L 6 SB 2982/19

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6.
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 20 SB 6741/17
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 SB 2982/19
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 25. Juli 2019 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.   


Tatbestand


Die Klägerin begehrt die Neufeststellung des Grades der Behinderung (GdB) mit mindestens 50.

Sie ist griechische Staatsangehörige und 1969 in D geboren. Aufgewachsen ist sie bei ihren Großeltern in G. Dort hat sie die Hauptschule besucht, über eine Berufsausbildung verfügt sie nicht. Mit 17 Jahren ist sie zum ersten Mal Mutter geworden und mit 18 Jahren zusammen mit ihrem Ehemann nach D zurückgekehrt. Beschäftigt war sie als Produktionsarbeiterin in einer Metallfabrik bis zu ihrer Kündigung im Rahmen eines Sozialplans im Jahr 2015, danach war sie nochmals als Produktionsarbeiterin bis Februar 2016 beschäftigt. Nach einer 15-monatigen krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit bezog sie vom 1. September 2017 bis zum 31. Dezember 2019 Rente wegen voller Erwerbsminderung. Sie ist verheiratet und Mutter von zwei erwachsenen Söhnen, ihr Ehemann ist Lagerarbeiter. Mit diesem und einem ihrer Söhne bewohnt sie eine 112 qm große Wohnung zur Miete. Ihren Hobbys – Lesen und Sport – geht sie nur noch selten nach (vgl. ärztlicher Entlassungsbericht der V Klinik und Sachverständigengutachten des L).

Am 26. Februar 2007 beantragte die Klägerin beim Landratsamt B (LRA) die Erstfeststellung des GdB und gab als zu berücksichtigende Gesundheitsstörungen eine HIV-Infektion, am linken Auge eine Retinitis durch Viren der Herpesgruppe bei HIV-Infektion und am rechten Auge eine HIV-Mikrangiopathie an. Dem Antrag fügte sie mehrere ärztliche Unterlagen bei.

Der Bericht des Klinikum S, Zentrum für Innere Medizin, über die stationäre Behandlung vom 27. bis zum 29. September 2006 nannte als Diagnosen Retinitis durch Herpesvieren bei HIV-Infektion (Erstdiagnose), HIV-Infektion und Leukopenie medikamentös induziert ohne nähere Angabe. Die stationäre Aufnahme sei wegen einer neu diagnostizierten HIV-Infektion erfolgt, zuvor sei in der Aklinik eine Retinitis durch Herpesviren festgestellt und anbehandelt worden. Eine B-Symptomatik oder Infektzeichen hätten nicht vorgelegen. Die Klägerin sei in einem guten Allgemein- und Ernährungszustand gewesen, der Blutdruck habe 130/80 mmHg betragen, der neurologische Untersuchungsbefund sei unauffällig, die Lunge auskultatorisch frei, das Abdomen weich und die Darmgeräusche regelgerecht gewesen.

Aus dem Bericht des Klinikum S, Aklinik, über die stationäre Behandlung vom 19. bis zum 27. September 2006 ergab sich die Diagnose einer Retinitis durch Herpesviren bei HIV-Infektion (Erstdiagnose) am linken Auge. Die HIV-Infektion sei im Rahmen der Netzhauterkrankung erstdiagnostiziert worden, die Klägerin habe ausdrücklich keine Berichterstattung an ihren Haus- oder Augenarzt gewünscht, ebenso hätten keine Informationen an die Angehörigen (insbesondere an ihre Kinder) weitergeben werden sollen. Ihren Ehemann, ihre Schwester und ihre Cousine habe sie selbst informiert.

Der zusammenfassende Arztbericht des Klinikum S, Aklinik, führte als augenärztliche Diagnosen linkes Auge: Retinitis durch Viren der Herpesgruppe bei HIV-Infektion und rechtes Auge: HIV-Mikrangiopathie auf. Der Visus habe rechts 0,9 und links 0,2 betragen. Vom klinischen Befund sei zwischenzeitlich eine deutliche Besserung eingetreten, die Retinitis sei in Abheilung begriffen gewesen.

