L 6 SB 2971/20

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6.
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 14 SB 68/20
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 SB 2971/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 14. August 2020 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte erstattet dem Kläger auch seine außergerichtlichen Kosten im Berufungsverfahren. 


Tatbestand


Der Beklagte wendet sich mit der Berufung gegen die Verpflichtung zur Feststellung der gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs „aG“ (außergewöhnliche Gehbehinderung) ab dem 5. September 2019.

Der Kläger ist 1960 geboren. Nach Abschluss der Realschule hat er eine Lehre als Karosseriebauer absolviert und war anschließend bis zu einem Arbeitsunfall am 28. September 1983 als Kraftfahrer beschäftigt. Nach dem Arbeitsunfall machte er eine von der Berufsgenossenschaft für Nahrungsmittel und Gaststätten (BG) geförderte Umschulung zum Industriekaufmann und ist seitdem in diesem Beruf in einem Theaterhaus beschäftigt. Er war wegen einer psychiatrischen Erkrankung mehr als 13 Monate arbeitsunfähig, hat im September 2019 seine berufliche Tätigkeit wieder aufgenommen und nach Abbau seines Resturlaubs und von Überstunden tatsächlich wieder im März 2020 angefangen zu arbeiten. Der Kläger ist in zweiter Ehe verheiratet und Vater zweier erwachsener Kinder aus erster Ehe (vgl. Sachverständigengutachten A, H, S ).

Am 4. März 1986 stellte der Kläger beim zum damaligen Zeitpunkt zuständigen Versorgungsamt H1 einen Antrag nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG). Er gab an, an einer Behinderung des rechten Beines aufgrund eines Arbeitsunfalls zu leiden.

Zur Vorlage kam das von M im Auftrag der BG aufgrund der ambulanten Untersuchung des Klägers am 25. April 1984 erstellte neurologische Sachverständigengutachten. Demnach sei der Kläger am 28. September 1983 bei Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit als LKW-Fahrer verunglückt. Er sei auf eine Leitplanke aufgefahren, aus dem Fahrerhaus geschleudert worden und mit dem Becken auf die Leitplanke geprallt. Bei der Erstversorgung sei eine offene Beckenschaufelfraktur rechts diagnostiziert worden. Als Diagnosen hätten ein Zustand nach (Z. n.) Unfall am 28. September 1983 mit Commotio cerebri, offener Beckenschaufelfraktur rechts mit Teilverletzung des rechten Darmbeines und Läsion des Nervus femoralis sowie des Nervus cutaneus femoris lateralis rechts vorgelegen. Als Unfallfolgen auf neurologischem Fachgebiet hätten eine deutliche ausgeprägte Schädigung des Nervus femoralis und Nervus cutaneus femoris lateralis rechts bestanden, die zur Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 30 vom Hundert (v. H.) geführt habe. Mit einer wesentlichen Besserung sei 19 Monaten nach dem Unfall nicht mehr zu rechnen.

Das Versorgungamt H1 stellte durch Vorbehaltsbescheid vom 25. Juni 1986 fest, dass die MdE 30 v. H. betrage. Eine endgültige Entscheidung könne erst nach Abschluss des BG-Verfahrens ergehen.

Nachdem die BG dem Kläger ab dem 27. Februar 1988 eine Dauerrente nach einer MdE von 30 v. H. bewilligte (Bescheid vom 22. März 1988), stellte das Versorgungsamt H1 durch Bescheid vom 20. Juni 1988 einen Grad der Behinderung (GdB) von 30 seit 1983 fest.

Auf den Neufeststellungsantrag des Klägers vom 20. November 1995 stellte das Versorgungsamt H1 durch Bescheid vom 17. Dezember 1996 ab Antragstellung einen GdB von 40 fest. Der Feststellung lagen die mit einem Einzel-GdB von 30 bewerteten Unfallfolgen (Teilverlust des rechten Darmbeines, Verkalkungen lateral des Darmbeines rechts, tief eingezogene ausgeprägte Narbenplatte im Bereich des rechten Darmbeinkammes, endgradige Einschränkung der Beweglichkeit des rechten Beines, Muskelminderung des rechten Oberschenkels, Verstreichung der Kniegelenkskonturen rechts, Fußsohlenminderbeschwielung rechts, rechtsbetontes Hinken, deutlich ausgeprägte Schädigung des Nervus femoralis und des Nervus cuteaneus femoris lateralis rechts, verminderte Spannung im Musculus quadriceos rechts, herabgesetzte Schmerz- und Berührungsempfindlichkeit im Versorgungsbereich des Nervus saphenus und des Nervus cutaneus femoralis rechts, d. h. der Oberschenkelaußen- und -oberseite sowie an der Unterschenkelober- und -innenseite rechts, multiple Narbenbildungen, Pelzigkeitsgefühl distal der Narbe im Bereich des linken Ellenbogens), ein mit einem Einzel-GdB von 10 bewertetes Halswirbelsäulensyndrom und die mit einem Einzel-GdB von 20 bewerteten Funktionsstörungen Bluthochdruck, Fettleibigkeit, Blutfett- und Harnsäureerhöhung zugrunde.

Infolge eines beim nunmehr zuständigen Landratsamt L (LRA) gestellten Neufeststellungsantrags vom 19. Juli 2011 stellte das LRA durch Bescheid vom 17. Oktober 2011 in der Fassung des Teilabhilfebescheides vom 2. Februar 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. März 2012 einen GdB von 70 seit Antragstellung fest. Zugrunde lag dieser Feststellung die versorgungsärztliche Stellungnahme der K, wonach die BG-Unfallfolgen (Beckenschaden, Funktionsbehinderung des rechten Hüftgelenks, Funktionsbehinderung des rechten Kniegelenks) mit einem Einzel-GdB von 40, eine Funktionsbehinderung der Wirbelsäule (WS) und degenerative Veränderungen der WS mit einem Einzel-GdB von 20, ein Bluthochdruck, eine Adipositas permagna, eine Fettstoff- und eine Harnsäurestoffwechselstörung mit einem Einzel-GdB von 20, ein Diabetes mellitus mit einem Einzel-GdB von 20 und ein Schuler-Arm-Syndrom mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten gewesen seien. In dem sich anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht H1 (SG) erkannte der Beklagte das Vorliegen der gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs „G“ (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) ab dem 19. Juli 2011 an; der entsprechende Ausführungsbescheid erging am 10. Dezember 2012.      

Mit Antrag vom 3. Dezember 2013 begehrte der Kläger die Feststellung eines höheren GdB und der gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs „aG“. Versorgungsärztlich bewertet V den Gesamt-GdB mit 80 (BG-Unfallfolgen, Beckenschaden, Funktionsbehinderung des rechten Hüftgelenks, Funktionsbehinderung des rechten Kniegelenks [Einzel-GdB von 40], Funktionsbehinderung der WS, degenerative Veränderungen der WS [Einzel-GdB von 20], Bluthochdruck, Adipositas permagna, Fettstoffwechselstörung, Harnsäurestoffwechselstörung [Einzel-GdB von 20], Diabetes mellitus [Einzel-GdB von 40], Schulter-Arm-Syndrom, Funktionsbehinderung beider Schultergelenke [Einzel-GdB von 20]). Die gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs „aG“ lägen nicht vor, da die Gehfähigkeit nicht auf das Schwerste eingeschränkt sei. Hierauf stellte das LRA durch Bescheid vom 8. Mai 2014 seit Antragstellung einen GdB von 80 fest und lehnte die Feststellung der gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs „aG“ ab.

Am 5. August 2019 beantragte der Kläger die Erhöhung des GdB und – vorliegend streitgegenständlich – die Feststellung der gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs „aG“. Zur Begründung verwies er auf von der BG erhobene Sachverständigengutachten.    

