L 8 AY 4/21

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Asylbewerberleistungsgesetz
1. Instanz
SG Chemnitz (FSS)
Aktenzeichen
S 27 AY 10/20
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 8 AY 4/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Leistungen der Hilfe zur Pflege sind einem Bezieher von Analogleistungen nach § 2 AsylbLG von dem Zeitpunkt an zu erbringen, sobald dem Leistungsträger bekannt wird, dass die Voraussetzungen für die Leistung vorliegen. "Bekanntwerden" in diesem Sinne bedeutet, dass die Notwendigkeit einer Leistung der Sozialhilfe als solche dargetan oder sonst erkennbar ist (Anschluss an BSG, Urteil vom 28. August 2018 - B 8 SO 9/17 R). Davon ist auszugehen, wenn dem zuständigen Sozialleistungsträger in dem Behandlungsbericht eines Krankenhauses Tatsachen mitgeteilt werden, die auf den erheblichen Pflegebedarf des Betroffenen hinweisen. Unerheblich erscheint daher, ob dessen Eltern, die der deutschen Sprache seinerzeit nicht mächtig gewesen sind, mit der Hilfe Dritter dazu imstande gewesen wären, entsprechende Leistungen zu beantragen.

 

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L 8 AY 4/21

S 27 AY 10/20 Chemnitz

 

 

 

Sächsisches Landessozialgericht

Im Namen des Volkes

Urteil

In dem Rechtsstreit

 A....

- Kläger und Berufungskläger -

Prozessbevollmächtigte:         Rechtsanwälte B....
 

gegen

Erzgebirgskreis, vertreten durch den Landrat, Paulus-Jenisius-Straße 24, 09456 Annaberg-Buchholz

- Beklagter und Berufungsbeklagter -

hat der 8. Senat des Sächsischen Landessozialgerichts ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 SGG am 18. Mai 2022 in Chemnitz durch den Vizepräsidenten des Landessozialgerichts Dr. Kasten, die Richterin am Landessozialgericht Dr. Atanassov, die Richterin am Landessozialgericht Habelt und die ehrenamtlichen Richter Herr Langer und Herr Dipl.-Ing. Möckel für Recht erkannt:

      1. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Chemnitz vom 30. März 2021 sowie unter Änderung des Bescheides des Beklagten vom 9. Juli 2019 in der Fassung des Teilabhilfe- und Widerspruchsbescheides vom 28. Januar 2020 sowie des Bescheides vom 5. März 2020 verurteilt, dem Kläger Leistungen der Hilfe zur Pflege in Form eines Pflegegeldes auch für die Zeit vom 1. April 2018 bis zum 25. März 2019 zu erbringen.

 

      1. Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers dem Grunde nach für beide Rechtszüge zu erstatten.

 

 

      1. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

 

 

Tatbestand

 

Der Kläger begehrt vom beklagten Landkreis Leistungen der Hilfe zur Pflege bereits vor dem 26. März 2019.

 

Der 2013 geborene Kläger ist albanischer Staatsbürger. Gemeinsam mit seinen Eltern und seinem im März 2016 geborenen Bruder reiste er am 24. Dezember 2016 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am 17. Januar 2017 beantragten sie, ihnen Asyl zu gewähren. Zur Durchführung des Asylverfahrens wurde die Familie dem Beklagten zugewiesen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) lehnte die Asylanträge, die Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anträge auf subsidiären Schutz als offensichtlich unbegründet ab, wobei es zugleich feststellte, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorlägen. Die Familie wurde zur Ausreise aufgefordert und zugleich die Abschiebung nach Albanien bzw. in einen aufnahmebereiten Drittstaat angekündigt (Bescheid vom 17. Februar 2017). Auf die dagegen erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht Z....  in Bezug auf den Kläger die aufschiebende Wirkung dieses Rechtsbehelfs angeordnet (Az.: 7 L 352/17.A). Mit Urteil vom 22. Oktober 2019 (Az.: 7 K 1269/17.A) stellte es schließlich ein Abschiebungsverbot in Bezug auf den Kläger und den Herkunftsstaat Albanien fest.