Beim Röntgen des Thorax in zwei Ebenen am 20. September 2006 habe sich nach dem Bericht des Klinikum S, Zentrum für Radiologie, ein altersentsprechender unauffälliger Herz-/Lungenbefund ergeben.

Versorgungsärztlich bewertete K eine erworbene Immunschwäche und eine Sehminderung mit einem Einzel-GdB von 30, der dem Gesamt-GdB entsprach.

Das LRA stellte daraufhin durch Bescheid vom 26. März 2007 einen GdB von 30 seit dem 26. Februar 2007 fest.

Die Klägerin erhob hiergegen Widerspruch und legte zu dessen Begründung die ärztliche Bescheinigung des U, vor, wonach ein GdB von 30 ihrer tatsächlichen Erkrankung nicht entspreche. Es liege nicht nur eine erworbene Immunschwäche vor, sondern mit der CVM-Retinitis sei im Herbst 2006 AIDS ausgebrochen. Diesem Ausbruch sei eine zweijährige Phase mit zunehmender, zuletzt extremer Schwäche und Müdigkeit vorausgegangen. Mit der heute möglichen, auch bei der Klägerin eingesetzten Therapie könne das Krankheitsbild zwar weitgehend beherrscht werden, aber eine überdurchschnittliche Kraftlosigkeit und Erschöpfbarkeit bleibe oft jahre-, mitunter lebenslang. Hinzukomme, dass die notwendigen Medikamente mitochondrial toxisch seien. Die Teilhabe der Klägerin am Leben in der Gesellschaft werde dadurch voraussichtlich auf Jahre beeinträchtigt sein. Wegen der schnelleren Erschöpfbarkeit sei es auch unwahrscheinlich, dass sie ohne zusätzliche Urlaubstage auskomme.

G1 bewertete versorgungsärztlich nunmehr eine erworbene Immunschwäche und ein psychovegetatives Erschöpfungssyndrom mit einem Einzel-GdB von 30 und eine Sehminderung links mit einem Einzel-GdB von 10. Der Gesamt-GdB betrage 30. Die Funktionseinschränkungen hätten sich unter Therapie gebessert. Die Retinitis habe nach dem aktuellsten augenärztlichen Befund nur links zu einer geringen Einbuße (0,2 ohne Korrektur) geführt, weitere klinische Symptome lägen nicht vor.

Der Beklagte wies hierauf gestützt den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 6. Juli 2007 zurück.

Am 18. Dezember 2007 stellte die Klägerin einen Verschlimmerungsantrag und gab an, neu aufgetreten seien Funktionsbehinderungen am Rücken und an den Gelenken. Sie legte die fachärztliche Bescheinigung des P, vor, aus der sich als Diagnosen eine chronische therapieresistente Cervico-Cephalgo-Brachialgie, chronische therapieresistente Migräneanfälle, eine Periarthropathia humero scapularis beidseits, eine Polyarthralgie beider Hände und beider Füße sowie eine Fußgelenk- und eine Kniegelenkarthralgie jeweils beidseits ergaben. Im gesamten Halswirbelsäulen(HWS)-, Brustwirbelsäulen(BWS)- und Lendenwirbelsäulen(LWS)-Bereich habe ein Hartspann sowie Dornfortsatz-, Klopf- und Druckschmerzen. Der Bewegungsumfang der HWS habe bei Vor-/Rückneigung 30-0-30°, bei der Rechts-/Linksrotation 40-0-40° betragen, das Zeichen nach Ott sei 30/33 cm und nach Schober 10/13 cm gewesen. Die Beweglichkeit beider Schultergelenke sei bei Außen-/Innenrotation 30-0-20° sowie bei Ab-/Adduktion und bei Ante-/Retroflexion jeweils 120-0-20° gewesen. An beiden Händen seien alle Fingergelenke angeschwollen bei durchführbarem Faustschluss und einer Beweglichkeit in der Dorsal-/Palmarflexion und Radial-/Ulnarabduktion von jeweils 30-0-30° gewesen. Beide Hüftgelenke hätten eine Beweglichkeit von Außen-/Innenrotation und Ab-/Adduktion 40-0-30° sowie Ante-/Retroflexion 120-0-0° gezeigt. Die Kniegelenke seien beidseits angeschwollen mit grenzwertiger Ergussbildung bei klinischer Stabilität gewesen, der Bewegungsumfang habe 0-10-90° betragen. Die Füße seien beidseits leicht angeschwollen, die Beweglichkeit für Dorsal-/Plantarflexion 20-0-30° und Pronation/Supination 30-0-20° gewesen.