Aus dem von H aufgrund der ambulanten Untersuchung des Klägers am 24. April 2019 erstellten neurologischen Sachverständigengutachten ergab sich, dass der Kläger eine deutliche Verschlechterung seines gesundheitlichen Zustands seit dem Jahr 2011 geltend gemacht habe. Die Gehfähigkeit sei wegen zunehmender Schmerzen und einer subjektiven Kraftminderung stärker beeinträchtigt; schmerzfrei könne er noch höchstens eine Strecke von 30 bis 40 Metern zurücklegen. Wegen der Verschlechterung seiner Gehfähigkeit benutze er seit einigen Jahren einen Elektroscooter, ohne den er überhaupt nicht mehr mobil sei. Beim Gehen bestünden belastungsabhängig verstärkte Schmerzen, die vom rechten Bein bis in das rechte Knie und in den rechten Fuß hinein ausstrahlten, teilweise zögen die Schmerzen auch bis in die Lendenwirbelsäule (LWS). Die Schmerzen seien praktisch immer da und verstärkten sich bei Belastung, die Schmerzstärke betrage auf einer Skala von 0 (keine Schmerzen) bis 10 (unerträgliche Schmerzen) durchschnittlich 6. Beim Gehen seien die Schmerzen manchmal auch stechend, die Schmerzstärke sei dann bei 8 bis 9. Auch im linken Knie und in der linken Hüfte träten beim Gehen schon Schmerzen auf. Der Kläger sei in Begleitung seiner Ehefrau mit einem Elektroscooter in die Praxis gekommen. Der Elektroscooter sei im Wartebereich abgestellt worden, den Untersuchungsraum habe er allein mit Unterarmgehstützen betreten. Freies Gehen sei ihm nach eigenen Angaben nicht möglich gewesen, das Gangbild mit einer Hilfsperson und Unterstützung an einer Hand sei etwas bereitbasig mit Nachziehen des rechten Beines gewesen. Der Fersen- und Zehenstand rechts sei eingeschränkt mit Haltehilfe möglich gewesen, links ohne Haltehilfe durchführbar. Links sei der Einbeinstand kurz, rechts nicht durchführbar gewesen. Unter Berücksichtigung des Gangbildes mit Hilfsperson mit leichtem Anheben des rechten Oberschenkels in der Hüfte sei von einer Kraftentwicklung des Hüftbeugers vom Kraftgrad 3 auszugehen gewesen. Die Schwere der vom Kläger beklagten Beschwerden habe nur teilweise mit dem klinischen Untersuchungsbefund korrespondiert. Differentialdiagnostisch sei davon auszugehen, dass die in den letzten Jahren aufgetretene Beschwerdeverschlechterung mit zunehmenden chronifizierten Schmerzen und einer zunehmenden funktionellen Einschränkung der Gehfähigkeit Ausdruck der Folge einer sekundären Gelenkschädigung im Bereich des Knie- und des Hüftgelenks links und einer sekundären psychosomatischen Symptomdynamik der unfallbedingten neurologischen Funktionsstörung durch die in den letzten Jahren aufgetretene ängstlich-depressive Entwicklung sei. Zusätzlich habe sich eine beginnende sensible Polyneuropathie der Beine gezeigt, die vermutlich auf den bekannten Diabetes mellitus zurückzuführen sein dürfte. Eine maßgebliche Änderung sei gegenüber der letzten neurologischen Begutachtung nicht eingetreten, die zunehmende Verschlechterung der Gehfähigkeit sowie die Zunahme und Chronifizierung der Schmerzsymptomatik lasse sich durch eine organische Befundverschlechterung nicht objektivieren. Die auf psychiatrischem Fachgebiet festzustellenden Veränderungen mit Entwicklung einer ängstlich-depressiven Störung sollten durch ein psychiatrisches Sachverständigengutachten abgeklärt werden. Die MdE betrage weiterhin 30 v. H..

A erstellte aufgrund der ambulanten Untersuchung des Klägers am 11. Juni 2019 ein psychiatrisches Sachverständigengutachten. Der Kläger habe angegeben, als Folgen des Arbeitsunfalls vom 28. September 1983 sei sein Gehvermögen eingeschränkt. Im Laufe der Jahre habe sich sein Gehvermögen verschlechtert, seit zwei Jahren ginge es ihm diesbezüglich „ganz elend“. Am linken Bein und im Rücken habe er Schmerzen infolge von Fehlbelastungen. Das Becken und die WS seien schräg, er leide unter kontinuierlichen Schmerzen von der rechten Schulter bis zum rechten Knöchel. Links seien die Schmerzen nicht durchgehend. Besonders schlimm seien die Kniegelenke, der Beckenbereich und der Rücken. Er könne sich teilweise kaum bewegen und habe teilweise auch muskelartige schmerzhafte Verkrampfungen. Zeitweise sei er auch wegen der Schmerzen nicht in der Lage gewesen, aus dem Auto zu steigen. Beim Duschen könne er nicht seine Füße waschen, könne keine Strümpfe oder Schuhe selbst anziehen und auch die Nutzung der Badewanne sei ihm nicht mehr möglich, er könne nicht hinein- oder heraussteigen. Seit geraumer Zeit verfüge er über einen Elektroscooter, was ihm ermögliche, Kleinigkeiten einzukaufen oder neben seiner spazierengehenden Ehefrau zu fahren. Gehen könne er nur noch wenige Meter und sei deshalb an die Wohnung gebunden. Als Untersuchungsbefund hätten sich Paresen im rechten Bein hinsichtlich Hüftbeugung, Kniestreckung, Beinabduktion und -adduktion ergeben, der Patellarsehenreflex (PSR) sei rechtsseitig abgeschwächt, der Achillessehenreflex (ASR) beidseits abgeschwächt, die Steh- und Gehversuche seien blind nicht möglich gewesen. Als Diagnosen hätten Angst und Depression gemischt (ICD-10 F41.2G) und eine somatoforme Schmerzstörung (ICD-10 F45.41G) vorgelegen. Die somatoforme Schmerzstörung sei zwar Unfallfolge, erhöhe die bereits festgestellte MdE von 40 v. H. jedoch nicht.

Aus dem aufgrund der ambulanten Untersuchung des Klägers am 19. März 2019 von S erstellten unfallchirurgischen/orthopädischen Sachverständigengutachten ergab sich, dass der Kläger seit 13 Monaten arbeitsunfähig sei. Das Aufstehen des Klägers vom Stuhl im Wartebereich und sein Gangbild hätten äußerst mühsam gewirkt, er habe einen Rollator benutzt, imponiert habe ein deutliches Hinken der rechten Seite. Der Kläger habe angegeben, seine Gehstrecke habe sich wegen der Schmerzen auf circa 20 Meter limitiert, auch diese geringe Gehstrecke könne er nicht ohne Hilfsmittel (Rollator, Gehstock) bewältigen. Später habe er telefonisch die zurücklegbare Gehstrecke auf circa 10 Meter korrigiert. Die Schmerzen bestünden vor allem im Bereich der rechten Hüfte, des rechten Oberschenkels, des rechten Knies und des rechten Sprunggelenks. Treppensteigen sei nahezu unmöglich, da keine geeigneten Hilfsmittel eingesetzt werden könnten und die Schmerzen nach wenigen Treppenstufen unerträglich seien. Bei der Untersuchung habe eine aktive Beweglichkeit der rechten Hüfte nicht bestanden, passiv habe eine Beugung bis 80°, das Abspreizen bis 40° und die Gegenbewegung bis 30° unter Schmerzangabe durchgeführt werden können. An der linken Hüfte habe eine reguläre Beweglichkeit vorgelegen. Das rechte Knie sei aktiv nicht beweglich gewesen, passiv habe ein Bewegungsumfang von 0-5-90° vorgelegen, aufgrund der Schmerzhaftigkeit hätten reduzierte Untersuchungsbedingungen bestanden. Das linke Knie sei bis 120° beugefähig, das linke Sprunggelenk unauffällig gewesen. Eine aktive Beweglichkeit des rechten Sprunggelenks sei nicht demonstriert worden; es sei allerdings eine Prüfung der Fußhebung unter Fußstreckung möglich gewesen, eine aktive Beweglichkeit des rechten Sprunggelenks habe somit sicher vorgelegen. Als wesentliche Unfallfolgen hätten eine Defektverletzung der rechten Darmbeinschaufel mit circa 2/3 Verlust, die Ausbildung einer großen hakenförmigen Exostose an der rechten defekten Darmbeinschaufel, eine Ankylose des rechten Kreuzdarmbeingelenks, eine stabil ausgeheilte Symphysenverletzung mit arthrotischen Veränderungen, eine ausgeprägte Narbenbildung im Bereich des rechten Becken-/Leistenbereichs, ein Z. n. Dünndarmteilresektion nach offener Dünndarmverletzung ohne erkennbare Folgen und die im neurologischen Zusatzgutachten des H aufgeführten und beschriebenen Folgen der Nervenverletzungen bestanden. Befunde auf neurologischem und/oder orthopädischem/unfallchirurgischem Fachgebiet, die den vom Kläger beklagten zunehmenden Verlust der Mobilität erklären könnten, hätten sich nicht ergeben. Insbesondere liege keine destruierende Coxarthrose der rechten Hüfte vor. Eine Erklärung könne die Entwicklung einer psychischen Störung aus Angst und Depression im Sinne einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren sein. Eine wesentliche Änderung der Unfallfolgen sei nicht eingetreten, A habe einen Zusammenhang der Schmerzstörung mit dem Unfallereignis verneint. Die Gesamt-MdE betrage 40 v. H..

