrucksverhalten) sowie keine Einengung des Denkens und auch keine Denkverlangsamung oder -hemmung festgestellt werden konnte (biografisches Gedächtnis, Konzentration und Merkfähigkeit waren intakt).
Ferner hat das SG berücksichtigt, dass weder von S1, noch von der Sachverständigen O eine ausgeprägte depressive Störung, die in ihrem Schweregrad der einer leichten depressiven Episode entspricht, festgestellt werden konnten und der körperliche und der neurologische Befund keine Auffälligkeiten ergab. Das SG hat auch auf das von den Sachverständigen festgestellte Verdeutlichungsverhalten und passiv-aggressive Merkmale hingewiesen und darauf, dass die Klägerin im Beck´schen-Depressionsinventar etliche Auffälligkeiten schilderte, welche jedoch im Widerspruch zum Untersuchungsbefund standen und bei der klinischen Untersuchung bemüht war, Beeinträchtigungen zu zeigen, die objektiv nicht feststellbar waren (beispielsweise die unplausible Kraftminderungen beider Hände) bzw. weitere klassische Zeichen der Symptomübertreibung auffällig waren. Das SG hat auch in die Bewertung einbezogen, dass sich die behauptete Inaktivität bei dem von S1 festgestellten Status der Muskulatur an den Armen (beide Seiten gleichmäßig kräftig ausgeprägt) nicht nachvollziehen lässt.
Dem Gutachten des Sachverständigen H und der abweichenden Auffassung der S ist das SG zu Recht nicht gefolgt. Dabei hat das SG berücksichtigt, dass die von H diagnostizierte Double Depression sich nicht mit den objektiv festgestellten Befunden in Einklang bringen lässt und sich auch – entsprechend der vom Beratungsarzt der Beklagten N vorgebrachten Einwände - die Einschätzung des H im Hinblick auf die diagnostische Differenzierung aufgrund des psychopathologischen Befundes und der (erst nach dem psychopathologischen Befund dokumentierten) Anamnese nicht nachvollziehen lässt und der Sachverständige – im Gegensatz zu S1 - keine hinreichende Konsistenzprüfung im Hinblick auf die Angaben der Klägerin durchgeführt, sondern sich mutmaßlich auf die subjektiven Angaben der Klägerin verlassen hat.
Nicht zu beanstanden ist auch die Auffassung des SG – unter Berücksichtigung der von S1 und den von den behandelnden Ärzten geschilderten Untersuchungsbefunden, aus denen sich keine relevanten Erkrankungen mit Auswirkung auf die Gehfähigkeit ergeben, dass die Klägerin in der Lage ist, einen Arbeitsplatz aufzusuchen, weil ihre Wegefähigkeit nicht eingeschränkt ist. Schließlich hat das SG zu Recht darauf hingewiesen, dass die Klägerin aufgrund ihres Geburtsjahres von vornherein keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung nach § 240 Abs. 1 SGB VI hat.
Der Senat schließt sich dem nach eigener Überprüfung und unter Berücksichtigung des Vorbringens der Klägerin an und weist die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung gemäß § 153 Abs. 2 SGG zurück.

Ergänzend weist der Senat darauf hin, dass ein Anspruch der Klägerin auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung selbst dann nicht nachgewiesen wäre, wenn man der Leistungsbeurteilung des H folgen würde. Denn dieser hat die Klägerin erst am 27. November 2019 untersucht und mitgeteilt, seine Einschätzung gelte für den Zeitpunkt der Untersuchung. Er hat lediglich im Zeitpunkt der Untersuchung eine sozialmedizinische Belastbarkeit von weniger als drei Stunden angenommen und dies mit der Ausprägung des psychopathologischen Befunds, insbesondere der psychomotorischen Verlangsamung, der psychomotorischen Unruhe und der verzögerten Auffassungsgabe begründet.
Soweit er an anderer Stelle dagegen mitgeteilt hat, das beschriebenen Leistungsbild gelte seit Rentenantragstellung, wird dies nicht näher begründet und ist auch unter Berücksichtigung der von der Sachverständigen O und S1 erhobenen Untersuchungsbefunde nicht nachvollziehbar. Die von H beschriebenen Auffälligkeiten des psychopathologischen Befunds, auf die er seine Leistungseinschätzung maßgeblich gestützt hat, sind bei den vorangegangenen Begutachtungen nicht festgestellt worden.
Jedenfalls zu einem früheren Zeitpunkt lässt sich daher – unter Berücksichtigung der oben dargestellten Gutachten der Sachverständigen O und des S1 – nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein Leistungsfall nachweisen. Jedoch sind im November 2019 die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Rentenanspruch nicht mehr gegeben. Die Klägerin hat nach dem von der Beklagten vorgelegten Versicherungsverlauf vom 11. November 2021 nur bis Juni 2017 Pflichtbeiträge geleistet und es liegen keine Verlängerungstatbestände im Sinne des § 43 Abs. 4 SGB VI vor, so dass – bei einem (fiktiven) Leistungsfall am 27. November 2019 - innerhalb des Zeitraums von fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung (§ 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI), also in der Zeit vom 27. November 2014 bis 26. November 2019, lediglich 32 Monate mit Pflichtbeiträgen belegt wären (2014: 2 Monate; 2015: 12 Monate, 2016: 12 Monate; 2017: 6 Monate).
Es liegen auch weder die Voraussetzungen der §§ 43 Abs. 5 i. V. m. § 53 SGB VI (z.B. Eintritt der Erwerbsminderung durch einen Arbeitsunfall oder innerhalb von 6 Jahren nach einer Ausbildung) noch die Voraussetzungen des § 241 Abs. 2 SGB VI vor, wonach in bestimmten Fällen die Mindestzahl von Pflichtbeiträgen nicht erforderlich ist.

Da das SG somit zu Recht die Klage abgewiesen hat, weist der Senat die Berufung zurück.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Im Rahmen des dem Senat nach § 193 SGG eingeräumten Ermessens war für den Senat maßgeblich, dass die Klägerin mit der Rechtsverfolgung ohne Erfolg geblieben ist und die Beklagte keinen Anlass zur Klageerhebung gegeben hat. Der Senat hält es auch im Falle einer Zurückweisung des Rechtsmittels für erforderlich, nicht nur über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens zu entscheiden, sondern auch über die Kosten der vorausgehenden Instanz (so Lüdtke/Berchtold, a.a.O., § 193 Rdnr. 8; erkennender Senat, Urteil vom 19. November 2013, L 13 R 1662/12, veröffentlicht in Juris; a.A. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG, 13. Auflage, § 193 SGG Rdnr. 2a; Hintz/Lowe, Kommentar zum SGG, § 193 SGG Rdnr. 11; Jansen, Kommentar zum SGG, 4. Auflage, § 193 SGG Rdnr. 4).

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.

Rechtskraft
Aus
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