Versorgungsärztlich bewertete U1 die erworbene Immunschwäche und das psychovegetative Erschöpfungssyndrom mit einem Einzel-GdB von 30, die Sehminderung links mit einem Einzel-GdB von 10, die Funktionsbehinderung der Wirbelsäule (WS) mit einem weiteren Einzel-GdB von 10 und bildete hieraus weiterhin einen Gesamt-GdB von 30.

Durch Bescheid vom 31. Januar 2008 lehnte deshalb das LRA die Neufeststellung des GdB ab. In den Verhältnissen, die der letzten maßgeblichen Feststellung zugrunde gelegen hätten, sei zwar durch das Hinzutreten einer weiteren Funktionsbeeinträchtigung an der WS eine Änderung eingetreten, diese Änderung habe jedoch keine Auswirkung auf die Höhe des Gesamt-GdB gehabt.

Die Klägerin erhob deshalb Widerspruch, zu dessen Begründung sie eine weitere fachärztliche Bescheinigung des P vorlegte, die inhaltlich der bereits vorgelegten Bescheinigung entsprach.

Aus der versorgungsärztlichen Stellungnahme der M ergab sich für die erworbene Immunschwäche und das psychovegetative Erschöpfungssyndrom ein Einzel-GdB von 30, für die Funktionsbehinderung der WS, Nervenwurzelreizerscheinungen und die Gebrauchseinschränkung beider Hände ein Einzel-GdB von 20, für die Sehminderung links ein Einzel-GdB von 10 und ein Gesamt-GdB von 40.

Das LRA stellte daraufhin durch Teil-Abhilfebescheid vom 28. April 2008 einen GdB von 40 seit dem 18. Dezember 2007 fest. Die Klägerin erklärte hierauf den weitergehenden Widerspruch für erledigt.

Den – vorliegend streitgegenständlichen – Neufeststellungantrag vom 15. Mai 2017 begründete die Klägerin mit einer rezidivierenden depressiven Störung, Schlafstörungen, Schmerzen am ganzen Körper, Taubheitsgefühlen und der HIV-Infektion.

Der M1 berichtete von regelmäßigen Konsultationen der Klägerin. Es liege eine HIV-Infektion C3 (ED September 2006, Z. n. CMV-Retinitis) und eine Nikotinabhängigkeit vor. Mit einer antiretroviralen Behandlung habe eine schnelle und nachhaltige Stabilisierung der ursprünglichen im Jahr 2006 bestehenden schweren Erkrankung erzielt werden können. Seit Juli 2007 sei die Viruslast unter der Nachweisbarkeitsgrenze, damit sei auch die Infektiösität entscheidend reduziert. Wiederholt habe sich eine Mikrohämaturie, mehrmals auch bei gleichzeitiger Periodenblutung gezeigt, eine urologische Untersuchung habe außer einer kleinen Zyste in der linken Niere keinen Befund erbracht.

Der Bericht des S1, über die Vorstellung der Klägerin am 10. März 2016 nannte als Diagnose eine chronische Autoimmunthyreoiditis. Aktuell hätten keine Beschwerden, auch nicht hinsichtlich der Augen, bestanden. In Bezug auf die Schilddrüse hätten sich keine wesentlichen Änderungen ergeben.

Die A1 führte im Bericht über die Erstvorstellung der Klägerin am 10. Mai 2016 aus, dass als Diagnosen eine Depression und eine Anpassungsstörung vorgelegen hätten. Im psychischen Befund sei die Klägerin bewusstseinsklar, allseits orientiert, grübelnd gewesen mit dem Gefühl ungerecht behandelt worden zu sein bei Selbstvorwürfen und Einschlafstörungen. Es habe eine innere Unruhe mit Ängsten, dem Gefühl unter ständiger Kontrolle zu sein und sich zensieren zu müssen bestanden. Nicht vorgelegen hätten Wahnvorstellungen, Halluzinationen, Ich-Störungen, ein Interessenverlust, soziale Ängste oder eine akute Suizidalität. Die Klägerin sei deutlich depressiv und antriebsgemindert, sie sei nicht in der Lage gewesen, den allgemeinen Anforderungen des Arbeitsmarktes zu genügen. Unter einer begonnenen Therapie mit Opipramol 100 mg zur Nacht habe eine Verbesserung der Schlafqualität erreicht werden können.