Der D bewertete einen Beckenschaden, eine Funktionsbehinderung des rechten Hüftgelenks, eine Funktionsbehinderung des rechten Kniegelenks und eine Gebrauchseinschränkung des rechten Beines mit einem Einzel-GdB von 70, eine Funktionsbehinderung der WS und degenerative Veränderungen der WS mit einem Einzel-GdB von 20, einen Bluthochdruck, eine Adipositas per magna, eine Fettstoffwechselstörung und eine Harnsäurestoffwechselstörung mit einem weiteren Einzel-GdB von 20, einen Diabetes mellitus mit einem Einzel-GdB von 40, ein Schulter-Arm-Syndrom und eine Funktionsbehinderung beider Schultergelenke mit einem Einzel-GdB von 20, eine Depression, eine seelische Störung und funktionelle Organbeschwerden mit einem Einzel-GdB von 30 sowie eine Polyneuropathie mit einem Einzel-GdB von 20. Der Gesamt-GdB betrage 100. Die Voraussetzungen zur Bewilligung von Parkerleichterungen für besondere Gruppen schwerbehinderter Menschen seien erfüllt, da allein für Funktionsstörungen an den unteren Gliedmaßen (unter LWS, soweit sich dies auf das Gehvermögen auswirke) ein GdB von wenigstens 80 vorliege und die Nachteilsausgleiche „G“ und „B“ festzustellen seien. Nach den vorgelegten ärztlichen Sachverständigengutachten sei die Einschränkung der Gehfähigkeit nach Art und Ausmaß jedoch nicht der Gehbehinderung eines Querschnittsgelähmten, Doppeloberschenkel-/Doppelunterschenkel-Amputierten oder eines Rollstuhlfahrers gleichzusetzten; die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs „aG“ seien demnach nicht erfüllt.   

F bat das LRA mit Schreiben vom 2. September 2019 um die sofortige Feststellung der gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs „aG“. Der Kläger könne sich wegen der Schwere seiner Behinderung nur mit großer Hilfe und nur mit großer Anstrengung außerhalb seines PKW bewegen und sei auch bereits für sehr kurze Entfernungen auf einen Rollstuhl angewiesen. Beigefügt war dem Schreiben die ärztliche Verordnung vom 5. September 2019 über einen elektrischen Rollstuhl (Extreme X8 von Sunrise Medical) mit Zusatzausstattung aufgrund der Diagnose eines Z. n. Polytrauma mit erheblicher Mobilitätseinschränkung.

Das LRA stellte durch Bescheid vom 11. September 2019 einen GdB von 100 seit dem 5. August 2019 sowie die gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs „B“ fest und führte aus, dass die gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs „G“ festgestellt blieben. Hingegen lehnte es die Feststellung der gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs „aG“ ab, da die hierfür erforderlichen Voraussetzungen nicht vorlägen.

Deswegen erhob der Kläger Widerspruch. Er fügte dem Widerspruch das Schreiben des F an die BG bei, in dem dieser die Notwendigkeit der Versorgung mit einem elektrischen Rollstuhl wegen der Schwere der Behinderung des Klägers, aufgrund derer er sich nur mit großer Hilfe und nur mit großer Anstrengung außerhalb seines PKW bewegen könne und auch bereits für sehr kurze Entfernungen auf einen Rollstuhl angewiesen sei, bestätigte. Zur Begründung des Widerspruchs machte der Kläger im Weiteren geltend, dass er aufgrund des Arbeitsunfalls vom 28. September 1983 2/3 seiner Beckenschaufel infolge eines Trümmerbruchs des Beckens verloren habe, es hätten immer wieder Knochensplitter entfernt werden müssen und er habe eine Wundheilungsstörung gehabt. Er leide an einer Coxarthrose der Hüfte und das Gelenk sei wackelsteif. Hinzu komme eine schwere Nervenschädigung des rechten Beines und eine Verkürzung des rechten Beines um 3 cm im Vergleich zum linken Bein. Auch leide er seit dem Arbeitsunfall unter Schwindelattacken. Die BG habe ihn deshalb mit einem Elektroscooter versorgt und nun erhalte er auch einen Rollstuhl.

B führte versorgungsärztlich aus, neue medizinische Befunde seien nicht vorgelegt worden. Nach den vorliegenden Sachverständigengutachten habe sich auf orthopädischem Fachgebiet nicht viel geändert. Hinzugekommen sei ein Schmerzsyndrom und eine psychische Erkrankung, hier bestünden Überschneidungen, der Einzel-GdB von 70 sei vor diesem Hintergrund sehr wohlwollend. Für die zwingende Benutzung eines Rollstuhls ergäben sich keine medizinischen Gründe; dass ein solcher verordnet worden und hierdurch die Fortbewegung erleichtert sei, bleibe unangezweifelt. Dennoch könne die Notwendigkeit aufgrund einer derart ausgeprägten Störung der Gehfähigkeit nicht dargelegt werden.
Der Beklagte wies daraufhin den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 3. Dezember 2019 zurück. Die Auswertung der ärztlichen Unterlagen habe ergeben, dass der Kläger nicht die gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs „aG“ erfülle. Es liege zwar ein GdB von 80 vor, die festgestellten Funktionsstörungen führten jedoch nicht dazu, dass er sich dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeugs bewegen könne oder aus medizinischer Notwendigkeit – auch für sehr kurze Entfernungen – auf die Benutzung eines Rollstuhls angewiesen sei. Für die zwingende Benutzung eines Rollstuhls würden sich keine medizinischen Gründe ergeben. Dass ein solcher verordnet worden und hierdurch die Fortbewegung erleichtert sei, stelle kein Kriterium für die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs „aG“ dar.

Mit der am 3. Januar 2020 beim SG erhobenen Klage hat der Kläger die Feststellung der gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs „aG“ weiterverfolgt.

Zur Klagebegründung hat er sein Vorbringen aus dem Widerspruchverfahren bekräftigt und ergänzend ausgeführt, dass er auch insbesondere wegen seiner Berufstätigkeit auf den Nachteilsausgleich „aG“ angewiesen sei. Nach einer langen krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit habe er im Dezember 2019 seine Arbeitstätigkeit wieder aufnehmen wollen. Da er aber nicht in der Lage sei, den Arbeitsweg zurückzulegen, müsse er nun seinen aufgebauten Urlaub aufbrauchen. Er sei dringend auf den Nachteilsausgleich „aG“ angewiesen, um bei seinem Arbeitgeber „Das Theaterhaus Stuttgart“ vor Ort parken zu können.

Das SG hat die behandelnden Ärzte des Klägers schriftlich als sachverständige Zeugen befragt.