 

Der Beklagte gewährte zunächst Grundleistungen nach § 3 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG). Mit Bescheid vom 17. Juli 2018 bewilligte er der Familie sogenannte "Analogleistungen" nach § 2 AsylbLG ab dem 1. August 2018. Auf den dagegen eingelegten Widerspruch verpflichtete die Landesdirektion Sachsen den Beklagten zur erneuten Entscheidung unter Berücksichtigung seiner im Widerspruchsbescheid vom 28. März 2019 dargelegten Rechtsansichten. Demnach habe die Familie Anspruch auf Analogleistungen nach § 2 AsylbLG bereits ab dem 1. April 2018, da die Wartefrist von 15 Monaten Ende März 2018 abgelaufen sei. Darüber hinaus habe der Beklagte zu ermitteln, ob dem Kläger Leistungen der Hilfe zur Pflege zustünden. Daraufhin bewilligte der Beklagte der Familie, darunter dem Kläger, mit Bescheid vom 6. Juni 2019 Leistungen nach § 2 AsylbLG bereits ab dem 1. April 2018 und informierte darüber, dass er den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) darum gebeten habe, den Pflegebedarf des Klägers einzuschätzen. Dieser leidet ausweislich des Behandlungsberichts des Klinikums "Y.... " Z....  vom 13. April 2017 unter einer kombinierten umschriebenen Entwicklungsstörung bei Mikrozephalie und spastischer Zerebralparese, Blindheit und hochgradiger Sehbehinderung (binokular) bei anamnestisch bekannter Epilepsie. Aufgrund seiner chronischen Erkrankungen ist der Kläger seit dem 22. Mai 2018 anerkannter Schwerbehinderter mit einem Grad der Behinderung von 100. Sein Schwerbehindertenausweis ist mit den Merkzeichen "G", "aG", "H" und "B" versehen.

 

Am 29. Juni 2018 wurde für den Kläger ein Antrag auf Leistungen der Eingliederungshilfe gestellt. Die Unterschriftenleiste für seine um Unterzeichnung gebetenen Eltern war mit Hinweisen zum Ankreuzen versehen. Da weder diese noch ihre Kinder über Deutschkenntnisse verfügten, zog der Beklagte zur Sachaufklärung Dolmetscher hinzu, beispielsweise zur Untersuchung des Klägers am 28. August 2018, um ein amtsärztliches Zeugnis für die beantragten Leistungen der Eingliederungshilfe zu erstellen bezogen auf dessen Integration in eine heilpädagogische Tagesgruppe in der Heilpädagogischen Tagesstätte "X.... " in W.... . Der Beklagte bewilligte die beantragte Maßnahme der Eingliederungshilfe mit Bescheid vom 25. September 2018. Der MDK empfahl in seinem Gutachten vom 6. Juni 2019, dem Kläger Leistungen nach dem Pflegegrad 5 ab dem 1. Mai 2019 zu gewähren. Dem entsprechend erging der Bescheid vom 9. Juli 2019: der Beklagte bewilligte dem Kläger Leistungen der Hilfe zur Pflege in Form eines Pflegegeldes in Höhe von 901 Euro monatlich aufgrund seiner Zuordnung zum Pflegegrad 5 ab dem 1. Mai 2019. Dagegen legte der Kläger am 5. August 2019 Widerspruch ein. Ihm sei Pflegegeld bereits ab dem Zeitpunkt seiner Zuweisung zum Beklagten zu gewähren, somit ab Juni 2017. Auf die Nachfrage des Beklagten teilte der MDK am 19. Dezember 2019 mit, dass die Voraussetzungen zur Zuordnung des Klägers zum Pflegegrad 5 nach den relevanten Unterlagen bereits im März 2019 vorgelegen hätten. Daraufhin half die Landesdirektion Sachsen dem Widerspruch des Klägers teilweise ab und bewilligte Pflegegeld im Rahmen der Hilfe zur Pflege nach dem Pflegegrad 5 bereits ab dem 26. März 2019. Im Übrigen wies die Landesdirektion den Widerspruch zurück (Teilabhilfe- und Widerspruchsbescheid vom 28. Januar 2020). Zwar teile die Widerspruchsbehörde die Ansicht des Klägers, wonach der Beklagte bereits im Juni 2017 Kenntnis erlangt habe über den Gesundheitszustand des Klägers. Deshalb seien schließlich zutreffend Leistungen der Eingliederungshilfe erbracht worden, um seine Unterbringung in der Heilpädagogischen Tagungsstätte zu ermöglichen.
Anders sei dies jedoch hinsichtlich der Leistungen der Hilfe zur Pflege zu bewerten. Aus den dem Beklagten seit 2017 vorgelegten Befundberichten ergebe sich zwar ein umfassendes Bild über den Gesundheitszustand des Klägers. Allerdings eigneten sich diese nicht, um auf einen Pflegebedarf schließen zu können. Darüber hinaus hätten die Eltern des Klägers förmlich Leistungen der Eingliederungshilfe beantragt, ohne zugleich auf den offenbar bestehenden Pflegebedarf hinzuweisen. Deshalb dürfe davon ausgegangen werden, dass die Pflege des Klägers vor dem 26. März 2019 aus den finanziellen Mitteln der Familie sichergestellt worden sei und gegenwärtig kein ungedeckter Bedarf mehr bestehe, welcher durch eine nachträgliche Leistungsgewährung zu decken sei. Der Beklagte setzte die Vorgaben der Widerspruchsbehörde im Bescheid vom 5. März 2020 um und bewilligte dem Kläger Leistungen der Hilfe zur Pflege nach dem Pflegegrad 5 bereits ab dem 26. März 2019. Für die Zeit bis zum 30. April 2019 zahlte er dem Kläger 1.051,17 Euro nach.