Der ärztliche Entlassungsbericht der V Klinik, B1, über die stationäre Rehabilitationsmaßnahme vom 19. April bis zum 17. Mai 2017 bewertete unter den Diagnosen einer rezidivierenden depressiven Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode, und einer nicht näher bezeichneten HIV-Krankheit (Humane Immundefizienz-Viruskrankheit) das arbeitstägliche Leistungsvermögen der Klägerin sowohl für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Produktionsmitarbeiterin als auch für den allgemeinen Arbeitsmarkt mit drei bis unter sechs Stunden. Bei der Aufnahme habe die Klägerin über Taubheitsgefühle zwischen den Schulterblättern, an beiden Unterarmen und an beiden Unterschenkeln, die meist bei Aufregung aufträten und bei Entspannung wieder verschwänden, berichtet. Ihre depressive Symptomatik sei durch die Entdeckung der HIV-Krankheit ausgelöst worden. Sie leide momentan unter einer bedrückten Stimmung, Antriebslosigkeit, massiven Schlafstörungen und Konzentrationsschwierigkeiten. Oft habe sie auch Angstzustände. Zusätzlich belaste sie, dass sie nicht offen über die HIV-Krankheit reden könne. Vor einem Jahr habe sie sich psychiatrische Hilfe gesucht, eine psychopharmakologische Behandlung sei erfolgt, derzeit finde keine ambulante Richtlinienpsychotherapie statt. Infolge der depressiven Symptomatik fehle ihr häufig die Motivation, sich aufzuraffen und sich aktiv zu beschäftigen. Ihren Hobbys, Lesen und Sport, gehe sie selten nach; bei Haushaltstätigkeiten benötige sie Unterstützung; beim Treffen mit Freunden und Bekannten fühle sie sich schnell überfordert. Der Allgemein- und Ernährungszustand seien gut gewesen, die großen Gelenke aktiv und passiv frei beweglich und an der WS habe bei einem Finger-Boden-Abstand (FBA) von 0 cm kein Druckschmerz über den Dornfortsätzen, der paravertebralen Muskulatur und dem ISG bestanden. Im psychischen Befund sei die Klägerin gepflegt, zu allen Qualitäten orientiert, ohne geminderte Auffassung oder Aufmerksamkeit bei leicht eingeschränkter Konzentration gewesen. Der Antrieb und die Psychomotorik seien vermindert mit leicht eingeschränkter affektiver Schwingungsfähigkeit und fixiertem inhaltlichen Denken auf die Arbeitslosigkeit bzw. den Verlust des Arbeitsplatzes nach 25 Jahren Betriebszugehörigkeit gewesen. Aus der HIV-Krankheit resultiere eine psychische Belastung mit Ängsten und dem Gefühl der Wertlosigkeit. So sei es mit der Zeit zu einer zunehmenden Überlastung und Erschöpfung der Stressbewältigungsstrategien gekommen, was auf kognitiver Ebene zu einem Zwangsgrübeln und Gedankenkreisen, auf emotionaler Ebene zu Traurigkeit, Enttäuschung, Gereiztheit und Hilflosigkeitsgefühlen, auf körperlicher Ebene zu Schlafstörungen, Schmerzen am ganzen Körper, Erschöpfungszuständen, innerer Unruhe und Anspannung und auf der Verhaltensebene zu häufigem Weinen, sozialem Rückzugsverhalten und der Aufgabe von Aktivitäten geführt habe. Die Klägerin habe sich im Rehabilitationsverlauf psychisch und physisch ansatzweise stabilisieren können. 