Der K1 hat ausgeführt, den Kläger seit September 2013 circa zweimal jährlich fachärztlich diabetologisch zu behandeln. Der Kläger leide an einem nicht primär insulinabhängigen Diabetes mit Sekundärversagen, an einer diabetischen peripher-symmetrischen Polyneuropathie DM2 (beginnend), an einer arteriellen Hypertonie, an einer mittelgradigen depressiven Episode und an einer Polyglobulie, am ehesten im Rahmen einer chronischen myeloischen Leukämie. Im Weiteren bestehe ein Z. n. einem Arbeitsunfall im Jahr 1983 mit Parese des linken (gemeint wohl rechten) Beines. Der Kläger habe massive Schmerzen und eine muskuläre Insuffizienz infolge der Teillähmung und der Arthrose im linken Bein und der linken Hüfte (gemeint wohl im rechten Bein und der rechten Hüfte) beklagt. Er komme mit zwei Gehstöcken in die Praxis, hierbei könne er eine ebene Wegstrecke von circa 10 Metern gerade noch bewältigen. Längere Gehstrecken, Treppensteigen oder Gehen ohne Unterstützung seien nicht denkbar, hierfür werde ein vorhandener Rollstuhl benutzt. Eine außergewöhnliche Gehbehinderung im gesetzlichen Sinne liege vor. Ursache für die Gehstörung sei eine kombinierte neuro-muskuläre Insuffizienz im Zusammenhang mit einem als Folge des Arbeitsunfalls entstandenen Gelenkverschleiß. Der mobilitätsbezogene GdB betrage 80. Die Gehfähigkeit habe sich in den letzten Jahren progredient verschlechtert.

Aus der sachverständigen Zeugenaussage des F haben sich regelmäßige, mehrmals im Quartal stattfindende Behandlungen des Klägers seit Januar 2011 ergeben. Als Diagnosen seien eine außergewöhnliche Gehbehinderung mit Gang- und Mobilitätsstörung nach Polytrauma, eine Schädigung des Nervus femoralis und des Nervus cutaneus femoris lateralis rechts mit einer Parese der Hüftbeugung und Kniestreckung rechts, eine posttraumatische Beinverkürzung rechts, eine posttraumatische Coxarthrose rechts, eine posttraumatische Gon-Retropatellar-Arthrose rechts, die Ausbildung einer großen Exostose an der defekten Darmbeinschaufel rechts, eine ausgeprägte Narbenbildung im Bereich der Becken-/Leistenregion, ein rezidivierender Tinnitus und Kopfschmerzen beidseits nach Schädel-Hirn-Trauma, ein Z. n. Commotio cerebri, ein Z. n. großer parietaler Riss-/Quetschwunde, ein Z. n. offenem Abdominaltrauma mit Dünndarmeinriss, ein Z. n. großer Riss-/Quetschverletzung linker Ellenbogen/Unterarm, ein Z. n. Defektfraktur rechts Beckenschaufel mit Substanzverlust 2/3, ACG-Arthrose rechts, ein Z. n. offener lateraler Clavicula-Resektion rechte Schulter am 12. Juli 2016, ein degeneratives LWS-Syndrom, ein mediolateraler NPP L3/4 rechts mit Tangierung Wurzel L3 und L4, eine Osteochondrose der HWS mit Uncovertebralarthrose C3/4 bis C6/7 mit knöcherner Neuroforameneinengung C4/5 und C5/6 beidseits, C6/7 rechtsbetont, eine C6 Symptomatik links und ein chronisches Schmerzsyndrom gestellt worden. Eine schmerzfreie Wegstrecke bestehe nicht, am Arbeitsplatz benötige der Kläger dauerhaft einen Gehstock sowie einen Rollator, unter großer Anstrengung betrage die Gehstrecke weniger als 5 Meter. Außerhalb des Hauses sei der Kläger dauerhaft nur mit dem Elektrorollstuhl oder PKW mobil. Die eingeschränkte Gehfähigkeit ergebe sich aus der Summe der deutlich fortgeschrittenen posttraumatischen Veränderungen, erschwerend kämen die zunehmenden degenerativen Veränderungen der HWS und LWS hinzu. Es bestehe eine Pflegestufe Grad 2. Vor allem durch die Folgen der Nervenschädigung bestehe eine außergewöhnliche Belastungseinschränkung mit Schmerzen und Sturzneigung, die Prognose sei schlecht. Auch wenn „auf dem Papier“ noch eine zufriedenstellende Beweglichkeit vorliege, sei die rechte Extremität und der geschlossene Behandlungs-/Funktionsstrahl (Becken/Bein rechts) ohne Funktionalität; dies sei ungünstiger einzustufen als der Verlust der Extremität.
   
Der Kläger hat mitgeteilt, dass er von der BG mit einem elektrischen Rollstuhl versorgt worden sei. Auch habe die BG die Kosten für den Einbau eines Rollstuhllifts in seinen PKW übernommen. Sein Arbeitgeber habe ihm einen höhenverstellbaren Schreibtisch und einen in der Sitzbreite verstellbaren Stuhl zur Verfügung gestellt, was ebenfalls von der BG gefördert worden sei. Im Weiteren stehe ihm bei seinem Arbeitgeber ein reservierter Parkplatz mit gesperrtem Nebenparkplatz zum Entladen des Rollstuhls zur Verfügung, Voraussetzung für dessen Nutzung sei jedoch das Innehaben des Nachteilsausgleichs „aG“.

Aus dem vom Kläger vorgelegten Bescheid der BG vom 18. Februar 2020 ergab sich die Förderung des Umbaus seines PKW in Höhe von insgesamt 20.700 Euro (Lieferung und Einbau eines ergonomischen Fahrersitzes, Lieferung und Einbau eines Rollstuhlliftes, Einbau eines Holzbodens sowie der erforderlichen Rasterschienen und Spanngurtretraktoren zur Befestigung des Rollstuhls, Einbau erforderlicher Haltegriffe, Neben- und Anpassungsarbeiten am Fahrzeug sowie Verpackungs- und Versandkosten).

Im Weiteren hat der Kläger das Schreiben der BG vom 29. Januar 2020 an die B1 GmbH & Co. KG zur Gerichtsakte gereicht, in dem die BG ihre Zustimmung zu einem Kostenvoranschlag über die Versorgung mit einem Elektrorollstuhl mit Zusatzausstattung über 8.514,18 Euro erklärt hat. 

Der Beklagte hat nach Auswertung der sachverständigen Zeugenaussagen weiterhin nicht die gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs „aG“ als erfüllt angesehen und die versorgungsärztliche Stellungnahme des B2 vorgelegt. Demnach sei aus den sachverständigen Zeugenaussagen die medizinische Notwendigkeit einer Rollstuhlbenutzung nicht hervorgegangen. Die Erhebung eines orthopädischen Sachverständigengutachtens sei notwendig.       
          
Das SG hat nach Anhörung der Beteiligten durch Gerichtsbescheid vom 14. August 2020 den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 11. September 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Dezember 2019 verurteilt, beim Kläger die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens „aG“ ab dem 5. September 2019 festzustellen, und hat im Übrigen die Klage abgewiesen. Der Kläger erfülle ab der Verordnung des elektrischen Rollstuhls am 5. September 2019 die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs „aG“. Ab diesem Zeitpunkt sei eine dauerhafte Abhängigkeit bezüglich der Benutzung eines Rollstuhls anzunehmen. Der Kläger könne sich wegen der Schwere seiner Behinderung dauernd nur mit fremder Hilfe oder unter großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen. Er sei dauerhaft – auch für sehr kurze Entfernungen – aus medizinischer Notwendigkeit auf die Verwendung eines Rollstuhls angewiesen. Dies ergebe sich aus den sachverständigen Zeugenaussagen. Soweit der Beklagte darauf verwiesen habe, dass sich aus den sachverständigen Zeugenaussagen nicht die medizinische Notwendigkeit einer Rollstuhlbenutzung ergeben habe, sei dies nicht überzeugend. Die versorgungsmedizinische Stellungnahme des B2 habe sich nicht mit den Ausführungen der sachverständigen Zeugen auseinandergesetzt. Auch sei zu berücksichtigen, dass die BG den Kläger zwischenzeitlich mit einem elektrischen Rollstuhl versorgt und die Kosten für den deshalb notwendigen Umbau seines PKW übernommen habe. Die versorgungsärztliche Stellungnahme des B, der darauf verwiesen habe, dass die MdE weiterhin 40 v. H. betrage und der Einzel-GdB von 70 für das Funktionssystem „Beine“ wohlwollend sei, stehe dem Anspruch des Klägers nicht entgegen. Denn zum einen sei die Höhe des GdB nicht streitgegenständlich und zum anderen habe der Kläger bei der gutachterlichen Untersuchung durch S bereits eine Verschlechterung seiner Mobilität geltend gemacht. Das Sachverständigengutachten basiere aber auf der Untersuchung des Klägers im März 2019, die Verordnung des elektrischen Rollstuhls sei hingegen erst am 5. September 2019 erfolgt. Demnach könne nicht davon ausgegangen werden, dass das Sachverständigengutachten den Gesundheitszustand des Klägers zum Zeitpunkt der Beantragung des Nachteilsausgleichs wiedergegeben habe. Auf die vom Beklagten lapidar aufgeworfene Anregung zur Einholung eines orthopädischen Sachverständigengutachtens seien keine weiteren Ermittlungen vorzunehmen gewesen, die sachverständigen Zeugenaussagen seien ausreichend gewesen, um die gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs „aG“ zur Überzeugung des Gerichts zu begründen.     