 

Daraufhin hat sich der Kläger an das Sozialgericht Chemnitz gewandt mit der am 2. März 2020 erhobenen Klage. Er meinte, er könne Leistungen der Hilfe zur Pflege bereits seit seiner Zuweisung zum Beklagten am 26. Juni 2017 beanspruchen, da diesem sein Gesundheitszustand seither bekannt gewesen sei. Ein ausdrücklicher Leistungsantrag sei nicht erforderlich. Zudem obliege es dem Beklagten als Sozialleistungsträger, die Betroffenen zu beraten und gegebenenfalls auf eine Antragstellung hinzuwirken. Den Antrag auf Leistungen der Eingliederungshilfe hätten Mitarbeiter der sozialen Betreuung in der Gemeinschaftsunterkunft, wo die Familie von Juni 2017 bis Anfang Mai 2019 gelebt habe, für die Eltern des Klägers ausgefüllt. Der Bedarf an Pflegeleistungen sei außerdem ausdrücklich gegenüber der Krankenkasse im Jahr 2018 geltend gemacht worden. Gemäß § 16 Abs. 2 Satz 1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) sei zumindest dieser Zeitpunkt heranzuziehen zur Antwort auf die Frage, wann der Beklagte vom Pflegebedarf des Klägers Kenntnis erlangt haben könnte.

 