Versorgungsärztlich sah S2 für die Depression und das psychovegetative Erschöpfungssyndrom einen Einzel-GdB von 30, für die Funktionsbehinderung der WS, Nervenwurzelreizerscheinungen und Gebrauchseinschränkungen beider Hände einen Einzel-GdB von 20, für eine erworbene Immunschwäche einen Einzel-GdB von 10 und für eine Sehminderung links einen weiteren Einzel-GdB von 10. Das chronische Schmerzsyndrom sei nicht mit einem Einzel-GdB von mindestens 10 zu bewerten. Eine wesentliche Änderung sei nicht eingetreten.

Durch Bescheid vom 5. September 2017 lehnte das LRA die Neufeststellung des GdB erneut ab. Die Verhältnisse, die der letzten maßgeblichen Feststellung zugrunde gelegen hätten, hätten sich zwar durch das Hinzukommen einer weiteren Funktionsbeeinträchtigung geändert, Auswirkungen auf den bereits festgestellten GdB ergäben sich hierdurch jedoch nicht.

Deswegen erhob die Klägerin Widerspruch, zu dessen Begründung sie das fachärztliche Attest der A1 vorlegte. Hieraus ergab sich die Behandlung der Klägerin seit April 2016 unter der Diagnose einer chronischen depressiven Verstimmung mit rezidivierenden mittelgradigen Episoden. Konstant erfolge eine Medikation mit Escitalopram 15 mg. Es liege eine deutliche Einschränkung der Partizipation und Anpassungsfähigkeit vor, es bestünden Ausdauerstörungen, die Klägerin sei erschöpft und depressiv-gereizt. Der Antrieb sei gemindert gewesen, es hätten Zukunftsängste, innere Unruhe, Einschlafstörungen, Einengung der Affektivität, geminderte Stresstoleranz, Ruhebedarf, Angst vor Neuem, sozialer Rückzug und ein Gefühl der Überforderung vorgelegen.

S3 führte versorgungsärztlich aus, dass eine wesentliche Änderung nicht eingetreten sei. Die behandlungsbedürftigen, stärker behindernden psychischen Störungen seien insgesamt richtig bewertet. Der Gesamt-GdB betrage 40 (Depression, psychovegetatives Erschöpfungssyndrom [Einzel-GdB von 30], Funktionsbehinderung der WS/Nervenwurzelreizerscheinungen/Gebrauchseinschränkung beider Hände [Einzel-GdB von 20], erworbene Immunschwäche [Einzel-GdB von 10] und Sehminderung links [Einzel-GdB von 10]).   

Der Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 30. November 2017 zurück. Über den GdB sei letztmals durch Bescheid vom 28. April 2008 entschieden worden. In den Verhältnissen, die diesem Bescheid zugrunde gelegen hätten, sei eine wesentliche Änderung nicht eingetreten. Bei psychischen Störungen seien vor allem die Einbuße der Anpassungsmöglichkeit und das Ausmaß der Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit maßgeblich. Es sei bereits eine wesentliche Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit anerkannt. Eine wesentliche Verschlimmerung des seelischen Leidens sei medizinisch nicht nachgewiesen. Hinsichtlich der übrigen bereits festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen zeigten die aktenkundigen Befundunterlagen, dass diese im Wesentlichen unverändert vorlägen und weiterhin zutreffend bewertet seien.   

Mit der am 6. Dezember 2017 beim Sozialgericht Stuttgart (SG) erhobenen Klage hat die Klägerin die Feststellung eines GdB von mindestens 50 verfolgt.

Sie hat den sich bereits in der Verwaltungsakte befindlichen zusammenfassenden Arztbericht des Klinikum S, Aklinik, aus dem Jahr 2006 und einen weiteren ärztlichen Bericht derselben aus dem Jahr 2017 mit den Diagnosen Z. n. Kryo, ALK bei prolif. Retinopathie bei okklusiver Vaskulopathie, Z. n. Retinitis durch Viren der Herpesgruppe vorgelegt.

Im Weiteren ist der Bescheid der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg (DRV) vom 8. Februar 2018 über die Bewilligung einer befristeten Rente wegen voller Erwerbsminderung ab dem 1. September 2017 bis zum 31. Dezember 2019 zur Vorlage gekommen.  