Am 18. September 2020 hat der Beklagte gegen den ihm am 20. August 2020 zugestellten Gerichtsbescheid des SG Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt.

Zur Berufungsbegründung führt der Beklagte aus, der Gerichtsbescheid des SG sei unzutreffend. Objektive Befunde rechtfertigten nicht die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs „aG“. Aus dem im Verwaltungsverfahren beigezogenen unfallchirurgischen/orthopädischen Sachverständigengutachten des S habe sich ergeben, dass auf neurologischem, orthopädischem und unfallchirurgischem Fachgebiet keine Befunde vorgelegen hätten, die den vom Kläger beklagten zunehmenden Mobilitätsverlust hätten erklären können. S habe eine psychische Störung vermutet, eine Verschlimmerung auf orthopädischem Fachgebiet habe er nicht feststellen können. Das psychiatrische Sachverständigengutachten des A habe zwar eine psychische Erkrankung bestätigt, aber keine konkreten Auswirkungen auf die Mobilität beschrieben. Soweit das SG diese Begutachtungsergebnisse mit dem Hinweis abtue, dass die Begutachtung im März 2019 und die Verordnung des Rollstuhls im September 2019 erfolgt sei und deshalb nicht davon ausgegangen werden könne, dass die Sachverständigengutachten den Gesundheitszustand des Klägers zutreffend wiedergegeben hätten, habe es übersehen, dass keiner der behandelnden Ärzte des Klägers, die als sachverständige Zeugen vernommen worden seien, eine Verschlechterung dessen Gesundheitszustands im Zeitraum von März bis September 2019 beschrieben habe. Der K1 sei vielmehr von einer Verschlechterung des Gesundheitszustands „in den letzten Jahren“ ausgegangen, was durch die im Auftrag der BG eingeholten Sachverständigengutachten nicht bestätigt worden sei. Auch sprächen die Angaben des F und des K1 nicht eindeutig für das Vorliegen der gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs „aG“. Der Kläger gehe zwischenzeitlich wieder einer Erwerbstätigkeit nach, zu Hause und bei der Arbeit benutze er einen Rollator und Gehstöcke, nach Einschätzung seiner behandelnden Ärzte könne er sich auf diese Weise 5 bzw. 10 Meter fortbewegen; er sei nach den Ausführungen des F allerdings nicht schmerzfrei. Demgegenüber habe der Kläger im März 2019 bei der neurologischen Begutachtung durch H noch eine schmerzfreie Wegstrecke von höchstens 30 bis 40 Metern angegeben. Bei dieser widersprüchlichen Beweislage könnten die gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs „aG“ nicht angenommen werden.           

Der Beklagte beantragt – sinngemäß –,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 14. August 2020 abzuändern und die Klage vollumfänglich abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.

Er verweist auf den Gerichtsbescheid des SG und die erstinstanzlichen sachverständigen Zeugenaussagen. K1 habe ausgesagt, dass er an zwei Gehstöcken gehend in dessen Praxis gekommen sei und die Wegstrecke von circa 10 Metern vom Auto in die Praxis gerade noch habe bewältigen könne. Weitere Gehstrecken zurücklegen, Treppensteigen oder Gehen ohne Unterstützung könne er nicht. Der F habe die zurücklegbare Gehstrecke sogar mit unter 5 Meter angegeben und, dass er dauerhaft nur am Gehstock gehen könne oder einen Rollator benötige. Zum Be- und Entladen seines PKW mit dem Rollstuhl, mit dem er zwischenzeitlich versorgt sei, benötige er ausreichend Platz, da er eine Rampe ausfahren müssen. Ein normaler Parkplatz sei hierfür zu eng, er sei deshalb auf die Benutzung eines (breiteren) Behindertenparkplatzes angewiesen.

Auf die Berufungserwiderung des Klägers hat der Beklagte ausgeführt, gerade die Möglichkeit des Klägers, die relativ kurze Wegstrecke zwischen seinem PKW und der Arztpraxis mit Hilfe von zwei Gehstöcken zurücklegen zu können, stehe der Feststellung der gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs „aG“ entgegen. Es werde nicht verkannt, dass das Parken auf den breiteren Behindertenparkplätzen zweifellos eine Erleichterung darstelle, aus einer Erleichterung könne jedoch nicht auf das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs „aG“ geschlossen werden.  

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungs- und Gerichtsakten, auch auf die von der BG beigezogene Verwaltungsakte, Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Die form- und fristgerecht (§ 151 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) eingelegte Berufung, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs. 2 SGG), ist statthaft (§§ 143144 SGG), auch im Übrigen zulässig, aber unbegründet.

Gegenstand des Berufungsverfahrens ist der Gerichtsbescheid des SG vom 14. August 2020, mit dem das SG auf die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) des Klägers den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 11. September 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Dezember 2019 (§ 95 SGG) verpflichtet hat, ab dem 5. September 2019 die gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs „aG“ festzustellen, und im Übrigen die Klage abgewiesen hat. Nicht Gegenstand des Berufungsverfahrens ist hingegen das Vorliegen der gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs „aG“ vor dem 5. September 2019. Denn der Kläger hat selbst keine Berufung oder Anschlussberufung erhoben. Der Gerichtsbescheid vom 14. August 2020 ist insoweit rechtskräftig geworden (§§ 105 Abs. 3, 141 SGG). Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei der vorliegenden Klageart der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in den Tatsacheninstanzen (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 2. September 2009 – B 6 KA 34/08 R –, BSGE 104, 116 [124]; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 13. Aufl. 2020, § 54 Rz. 34), ohne eine solche derjenige der Entscheidung, demnach der 18. November 2021.

Die Unbegründetheit der Berufung folgt aus der Begründetheit der Klage, soweit sie im Berufungsverfahren noch streitgegenständlich ist. Der Bescheid vom 11. September 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Dezember 2019 ist insoweit rechtwidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 54 Abs. 1 Satz 2 SGG), als der Beklagte nicht zumindest ab dem 5. September 2019, dem Zeitpunkt der Verordnung des elektrischen Rollstuhls durch den F, die gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs „aG“ festgestellt hat. Der Gerichtsbescheid des SG vom 14. August 2020 ist demnach in dem im Berufungsverfahren streitgegenständlichen Umfang zutreffend. 