Das Sozialgericht hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 30. März 2021). Zur Begründung hat es zunächst auf die Begründung des Widerspruchsbescheides Bezug genommen gemäß § 136 Abs. 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG), da es dieser vollumfänglich folge. Ergänzend hat das Sozialgericht ausgeführt, dass für das Einsetzen der Sozialhilfe gemäß § 18 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) die positive Kenntnis aller Tatsachen erforderlich sei, damit der Leistungsträger dazu in der Lage sei, die Leistungen zu erbringen. Zwar müsse die Behörde noch keine Kenntnis von der konkreten Höhe oder vom genauen Umfang der Leistung haben. Allerdings müsse sich diese auf den konkreten Einzelfall beziehen und werde nicht allein dadurch vermittelt, dass die Entstehung eines sozialhilferechtlichen Bedarfs in bestimmten Situationen üblich sei (Bezug auf Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 2. Februar 2012 – B 8 SO 5/10 R und SächsLSG, Urteil vom 6. März 2013 – L 8 SO 4/10). Auch die bloße Vermutung oder entfernte Möglichkeit eines Notfalls sei für das Einsetzen der Sozialhilfe nicht ausreichend. Der Sozialhilfeträger sei nicht gehalten, die Notwendigkeit der Hilfe zu erahnen. Vielmehr müssten hinreichend konkrete Anhaltspunkte für eine Notlage sprechen (Bezug auf LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 25. November 2010 – L 1 SO 8/10). Demnach sei es dem Beklagten nach der Ansicht des Sozialgerichts nicht möglich gewesen, aufgrund der "bloßen Kenntnis" des Gesundheitszustands des Klägers Rückschlüsse auf den Pflegebedarf zu ziehen. Dabei sei zu berücksichtigen, dass die Familie des Klägers im hier relevanten Zeitraum vom 28. Juni 2017 bis zum 31. März 2018 in einem Wohnheim untergebracht gewesen sei unter ständiger Betreuung des dortigen Personals. Aus den Anträgen auf Sozialhilfe vom 29. Juni 2018 und vom 12. Juli 2017 hätten sich keine Hinweise auf eine Pflegebedürftigkeit des Klägers ergeben, obwohl es nach der Auffassung des Sozialgerichts unschwer möglich gewesen sei, solche auf den Antragsvordrucken vorzunehmen. Der Beklagte habe zudem nicht gewusst, dass die Krankenkasse des Klägers Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) mit Bescheid vom 4. Dezember 2018 abgelehnt habe. Dieser Bescheid sei allerdings mit dem Hinweis versehen worden, dass beim zuständigen Sozialamt eine Pflegehilfe beantragt werden könne. Aus der Anzeige der Kindeswohlgefährdung gegenüber dem Jugendamt habe sich ebenfalls kein Anhalt für einen Pflegebedarf ergeben. Vielmehr habe der Beklagte aufgrund des Schreibens der Kinderärztin vom 18. Juni 2018 dem darin erwähnten Pflege- und Unterbringungsbedarf Rechnung getragen, in dem er die Kosten der Eingliederung des Klägers in der Heilpädagogischen Kindertagesstätte Rechnung getragen habe. Entscheidend sei außerdem, dass die Sozialhilfe der Deckung gegenwärtiger Bedarfe diene. Ein ungedeckter Bedarf bestehe für die Zeit vom 1. April 2018 bis zum 25. März 2019 offensichtlich nicht. Denn rückwirkend könne der Kläger nicht mehr gepflegt werden und nunmehr nachgezahlte Geldbeträge über das laufend gewährte Pflegegeld hinaus seien nach der Ansicht des Sozialgerichts nicht bedarfsgerecht. Das Datum des Antrags auf Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung müsse sich der Beklagte nicht zurechnen lassen. Erst mit der Feststellung des Pflegebedarfs habe der Beklagte die volle Kenntnis über die für das Pflegegeld erheblichen Umstände gehabt, meinte das Sozialgericht abschließend.

 

Gegen das ihm am 19. Mai 2021 zugestellte Urteil wendet sich der Kläger mit der am 16. Juni 2021 beim Sächsischen Landessozialgericht eingelegten Berufung. Er geht nach wie vor davon aus, dass der Beklagte dazu gehalten gewesen sei, die Eltern des Klägers zu beraten und gegebenenfalls auf eine erforderliche Antragstellung hinzuwirken. Aufgrund der vorliegenden Unterlagen hätten sich darüber hinaus genügend Hinweise auf einen Pflegebedarf des Klägers ergeben. Deshalb sei der Beklagte dazu gehalten gewesen, Maßnahmen zur Sachaufklärung zu ergreifen. Jedenfalls sei das Datum des Antrags auf Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung nach § 16 Abs. 2 Satz 1 SGB I als Zeitpunkt heranzuziehen, in welchem der Beklagte vom Pflegebedarf des Klägers Kenntnis erlangt habe.

