Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 13. Januar 2021 aufgehoben.
Der Beklagte wird unter Abänderung seines Bescheides vom 5. November 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Januar 2019 und des Ausführungsbescheides vom 3. Februar 2021 verpflichtet, zugunsten des Klägers ab dem 17. September 2018 die Voraussetzungen des Merkzeichens aG (außergewöhnliche Gehbehinderung) festzustellen.
Der Beklagte hat dem Kläger dessen notwendige außergerichtliche Kosten des gesamten Verfahrens in vollem Umfang zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten jetzt noch über die Zuerkennung des Merkzeichens aG.
Der im Jahr 1940 geborene Kläger leidet vor allem unter den Folgen eines Post-Polio-Syndroms sowie unter weiteren insbesondere orthopädischen Funktionsbeeinträchtigungen.
Mit Bescheid vom 23. Juli 2014 stellte der Beklagte bei dem Kläger einen Grad der Behinderung von 70 fest, lehnte indessen die Zuerkennung des Merkzeichens aG ab. Ein Neufeststellungsantrag des Klägers vom 11. Juli 2017 blieb erfolglos, der Ablehnungsbescheid des Beklagten vom 4. Oktober 2017 wurde bestandskräftig.
Am 17. September 2018 beantragte der Kläger erneut die Neufeststellung seines Grades der Behinderung und die Zuerkennung des Merkzeichens. Nach Durchführung medizinischer Ermittlungen lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 5. November 2018 und Widerspruchsbescheid vom 16. Januar 2019 diesen Antrag ab.
Mit seiner zudem Sozialgericht Cottbus erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Ziel weiter. Mit Teilanerkenntnis vom 26. Juni 2020, ausgeführt mit Ausführungsbescheid vom 3. Februar 2021, hat der Beklagte mit Wirkung vom 24. Oktober 2019 einen Gesamtgrad der Behinderung von 80 anerkannt. Die Zuerkennung des Merkzeichens ist weiterhin streitig geblieben.
Aufgrund richterlicher Beweisanordnung hat am 11. Oktober 2020 der Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie Dr. W ein medizinisches Sachverständigengutachten erstattet. Darin ist er zu der Einschätzung gelangt, bei dem Kläger bestünden schwerwiegende Teillähmungen des linken Beins. Er sei indessen nicht einem Oberschenkelamputierten oder einem Hüftexartikulierten gleichzustellen, ebenso wenig einem Querschnittsgelähmten oder Doppel-Oberschenkelamputierten. Die Benutzung eines Rollstuhls sei bei dem Kläger medizinisch nicht notwendig. Der Kläger könne sich auch ohne fremde Hilfe und mit mittleren Anstrengungen zu Fuß unter Nutzung einer Unterarm-Gehstütze über eine Strecke von 1500 m innerhalb von 30 Minuten fortbewegen. Mit zwei Unterarmgehstützen könne er mit mittleren Anstrengungen 2000 m innerhalb von 30 Minuten zurücklegen.
Unter anderem gestützt auf das vorgenannte medizinische Sachverständigengutachten hat das Sozialgericht mit Urteil vom 13. Januar 2021 die Klage abgewiesen, weil es die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens aG als nicht gegeben ansah.
Mit seiner Berufung zu dem Landessozialgericht verfolgt der Kläger sein Ziel weiter, die Zuerkennung des vorgenannten Merkzeichens zu erreichen. Er macht geltend, er könne sich schon auf den ersten Metern nach Verlassen eines Kraftfahrzeuges im öffentlichen Straßenraum nur mit großer Anstrengung oder mit fremder Hilfe fortbewegen. Allein der mobilitätsbedingte Grad der Behinderung sei in seinem Fall mit dem Wert von 80 zu bemessen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 13. Januar 2021 aufzuheben sowie den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 5. November 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Januar 2019 und des Ausführungsbescheides vom 3. Februar 2021 zu verpflichten, bei dem Kläger mit Wirkung vom 17. September 2018 die Voraussetzungen des Merkzeichens aG festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung auch vor dem Hintergrund der weiteren Beweiserhebung für zutreffend und beruft sich dabei ergänzend auf die versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 6. Dezember 2021, auf die hinsichtlich der weiteren Einzelheiten Bezug genommen wird.
Auf Antrag des Klägers gemäß § 109 SGG (SGG) hat der Senat Beweis erhoben durch Einholung des medizinischen Sachverständigengutachtens des Facharztes für Orthopädie und Unfallchirurgie Privatdozent Dr. Sch. In seinem Gutachten vom 4. Oktober 2021 ist der Sachverständige zu der Einschätzung gelangt, die subtotale Teillähmung des linken Beines des Klägers, die Spinalkanalstenose der Lendenwirbelsäule und die Einschränkung der Beweglichkeit im rechten Hüftgelenk wirkten sich erheblich negativ auf die Gehfähigkeit des Klägers aus. Durch die Körperschäden sei auch bei Gebrauch einer rechtsseitigen Gehhilfe die Fortbewegung nur in Fehlhaltung möglich und auf kürzeste Strecken eingeschränkt.