Anspruchsgrundlage für die Feststellung der gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs „aG“ ist § 152 Abs. 4 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) in der ab dem 1. Januar 2018 geltenden Fassung (Art. 1 und 26 Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen [Bundesteilhabegesetz – BTHG] vom 23. Dezember 2016). Dieser bestimmt, dass, wenn neben dem Vorliegen einer Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen sind, die zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen im Verfahren nach § 152 Abs. 1 SGB IX treffen. Zu diesen Nachteilsausgleichen gehört das im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 14 Straßenverkehrsgesetz (StVG) oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften in den Schwerbehindertenausweis einzutragende Merkzeichen „aG“ (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Schwerbehindertenausweisverordnung [SchwbAwV]). Diese Feststellung zieht straßenverkehrsrechtlich die Gewährung von Parkerleichterungen im Sinne von § 46 Abs. 1 Nr. 11 Straßenverkehrsordnung (StVO) nach sich, insbesondere die Nutzung von gesondert ausgewiesenen „Behindertenparkplätzen“ und die Befreiung von verschiedenen Parkbeschränkungen. Darüber hinaus führt sie unter anderem zur Befreiung von der Kraftfahrzeugsteuer (§ 3a Abs. 1 Kraftfahrzeugsteuergesetz [KraftStG]) bei gleichzeitiger Möglichkeit der unentgeltlichen Beförderung im öffentlichen Personennahverkehr (§ 228 Abs. 1 SGB IX) und gegebenenfalls zur Ausnahme von allgemeinen Fahrverboten nach § 40 Bundesimmissionsschutzgesetz (BImSchG).
§ 229 Abs. 3 SGB IX enthält nunmehr die Legaldefinition des Nachteilsausgleichs „aG“, die zuvor aufgrund Art. 3 Nr. 13 BTHG vom 23. Dezember 2016 seit dem 30. Dezember 2016 in § 146 Abs. 3 SGB IX a. F. enthalten war. Nach § 229 Abs. 3 SGB IX sind schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung Personen mit einer erheblichen mobilitätsbezogenen Teilhabebeeinträchtigung, die einem Grad der Behinderung von mindestens 80 entspricht (Satz 1). Eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung liegt vor, wenn sich die schwerbehinderten Menschen wegen der Schwere ihrer Beeinträchtigung dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können (Satz 2). Hierzu zählen insbesondere schwerbehinderte Menschen, die auf Grund der Beeinträchtigung der Gehfähigkeit und Fortbewegung – dauerhaft auch für sehr kurze Entfernungen – aus medizinischer Notwendigkeit auf die Verwendung eines Rollstuhls angewiesen sind (Satz 3). Verschiedenste Gesundheitsstörungen (insbesondere Störungen bewegungsbezogener, neuromuskulärer oder mentaler Funktionen, Störungen des kardiovaskulären oder Atmungssystems) können die Gehfähigkeit erheblich beeinträchtigen (Satz 4). Diese sind als außergewöhnliche Gehbehinderung anzusehen, wenn nach versorgungsärztlicher Feststellung die Auswirkung der Gesundheitsstörungen sowie deren Kombination auf die Gehfähigkeit dauerhaft so schwer ist, dass sie der unter § 229 Abs. 3 Satz 1 SGB IX genannten Beeinträchtigung gleichkommt (Satz 5).

Nach der Gesetzesbegründung (vgl. BT-Drucks. 18/9522, S. 318) kann beispielsweise bei folgenden Beeinträchtigungen eine solche Schwere erreicht werden, dass eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung vorliegt: zentralnervösen, peripher-neurologischen oder neuromuskulär bedingten Gangstörungen mit der Unfähigkeit, ohne Unterstützung zu gehen oder wenn eine dauerhafte Rollstuhlbenutzung erforderlich ist (insbesondere bei Querschnittlähmung, Multipler Sklerose, Amyotropher Lateralsklerose [ALS], Parkinsonerkrankung, Para- oder Tetraspastik in schwerer Ausprägung), einem Funktionsverlust beider Beine ab Oberschenkelhöhe oder einem Funktionsverlust eines Beines ab Oberschenkelhöhe ohne Möglichkeit der prothetischen oder orthetischen Versorgung (insbesondere bei Doppeloberschenkelamputierten und Hüftexartikulierten), schwerster Einschränkung der Herzleistungsfähigkeit (insbesondere bei Linksherzschwäche Stadium NYHA IV), schwersten Gefäßerkrankungen (insbesondere bei arterieller Verschlusskrankheit Stadium IV), Krankheiten der Atmungsorgane mit nicht ausgleichbarer Einschränkung der Lungenfunktion schweren Grades und einer schwersten Beeinträchtigung bei metastasierendem Tumorleiden (mit starker Auszehrung und fortschreitendem Kräfteverfall).

§ 229 Abs. 3 SGB IX normiert mehrere (kumulative) Voraussetzungen: Zunächst muss bei dem Betroffenen eine mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung bestehen, diese muss einem GdB von mindestens 80 entsprechen. Darüber hinaus muss die mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung auch erheblich sein. Mit der Bezugnahme auf mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigungen wollte sich der Gesetzgeber von der Einengung auf orthopädische Gesundheitsstörungen lösen, so dass „keine Fallgestaltung von vornherein bevorzugt oder ausgeschlossen wird, auch nicht dem Anschein nach“ (vgl. BT-Drs. 18/9522, S. 318). Trotz dieser Ausweitung übernimmt die Neuregelung den bewährten Grundsatz, dass das Recht, Behindertenparkplätze zu benutzen, nur unter engen Voraussetzungen eingeräumt werden darf und verlangt daher einen – relativ hohen – GdB von wenigstens 80 für die mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung. Dabei ist an den tatsächlich zuerkannten GdB anzuknüpfen (vgl. Senatsurteil vom 3. August 2017 – L 6 SB 3654/16 – n. v.; vgl. auch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 27. Januar 2017 – L 8 SB 943/16 –, juris, Rz. 49).

Gemessen an diesen gesetzlichen Vorgaben hat der Beklagte zu Unrecht durch Bescheid vom 11. September 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Dezember 2019 die Feststellung der gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs „aG“ ab dem 5. September 2019 abgelehnt. Zur Überzeugung des Senats – wie auch des SG – liegen beim Kläger (spätestens) ab diesem Zeitpunkt die Voraussetzungen hierfür vor.

Beim Kläger bestehen in Auswertung der ärztlichen Unterlagen als Gesundheitsstörungen, die sich auf die Gehfähigkeit auswirken, eine
außergewöhnliche Gehbehinderung mit Gang- und Mobilitätsstörung nach Polytrauma, eine Schädigung des Nervus femoralis und des Nervus cutaneus femoris lateralis rechts mit Parese der Hüftbeugung und Kniestreckung rechts, eine posttraumatische Beinverkürzung rechts, eine posttraumatische Coxarthrose rechts, eine posttraumatische Gon-Retropatellar-Arthrose rechts, die Ausbildung einer großen Exostose an der defekten Darmbeinschaufel rechts, eine ausgeprägte Narbenbildung im Bereich der Becken-/Leistenregion, ein Z. n. Defektfraktur der Beckenschaufel rechts mit 2/3 Substanzverlust, ein degeneratives LWS-Syndrom, ein mediolateraler NPP L3/4 rechts mit Tangierung Wurzel L3 und L4 und ein chronisches Schmerzsyndrom. Dies entnimmt der Senat den erstinstanzlichen sachverständigen Zeugenaussagen des F und des Facharztes für Allgemeinmedizin und Diabetologie K1 sowie den von der BG erhobenen Sachverständigengutachten (unfallchirurgisches/orthopädisches Sachverständigengutachten des S, psychiatrisches Sachverständigengutachten des A und neurologisches Sachverständigengutachten des H), die er im Wege des Urkundsbeweises (§ 118 Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 415 ff. Zivilprozessordnung [ZPO]) verwertet.    

Zeitgleich mit dem Zeitpunkt des Eintritts der Voraussetzungen für „aG“ hat das LRA die insgesamt beim Kläger bestehenden Funktionsstörungen mit Bescheid vom 11. September 2019 mit einem Gesamt-GdB von 100 bewertet. Diesem GdB hatten ein Beckenschaden, eine Funktionsbehinderung des rechten Hüftgelenks, eine Funktionsbehinderung des rechten Kniegelenks und eine Gebrauchseinschränkung des rechten Beines (Einzel-GdB von 70), eine Funktionsbehinderung der WS und degenerative Veränderungen der WS (Einzel-GdB von 20), ein Bluthochdruck, eine Adipositas per magna, eine Fettstoffwechselstörung und eine Harnsäurestoffwechselstörung (Einzel-GdB von 20), ein Diabetes mellitus (Einzel-GdB von 40), ein Schulter-Arm-Syndrom und eine Funktionsbehinderung beider Schultergelenke (Einzel-GdB von 20), eine Depression, eine seelische Störung und funktionelle Organbeschwerden (Einzel-GdB von 30) sowie eine Polyneuropathie (Einzel-GdB von 20) zugrunde gelegen.

Der mobilitätsbezogene Anteil des Gesamt-GdB von 100 beträgt zur Überzeugung des Senats, auch unter Berücksichtigung der versorgungsärztlichen Ausführungen des B im Widerspruchsverfahren, dass der Einzel-GdB von 70 (Beckenschaden, Funktionsbehinderungen des rechten Hüft- und des rechten Kniegelenks sowie Gebrauchseinschränkung des rechten Beines) sehr wohlwollend sei, mindestens 80. Denn neben den mit einem Einzel-GdB von 70 bewerteten Funktionsbehinderungen wirken sich auf die Gehfähigkeit des Klägers, die als Depression, seelische Störung und funktionelle Organbeschwerden mit einem Einzel-GdB von 30 mitbewertete chronische Schmerzstörung, die mit einem Einzel-GdB von 20 berücksichtigte Funktionsbehinderung und degenerative Veränderung der WS, die neben der HWS nach der sachverständigen Zeugenaussage des F auch die LWS umfasst, und die mit einem Einzel-GdB von 20 einzustellende Polyneuropathie aus.