Das SG hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts die A1 und den W schriftlich als sachverständige Zeugen vernommen.

Aus der sachverständigen Zeugenaussage der A1 hat sich eine regelmäßige Behandlung der Klägerin aufgrund einer chronischen depressiven Störung ergeben. Der psychische Befund sei bewusstseinsklar, allseits orientiert, leichte Konzentrations- und Ausdauerstörungen, Erschöpfung, depressiv-gereizt, geminderter Antrieb, Zukunftsängste, innere Unruhe, Einschlafstörungen, affektiv eingeengt, kein Wahn, keine Halluzinationen, keine Ich-Störungen, geminderte Stresstoleranz, Ruhebedarf, keine Zwänge, Angst vor Neuem, sozialer Rückzug, keine Suizidalität, keine Fremdaggressivität und Gefühl der Überforderung gewesen. Es bestünden keine Störungen in den Dimensionen Orientierung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis und inhaltlichem und formalem Denken, beeinträchtigt sei der Antrieb und die Affektivität. Es liege eine Einschränkung in der Partizipationsfähigkeit, der sozialen Integration am Arbeitsplatz, der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit sowie der sozialen Anpassungsfähigkeit vor. Der Schweregrad der depressiven Störung sei mittelgradig bis schwer, die versorgungsärztliche Stellungnahme zutreffend.

Der W hat ausgeführt, die Klägerin seit Juli 2004 zu behandeln. Nach einer Behandlungspause von Oktober 2012 bis Februar 2018 seien im Februar und April 2018 erneut Behandlungen erfolgt. Als Befunde hätten hierbei eine leichte Muskelverspannung der paravertebralen Muskulatur rechts mehr als links, positive Druckpunkte 1 und 2 nach Sell im M. trapecius rechtsseitig, eine freie Motorik der HWS (Rotation links/rechts 60-0-70°), eine intakte DFS-Reihe mit leichter Druckdolenz über dem Vertebra prominez (Inklination/Reklination 40-0-30° mit leichten endgradigen Schmerzen, Seitneigung rechts/links seitengleich je 40°), ein manualtherapeutisch schmerzhaft gestörtes intersegmentales Gelenkspiel C5/6 rechts, ein unauffälliger Kompressions-/Traktionstest der HWS, keine radikuläre Symptomatik in Bezug auf die oberen Extremitäten, spondylarthrotische Veränderungen der WS, intakte periphere DMS (Durchblutung, Motorik, Sensibilität) der oberen Extremitäten und eine nachgelassene grobe Kraft der Rückenmuskulatur vorgelegen. Der Bewegungsumfang der LWS sei Vor-/Rückneigung 30-0-20°, Rechts-/Linksrotation 40-0-40°, das Zeichen nach Ott 30/33 cm und das Zeichen nach Schober 10/13 cm gewesen. Es lägen keine Angaben und aktuellen Befunde über Handgelenkserkrankungen bzw. Funktionseinschränkungen seitens der Handgelenke vor. Als Diagnosen habe er ein chronisches Wirbelsäulensyndrom, eine Osteochondrose der HWS, Bandscheibenprotrusionen C3 bis C6, eine Muskeltonusdysbalance in der HWS und im Schultergürtel, eine rezidivierende Blockierung der HWS, eine skoliotische Fehlhaltung der BWS und LWS mit degenerativen Veränderungen, eine rezidivierende Lumbago, eine rezidivierende Dorsalgie und eine rezidivierende Blockierung der BWS und LWS erhoben. Die degenerativen Veränderungen der WS wichen im Wesentlichen kaum vom alterstypischen Zustand ab und seien als leicht bis mittelschwer zu bezeichnen. Sie könnten abhängig von der Belastungssituation leichte bis mittelschwere, sogar andauernde Schmerzerscheinungen in den entsprechenden Versorgungsgebieten hervorrufen; eine Konkretisierung der klinischen Symptomatik sei aufgrund fehlender Behandlungs- bzw. Beobachtungszeiten nicht möglich. Die Auffassung des versorgungsärztlichen Dienstes auf orthopädischem Fachgebiet werde geteilt. Ergänzend sei auf eine weitere Psychosomatisierung und Vertiefung der depressiven Stimmung der Klägerin hinzuweisen, was die Chronifizierung der Beschwerdesymptomatik intensivieren könne und einer selbständigen ständigen psychotherapeutischen Mitbehandlung bedürfe. Ergänzend hat der W den Bericht des S4, über die Beurteilung der Magnetresonanztomographie (MRT) der HWS vom 20. Februar 2018 vorgelegt. Hieraus hat sich kein Prolaps, keine Protrusionen, minimale Vorwölbungen der Bandscheiben C3/4 bis C5/6, jeweils sehr diskrete Befunde, keine relevanten degenerativen Veränderungen und keine Myelopathie bei ausreichend weiten Foramen ergeben.