Die ermittelte mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung entspreche einem Grad der Behinderung von 80. Wegen der Schwere seiner Behinderungen könne sich der Kläger auf öffentlichem Straßenland praktisch von den ersten Schritten außerhalb eines Kraftfahrzeuges an dauernd nur mit großer Anstrengung bei häufigen Pausen fortbewegen. Seit September 2018 sei eine Beschwerdezunahme im rechten Knie und im Hüftgelenk mit weiterer Einschränkung der Gehstrecke eingetreten.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach-und Streitstands wird Bezug genommen auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie auf die Verwaltungsakten des Beklagten, die dem Senat bei seiner Entscheidung vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Eine Entscheidung im schriftlichen Verfahren durch den Vorsitzenden des Senats als Berichterstatter konnte gemäß § 155 Absätze 3 und 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ergehen, weil sich die Beteiligten hiermit einverstanden erklärt haben und diese Entscheidungsweise als zweckmäßig erscheint.
Die Berufung des Klägers ist zulässig, insbesondere statthaft gemäß § 144 SGG.
Sie hat auch in der Sache Erfolg, denn die Voraussetzungen für die Feststellung des begehrten Merkzeichens liegen vor.
Gemäß § 229 Abs. 3 S. 1 SGB Neuntes Buch (SGB IX) sind schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung Personen mit einer erheblichen mobilitätsbezogenen Teilhabebeeinträchtigung, die einem Grad der Behinderung von mindestens 80 entspricht. Nach S. 2 der Vorschrift liegt eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung vor, wenn sich die schwerbehinderten Menschen wegen der Schwere ihrer Beeinträchtigung dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeugs bewegen können.
Diese Voraussetzungen sind im Fall des Klägers durchweg erfüllt. Einerseits leidet er unter einer erheblichen mobilitätsbezogenen Teilhaber Beeinträchtigung, die einem Grad der Behinderung von jedenfalls 80 entspricht. Außerdem kann er sich wegen der Schwere dieser Beeinträchtigungen auf Dauer nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen.
Diese Überzeugung des Senats gründet sich auf das Gesamtergebnis des Verfahrens, § 128 Abs. 1 Satz 2 SGG, insbesondere auch auf das medizinische Sachverständigengutachten des Facharztes für Orthopädie und Unfallchirurgie Privatdozent Dr. Sch vom 4. Oktober 2021. Hiernach hat der Senat keine Zweifel daran, dass die erheblichen mobilitätsbezogenen teils orthopädischen, teils neurologisch bedingten Einschränkungen des Klägers zu einer mobilitätsbezogenen Teilhabebeeinträchtigung von 80 führen. Der von dem Kläger inzwischen erreichte Gesamtgrad der Behinderung desselben Wertes findet sich bereits in vollem Umfang auf mobilitätsbezogenem Gebiet als erfüllt.
Zugleich hat der Senat auch keine Zweifel, dass aufgrund der vorgenannten mobilitätsbezogenen Beeinträchtigungen die Fortbewegungsfähigkeit des Klägers so weit eingeschränkt ist, dass er sich schon ab den ersten Metern nach Verlassen eines Kraftfahrzeuges nur mit fremder Hilfe oder aber mit sehr großer Anstrengung fortbewegen kann. Dem steht nicht entgegen, dass der Sachverständige Dr. Wagner in seinem Gutachten vom 11. Oktober 2020 zu einer anderen Einschätzung gelangt war. Abgesehen davon, dass sich der Sachverständige hier noch an Bewertungskriterien orientiert hat, die nach Einführung der Vorschrift des §§ 229 Abs. 3 SGB IX nicht mehr dem geltenden Recht entsprechen, sind auch die durch ihn getroffenen medizinischen Feststellungen durch das durchweg sehr überzeugende Sachverständigengutachten des Privatdozenten Dr. Sch, das sich sehr sorgfältig und kritisch mit den abweichenden Einschätzungen des Gutachtens des Dr. W auseinandersetzt, widerlegt.
Auch die versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 6. Dezember 2021 vermag hier nicht zu einer anderen Einschätzung zu führen, denn sie berücksichtigt nicht die von dem Sachverständigen aufgrund eigener Anschauung herausgearbeitete Wechselwirkung der unterschiedlichen Funktionsbeeinträchtigungen des Klägers, die insgesamt bereits zu einem mobilitätsbezogenen Grad der Behinderung von 80 und nicht nur, wie von der versorgungsärztlichen Stellungnahme angenommen, von lediglich 70 führen.
Zugleich ist der Senat auch zu der Überzeugung gelangt, dass diese Funktionsbeeinträchtigungen und die auf ihnen beruhenden Folgen bereits seit Antragstellung am 17. September 2018 vor liegen, weil nach diesem Zeitpunkt nach den medizinischen Feststellungen keine grundlegende Veränderung des medizinischen Sachverhalts eingetreten ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens in der Sache selbst. Auch wenn der Kläger im Hinblick auf den Zeitpunkt der Zuerkennung des höheren Grades der Behinderung teilweise unterlegen ist, wirkt sich dies auf die Frage der Kostentragung nicht entscheidungserheblich aus.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe gemäß § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.