Zumindest seit dem 5. September 2019, dem Zeitpunkt der Verordnung des elektrischen Rollstuhls durch den Facharzt für Unfallchirurgie und Orthopädie, Durchgangsarzt BG Frascaria, sind die mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigungen des Klägers auch „erheblich“ im Sinne des § 229 Abs. 3 Satz 2 SGB IX.

Letztlich nicht entscheidungserheblich ist, ob der Kläger zu dem Kreis der schwerbehinderten Menschen zählt, der auf Grund der Beeinträchtigung der Gehfähigkeit und Fortbewegung – dauerhaft auf für sehr kurze Entfernungen – aus medizinischer Notwendigkeit auf die Verwendung eines Rollstuhls angewiesen ist, und deshalb bereits seine mobilitätsbezogenen Teilhabebeeinträchtigungen „erheblich“ sind (§ 229 Abs. 3 Satz 3 SGB IX). Hierfür spricht jedoch die medizinische Verordnung des elektrischen Rollstuhls durch den F vom 5. September 2019 und insbesondere die dem folgende entsprechende Versorgung durch die BG (Schreiben der BG vom 29. Januar 2020 an die B1 GmbH & Co. KG über die Zustimmung zu einem entsprechenden Kostenvoranschlag) und die Förderung des notwendigen Umbaus des PKW des Klägers durch die BG (Bescheid vom 18. Februar 2020).    

Zumindest ab dem Zeitpunkt der medizinischen Verordnung des elektrischen Rollstuhls am 5. September 2019 haben die mobilitätsbezogenen Funktionsstörungen des Klägers zur Überzeugung des Senats aber einen solchen Schweregrad erreicht, dass er sich deswegen dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb eines Kraftfahrzeuges bewegen kann. Die beim Kläger vorliegenden Gesundheitsstörungen sowie deren Kombination haben zur Überzeugung des Senats auf dessen Gehfähigkeit dauerhaft eine solche Auswirkung, dass sie der unter § 229 Abs. 3 Satz 1 SGB IX genannten Beeinträchtigung gleichkommt (§ 229 Abs. 3 Satz 5 SGB IX). Die Gesundheitsstörungen des Klägers sind mit den in der Gesetzesbegründung (BT-Drucks. 18/9522, S. 318) genannten Beispielen (Querschnittlähmung, Multiple Sklerose, Amyotropher Lateralsklerose [ALS], Parkinsonerkrankung, Para- oder Tetraspastik in schwerer Ausprägung, Funktionsverlust beider Beine ab Oberschenkelhöhe oder Funktionsverlust eines Beines ab Oberschenkelhöhe ohne Möglichkeit der prothetischen oder orthetischen Versorgung [insbesondere bei Doppeloberschenkelamputierten und Hüftexartikulierten], schwerste Einschränkung der Herzleistungsfähigkeit [insbesondere bei Linksherzschwäche Stadium NYHA IV], schwerste Gefäßerkrankungen [insbesondere bei arterieller Verschlusskrankheit Stadium IV], Krankheiten der Atmungsorgane mit nicht ausgleichbarer Einschränkung der Lungenfunktion schweren Grades und einer schwersten Beeinträchtigung bei metastasierendem Tumorleiden [mit starker Auszehrung und fortschreitendem Kräfteverfall]) vergleichbar.

Bei dieser unter Gesamtwürdigung aller Einzelfallumstände (vgl.
BSG, Beschluss vom 11. Mai 2016 – B 9 SB 94/15 B –, juris, Rz. 9) zu treffende Entscheidung ist auch der Gesichtspunkt zu berücksichtigen, dass Parkraum für diejenigen Schwerbehinderten geschaffen werden soll, denen längere Wege zu Fuß nicht zuzumuten sind (vgl. BSG, Urteil vom 10. Dezember 2002 – B 9 SB 7/01 R –, juris, Rz. 22, sowie Urteile vom 29. März 2007 – B 9a SB 5/05 R –, juris, Rz. 13 und – B 9a SB 1/06 R –, juris, Rz. 17, jeweils unter Hinweis auf BT-Drucks 8/3150, S. 9 f. in der Begründung zu § 6 StVG). Ansatzpunkt bildet das Restgehvermögen des Betroffenen. Allerdings lässt sich ein anspruchsausschließendes Restgehvermögen griffig weder quantifizieren noch qualifizieren (vgl. BSG, Urteil vom 10. Dezember 2002 – B 9 SB 7/01 R –, juris, Rz. 23), weshalb ein an einer bestimmten Wegstrecke und an einem bestimmten Zeitmaß orientierter Maßstab ausscheidet (vgl. BSG, Urteile vom 29. März 2007 – B 9a SB 5/05 R –, juris, Rz. 15, 17, und – B 9a SB 1/06 R –, juris, Rz. 18, 21).

Nach diesen, durch die höchstrichtetliche Rechtsprechung aufgestellten Grundsätzen, denen sich der Senat anschließt, verbietet sich eine ausschließlich, wie vom Beklagten vorgenommen, am Restgehvermögen des Klägers orientierte Betrachtungsweise. Wie der Senat dem neurologischen Sachverständigengutachten des H entnimmt, hat der Kläger bereits im April 2019 nur noch eine schmerzfreie Gehstrecke von 30 bis 40 Metern zurücklegen können, bereits zu diesem Zeitpunkt war der Kläger zum Erhalt seiner Mobilität auf die Verwendung eines – von der BG geförderten – Elektroscooters angewiesen. Freies Gehen war dem Kläger schon damals nicht mehr möglich, wofür spricht, dass er den Elektroscooter im Wartebereich abgestellt hatte und zur Bewältigung der Wegstrecke zum Untersuchungsraum Unterarmgehstützen verwenden musste. H und auch S, der nachfolgend ein orthopädisches/unfallchirurgisches Sachverständigengutachten erstellt hat, haben zwar für die seit der letzten gutachterlichen Untersuchung des Klägers eingetretene Gehstreckenminimierung ein organisches Korrelat nicht feststellen können, haben aber eine – letztlich durch A in dessen psychiatrischen Sachverständigengutachten diagnostizierte – somatoforme Schmerzstörung vermutet, die zur Überzeugung des Senats nach § 229 Abs. 3 Satz 4 SGB IX, wonach verschiedenste Gesundheitsstörungen (insbesondere Störungen bewegungsbezogener, neuromuskulärer oder mentaler Funktionen, Störungen des kardiovaskulären oder Atmungssystems) die Gehfähigkeit erheblich beeinträchtigen können, die gesundheitlichen Merkmale des Nachteilsausgleichs „aG“ (mit-)begründet. Der Einwand des Beklagten, dass A nicht ausdrücklich die Verschlechterung der Gehfähigkeit des Klägers auf die somatoforme Schmerzstörung zurückgeführt hat, verfängt nicht, denn das war gar nicht Fragestellung seines Gutachtens. Im Übrigen hat auch S einen entsprechenden Zusammenhang vermutet.

Auch im Rahmen der gutachterlichen Untersuchung bei S am 19. März 2019 hat der Kläger die noch von ihm bewältigbare Gehstrecke wegen der Schmerzen als auf 20 Meter – später auf 10 Meter korrigiert – limitiert beschrieben und die Notwendigkeit der Nutzung von Hilfsmittel (Rollator, Gehstock) auch für diese limitierte Gehstrecke geltend gemacht. Ebenso hat der Kläger gegenüber der A eine schmerzbedingte Verschlechterung seines Gehvermögens angegeben; er hat ausgeführt, es ginge ihm seit zwei Jahren diesbezüglich „ganz elend“.