 

 

Der Kläger beantragt sinngemäß,

 

den Beklagten unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Chemnitz vom
30. März 2021 sowie unter Änderung des Bescheides des Beklagten vom
9. Juli 2019 in der Fassung des Teilabhilfe- und Widerspruchsbescheides vom
28. Januar 2020 sowie des Bescheides vom 5. März 2020 zu verurteilen, Leistungen der Hilfe zur Pflege in Form eines Pflegegeldes auch für die Zeit vom 1. April 2018 bis zum 25. März 2019 zu erbringen.

 

 

Der Beklagte beantragt,

 

            die Berufung zurückzuweisen.

 

 

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

 

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf die beigezogene Verwaltungsakte verwiesen, die Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.

 

 

 

 

 

 

Entscheidungsgründe

 

Der Senat konnte über die Berufung des Klägers durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da sich die Beteiligten zuvor damit einverstanden erklärt haben (§§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG).

 

Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143, 151 SGG) erweist sich als begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen, denn der Kläger hat Anspruch auf Leistungen der Hilfe zur Pflege in Form eines Pflegegeldes auch für die Zeit vom 1. April 2018 bis zum 25. März 2019. Gegenstand des Berufungsverfahrens ist der Bescheid vom 9. Juli 2019 in der Fassung des Teilabhilfe- und Widerspruchsbescheides vom 28. Januar 2020 sowie des Bescheides vom 5. März 2020 (§ 95 SGG). Der Bescheid vom 5. März 2020, der nach Erlass des Teilabhilfe- und Widerspruchsbescheides vom
28. Januar 2020 ergangen ist, ist Gegenstand des Klageverfahrens geworden (§ 96 SGG), da er die Verfügungen des Bescheides vom 9. Juli 2019 über die Gewährung von Leistungen der Hilfe zur Pflege teilweise abgeändert und ersetzt hat. Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§§ 54 Abs. 1, Abs. 4; 56 SGG).

 

Der Beklagte ist sachlich zuständig (§ 10 AsylbLG in Verbindung mit § 2 Abs. 2 des Gesetzes zur Aufnahme und Unterbringung von Flüchtlingen im Freistaat Sachsen [Sächsisches Flüchtlingsaufnahmegesetz vom 25. Juni 2007 – SächsFlüAG - in der Fassung des Gesetzes vom 14. Dezember 2018 – SächsGVBl. S. 782]). Seine örtliche Zuständigkeit ergibt sich aus der Zuweisungsentscheidung der Landesdirektion Sachsen als Zentrale Ausländerbehörde nach § 10a AsylbLG in Verbindung mit § 7 Abs. 1 SächsFlüAG.

 

Dem Kläger stehen Leistungen der Hilfe zur Pflege bereits ab dem 1. April 2018 zu. Nach § 2 AsylbLG in Verbindung mit §§ 19 Abs. 3 SGB, 61 SGB XII werden Leistungen der Hilfe zur Pflege nach dem Fünften bis Neunten Kapitel des SGB XII geleistet, soweit den Leistungsberechtigten, ihren nicht getrennt lebenden Ehegatten oder Lebenspartnern und, wenn sie minderjährig und unverheiratet sind, auch ihren Eltern oder einem Elternteil die Aufbringung der Mittel aus dem Einkommen und Vermögen nach den Vorschriften des Elften Kapitels des SGB XII nicht zuzumuten ist. Der Kläger ist pflegebedürftig im Sinne des § 61a SGB XII. Dies ergibt sich unzweifelhaft aufgrund des Gutachtens des MDK vom
6. Juni 2019 und wird auch von den Beteiligten selbst nicht in Abrede gestellt. Die Zuordnung des Klägers zum Pflegegrad 5 erscheint unter Berücksichtigung der im Gutachten aufgezeigten schwersten Beeinträchtigungen der Selbständigkeit sowie der Fähigkeitsstörungen und des mitgeteilten Unterstützungsbedarfs plausibel. Dem Kläger und seinen Eltern ist es nach den ermittelten persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht möglich, den erforderlichen Leistungen zur Deckung des Hilfebedarfs selbst zu finanzieren. Davon geht auch der Beklagte zutreffend aus.

 

Im Gegensatz zur Ansicht des Sozialgerichts kann der Kläger Leistungen der Hilfe zur Pflege in Form eines Pflegegeldes nach dem Pflegegrad 5 bereits seit dem 1. April 2018 beanspruchen. Nach § 18 SGB XII setzt die Sozialhilfe ein, sobald dem Träger der Sozialhilfe bekannt wird, dass die Voraussetzungen für die Leistung vorliegen. "Bekanntwerden" in diesem Sinne bedeutet, dass die Notwendigkeit einer Leistung der Sozialhilfe also solche dargetan oder sonst erkennbar ist (Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 28. August 2018 – B 8 SO 9/17 R – juris Rn. 18; Urteil vom 2. Februar 2012 – B 8 SO 5/10 R – juris Rn. 18). Dabei braucht sich die Kenntnis nicht auf die Höhe der zu erbringenden Leistung, sondern allein auf den Bedarf und die Hilfebedürftigkeit zu erstrecken; ausreichend ist mithin, dass die Träger der Sozialhilfe Kenntnis von dem Bedarfsfall als solchem haben (BSG, Urteil vom 10. November 2011 – B 8 SO 18/10 R – juris Rn. 21). Die Kenntnis im Sinne des § 18 SGB XII wird somit durch die positive Kenntnis vom spezifischen Bedarfsfall vermittelt, nicht erst durch den konkreten finanziellen Bedarf. Die Bewilligung von Sozialhilfe ist demnach formal nicht von einem Antrag abhängig. Da § 18 SGB XII zum Schutz des Hilfebedürftigen einen niedrigschwelligen Zugang zum Sozialhilfesystem sicherstellen will, ist es für das Einsetzen der Sozialhilfe vielmehr ausreichend, dass die Notwendigkeit der Hilfe dargetan oder sonst erkennbar ist (BSG, Urteil vom 28. August 2018 – B 8 SO 9/17 R – juris Rn. 18).

 

Die Sozialhilfeträger sind nach Kenntniserlangung von einem Bedarfsfall verpflichtet, den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln gemäß § 20 SGB X (BSG, Urteil vom 28. August 2018 – B 8 SO 9/17 R – juris Rn. 18; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 7. Februar 2019 – L 15 SO 183/15 – juris Rn. 83), wenn begründete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass ein Leistungsfall vorliegt. Klären Sozialhilfeträger den Sachverhalt unzureichend auf oder machen Leistungsberechtigte ihren Bedarf allein deshalb nicht geltend, weil die Träger der Sozialhilfe ihrer gebotenen Beratungspflicht nicht nachgekommen sind, und erhalten die Sozialhilfeträger deshalb keine Kenntnis vom Vorliegen der Leistungsvoraussetzungen, haben Leistungsberechtigte gegen den Sozialhilfeträger einen Sekundäranspruch auf Kostenerstattung hinsichtlich des von ihnen selbst gedeckten Bedarfs. In solchen Fällen sind Leistungsberechtigte finanziell so zu stellen, als wäre der Bedarf erkannt bzw. bei ordnungsgemäßer Beratung rechtzeitig geltend gemacht worden (Hohm in: Schellhorn/Hohm/Scheider/Legros, SGB XII, 20. Aufl. 2020, § 18 Rn. 7.1; SG Stade, Urteil vom 21. März 2012 – S 19 SO 27/10 – juris Rn. 15).