Die im erstinstanzlichen Verfahren erhobenen sachverständigen Zeugenaussagen stützen zur Überzeugung des Senats ebenso den Anspruch des Klägers auf Feststellung der gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs „aG“. K1 hat mitgeteilt, dass der Kläger beim Gehen massive Schmerzen und eine muskuläre Insuffizienz beklagt hat, er hat eine Wegstrecke von 10 Metern in die Praxis mit zwei Gehstöcken gerade noch bewältigen können. Das Zurücklegen längerer Gehstrecken, das Gehen ohne Unterstützung oder Treppensteigen ist ihm nicht möglich gewesen. Nach der sachverständigen Zeugenaussage des F hat der Kläger nach seinen Angaben über keine schmerzfreie Gehstrecke mehr verfügt; er benötigt am Arbeitsplatz dauerhaft einen Gehstock und einen Rollator, unter großer Anstrengung kann er eine Wegstrecke ohne Elektrorollstuhl von weniger als 5 Metern bewältigen.

Der Beklagte verkennt bei seiner vornehmlich am Restgehvermögen orientierten Betrachtungsweise, dass nach den gesetzlichen Vorgaben der Nachteilsausgleich „aG“ nicht nur der in § 229 Abs. 3 Satz 3 SGB IX genannten Gruppe von schwerbehinderten Menschen zusteht, die auf Grund der Beeinträchtigung der Gehfähigkeit und Fortbewegung – dauerhaft auch für sehr kurze Entfernungen – aus medizinischer Notwendigkeit auf die Verwendung eines Rollstuhls angewiesen sind und demnach ohne Rollstuhl überhaupt nicht mehr mobil sind. Ein vorhandenes Restgehvermögen schließt damit nach der gesetzlichen Konzeption den Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs „aG“ nicht grundsätzlich aus, wenn es nicht einen erheblichen Umfang erreicht, das der Vergleichbarkeit mit der in § 229 Abs. 3 Satz 3 SGB IX genannten Personengruppe entgegensteht. Für ein relevantes Restgehvermögen des Klägers in einem solchen erheblichen Umfang ergeben sich jedoch nach dem Ergebnis der medizinischen Beweisaufnahme keine Anhaltspunkte, insbesondere nicht ab dem maßgeblichen Zeitpunkt der medizinischen Verordnung des elektrischen Rollstuhls am 5. September 2019.  

Insbesondere auch der Sinn und Zweck des Nachteilsausgleichs „aG“ sprechen vorliegend für die Erfüllung dessen Voraussetzungen. Nach seinem Sinn und Zweck soll der Nachteilsausgleich „aG“ behinderungsbedingte Mobilitätseinbußen ausgleichen und damit der Integration schwerbehinderter Menschen in die Gesellschaft dienen. Seine nachteilsausgleichende Wirkung besteht vorrangig in der Nutzbarkeit von Behindertenparkplätzen, die wegen ihrer größeren Breite das Entladen von notwendigen Hilfsmitteln wie eines Rollstuhls ermöglichen, und zur Verkürzung der Gehstrecke bei der Verrichtung alltäglicher Angelegenheiten wie dem Erreichen der Arbeitsstätte, des Besuches von Ärzten, von kirchlichen und kulturellen Einrichtungen oder beim Einkaufen beitragen (vgl. Senatsurteil vom 18. März 2021 – L 6 SB 3843/19 –, juris, Rz. 62). Dieser Integrationsgedanke kommt im vorliegenden Verfahren deutlich zum Tragen. Infolge des Nachteilsausgleichs „aG“ ist es dem Kläger, nachdem er zu Lasten der BG mit einem elektrischen Rollstuhl versorgt und sein PKW entsprechend umgebaut worden ist, wieder vollumfänglich möglich, seiner beruflichen Tätigkeit in einem Theaterhaus nachzugehen. Es ist ihm deshalb von seiner Arbeitgeberin erlaubt, in unmittelbarer Nähe zu seiner Arbeitsstelle einen Parkplatz zu benutzen, der es ihm wegen der Sperrung des daneben liegenden Parkplatzes ermöglicht, seinen Elektrorollstuhl aus seinem PKW auszuladen. Mithin ist der Kläger nicht mehr, wie er noch gegenüber A angegeben hat, an seine Wohnung gebunden. Dass der Kläger die äußerst geringen Wegstrecken von 5 bis 10 Metern während seiner Arbeitstätigkeit oder auch im häuslichen Umfeld ohne elektrischen Rollstuhl, sondern auch mit einem Rollator oder Gehstöcken zurücklegen kann, steht dem Vorliegen der gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs „aG“ – entgegen dem Vorbringen des Beklagten im Berufungsverfahren – offensichtlich nicht entgegen.  

 
Anders, als der Beklagte meint, steht der Feststellung der gesundheitlichen Merkmale des Nachteilsausgleichs „aG“ ebenso nicht entgegen, das sich letztlich aus den von der BG erhobenen Sachverständigengutachten eine Gesamt-MdE von „nur“ 40 v. H. ergeben hat. Der Beklagte verkennt, dass maßgeblich für die Beurteilung der Höhe der MdE war, ob die beim Kläger vorhandenen Gesundheitsstörungen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ursächlich auf den Arbeitsunfall vom 28. September 1983 zurückzuführen gewesen sind. Für die Feststellung der gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs „aG“ ist eine entsprechende Kausalitätsbetrachtung jedoch gesetzlich nicht vorgesehen, da sich aus dem GdB und dementsprechend auch aus den Nachteilsausgleichen die Auswirkungen von Funktionsstörungen nicht nur im Erwerbsleben, sondern in allen Lebensbereichen ergeben (Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ (VG) zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (Versorgungsmedizin-Verordnung – VersMedV), dort Teil A, Nr. 2, a). Insofern hat A durchaus den Schwergrad der somatoformen Schmerzstörung gewürdigt, diese jedoch als nicht MdE-erhöhend gewertet, was aber vorliegend nicht entscheidend ist.

Es hat zwar, worauf der Beklagte im Weiteren hingewiesen hat, keiner der als sachverständigen Zeugen vernommenen behandelnden Ärzte des Klägers im Zeitraum von der gutachterlichen Untersuchung durch S im März 2019 bis zur medizinischen Verordnung des elektrischen Rollstuhls am 5. September 2019, ab diesem Zeitpunkt ist das SG vom Vorliegen der gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs „aG“ ausgegangen, eine signifikante Verschlechterung des Gesundheitszustands des Klägers beschrieben. Das steht aber dessen Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs „aG“ nicht entgegen, zumal es sich um einen – auch altersbedingten – schleichenden Prozess handelt, der dem Betroffenen immer weniger ermöglicht, die Behinderung körperlich auszugleichen. Denn der Kläger hat bereits im März 2019 gegenüber S seine Gehstrecke als auf 20 Meter limitiert und dies nur mit Hilfsmitteln (Rollator, Gehstock) beschrieben, im Folgenden hat er die zurücklegbare Gehstrecke diesem gegenüber sogar auf nur noch 10 Meter korrigiert. Im April 2019 hat der Kläger im Rahmen der gutachterlichen Untersuchung bei H noch eine schmerzfreie Gehstrecke von höchstens 30 bis 40 Metern angegeben, aber auch aus dieser Angabe lässt sich zur Überzeugung des Senats nicht maßgeblich auf das Nichtvorliegen der gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs „aG“ schließen.  

Die vorliegenden ärztlichen Unterlagen, sachverständigen Zeugenaussagen und Sachverständigengutachten haben dem Senat die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen Grundlagen vermittelt, so dass es insbesondere der Erhebung eines orthopädischen Sachverständigengutachtens, wie es der Beklagte im erstinstanzlichen Verfahren angeregt hat, nicht bedurft hat. Bei weiteren Sachverhaltsermittlungen würde es sich mithin um Ermittlungen ins Blaue hinein handeln und um eine Ausforschung des Sachverhaltes, zu der der Senat nicht verpflichtet ist (vgl. BSG, Beschluss vom 17. Oktober 2018 – B 9 V 20/18 B –, juris, Rz. 19).    

Nach alledem hat der Beklagte zu Unrecht durch Bescheid vom 11. September 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Dezember 2019 nicht ab dem 5. September 2019 die gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs „aG“ festgestellt. Das SG hat den Beklagten demnach zu Recht durch Gerichtsbescheid vom 14. August 2020 zu der entsprechenden Feststellung verpflichtet. Die Berufung des Beklagten war deshalb zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht gegeben, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.

Rechtskraft
Aus
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