 

Damit dürfte der Hinweis des Sozialgerichts auf den Bedarfsdeckungsgrundsatz und mögliche Leistungen für die Vergangenheit im Falle des Klägers nicht einschlägig sein. Mit dem Kläger ist davon auszugehen, dass der Beklagte bereits deutlich früher als im März 2019 davon Kenntnis erlangt hat, dass ihm Leistungen der Hilfe zur Pflege zustehen könnten. So führt Frau V....  – SG Allgemeiner Sozialer Dienst des Beklagten – in ihrer Mail vom 16. Juli 2018 aus, dass die Entwicklung des Klägers mit der eines Neugeborenen vergleichbar sei. Die motorischen Fähigkeiten befänden sich auf unterster Stufe, die Kommunikation im nichtintentionalen Entwicklungsstand. Die Kindesmutter sei mit der Betreuung des behinderten Sohnes sehr eingespannt. Entsprechende Hinweise waren bereits dem Bericht des U....  Klinikums T....  vom 8. Januar 2018 zu entnehmen. Demnach war der Kläger nicht dazu in der Lage, sich gezielt zu bewegen, bis auf das gelegentliche Anheben der Beine aus der Rückenlage. Ausweislich des ärztlichen Zeugnisses vom 6. September 2018 von Frau S.... , Jugendärztin im Gesundheitsamt des Beklagten, bestehe beim körperlich und geistig behinderten Kläger ein vorrangiger Pflegebedarf (Rubrik 2b). Ferner erfolgte der Hinweis, dass er "Windelträger" sei (Rubrik 1). Das MDK-Gutachten vom 6. Juni 2019 bestätigt eine komplette Harn- und Stuhlinkontinenz. Der Kläger sei praktisch blind, könne nicht sitzen, seinen Kopf nicht halten, werde von den Eltern getragen, außerhalb der Wohnung in der Babytrage, liege am Tag auf der Decke. Der Beklagte dürfte bereits aufgrund des Berichts des U....  Klinikums T....  dazu gehalten gewesen sein, den Sachverhalt von Amts wegen nach § 20 SGB X weiter aufzuklären.

 

Demgegenüber kommt es nicht darauf an, dass die Eltern des Klägers Leistungen der Hilfe zur Pflege nicht ausdrücklich beantragt haben. Grundsätzlich setzen Sozialhilfeleistungen keinen Antrag voraus (s.o), und es ist angesichts der in den erwähnten Berichten dargestellten persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Eltern des Klägers davon auszugehen, dass diese zunächst nicht gewusst haben, dass sie Leistungen der Hilfe zur Pflege erhalten könnten. Darüber hinaus konnten sie sich seinerzeit nicht hinreichend auf Deutsch verständigen, weshalb der Beklagte bei den Begutachtungen Dolmetscher hinzugezogen hat. Der Hinweis des Sozialgerichts auf das Betreuungspersonal in der Gemeinschaftsunterkunft geht fehl. Denn dieses Personal ist nicht entsprechend ausgebildet, um die rechtliche Tragweite von Anträgen auf Sozialleistungen fachgerecht einschätzen zu können. Der Beklagte hatte aufgrund der vorliegenden Unterlagen Anfang des Jahres 2018 hinreichenden Anlass, den möglichen Pflegebedarf des Klägers zu erforschen, nachdem die erwähnten Behandlungs- und Entwicklungsberichte seine sehr schwierige Situation deutlich geschildert hatten. Der Kläger bezieht seit dem 1. April 2018 Leistungen nach§ 2 AsylbLG. Erst von diesem Zeitpunkt an sind Leistungen der Hilfe zur Pflege möglich. Zwar hat der MDK bestätigt, dass der Pflegebedarf nach dem Pflegegrad 5 bereits im März 2019 bestanden hat. Er hat allerdings nicht ausgeschlossen, dass diese Voraussetzungen zu einem noch früheren Zeitpunkt vorgelegen haben. Nach den vorliegenden Behandlungs- und Entwicklungsberichten ist der Senat davon überzeugt, dass der Kläger bereits am 1. April 2018 pflegebedürftig gewesen ist unter Zuordnung zum Pflegegrad 5; zumal seine schwersten Behinderungen bereits seit seiner Geburt bestehen.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

 

Die Nichtzulassung der Revision folgt aus § 160 Abs. 2 SGG.

 

 

Rechtskraft
Aus
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