Der Beklagte hat ausgeführt, die sachverständigen Zeugenaussagen stützten den von der Klägerin geltend gemachten Anspruch nicht.

Die Klägerin ist der Ansicht gewesen, dass die A1 einen gesundheitlichen Zustand beschrieben habe, der mit einem Einzel-GdB von 40 zu bewerten sei. Es seien eine mittelgradige Depression mit erheblicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit sowie eine soziale Anpassungsstörung beschrieben worden.

Das SG hat nach Anhörung der Beteiligten durch Gerichtsbescheid vom 25. Juli 2019 die Klage abgewiesen. Ein höherer Gesamt-GdB als 40 lasse sich nicht feststellen. Das SG hat sich auf die Ausführungen der als sachverständige Zeugen vernommenen behandelnden Ärzte der Klägerin gestützt. Im Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ betrage der Einzel-GdB demnach nicht mehr als 30. Der von der A1 beschriebene Befund korrespondiere mit dem psychischen Befund im Entlassungsbericht der V Klinik. Auch die Funktionsbehinderung der WS sei ausreichend bewertet. Lediglich bei wohlwollender Betrachtung und unter Mitberücksichtigung der bestehenden Somatisierungsstörung könne von häufigen rezidivierenden Bewegungseinschränkungen im Bereich der HWS, die zu mittelgradigen funktionellen Auswirkungen führten, ausgegangen werden, die in Gesamtschau mit den leichten funktionellen Auswirkungen im Bereich der LWS einen Einzel-GdB von 20 rechtfertigten.  

Am 2. September 2019 hat die Klägerin gegen den ihren Prozessbevollmächtigten am 31. Juli 2019 zugestellten Gerichtsbescheid des SG Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt.

Auf Antrag der Klägerin nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat der Senat bei L, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Suchtmedizin, Geriatrie, aufgrund der ambulanten Untersuchung der Klägerin am 15. Januar 2020 ein psychiatrisches Sachverständigengutachten erhoben. Demnach habe im psychiatrischen Fachgebiet eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode, (ICD-10 F33.2) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten vorgelegen, die einen Einzel-GdB von 50 rechtfertige. Die Funktionsbehinderung der WS sei mit einem Einzel-GdB von 20 und die erworbene Immunschwäche sowie die Sehminderung links jeweils mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten, so dass der Gesamt-GdB 60 betrage.

Die depressive Störung sei mit körperlicher Erschöpfung, innerer Unruhe, Antriebslosigkeit, reduzierter Freudfähigkeit, Konzentrationsstörungen, Selbstwertproblemen und Ängsten verbunden. Daraus folge eine mittelgradig reduzierte Flexibilität und Umstellungsfähigkeit, eine schwer reduzierte Durchhaltefähigkeit, eine schwer reduzierte Selbstbehauptungsfähigkeit, eine mittelgradig reduzierte Kontaktfähigkeit zu Dritten, eine mittelgradig reduzierte Gruppenfähigkeit und mittelgradig reduzierte familiäre bzw. intime Beziehungen. Die vorliegende Behinderung betreffe die seelischen und sozialen Bereiche, sie habe gravierende Auswirkungen auf das soziale Funktionsniveau und die Partizipationsfähigkeit am sozialen Leben. Es ergebe sich insbesondere eine Abweichung zu den Ausführungen der A1, die zwar von einer mittelgradigen bis schweren depressiven Störung ausgegangen sei, aber der Bewertung durch den Beklagten mit einem Einzel-GdB von 30 zugestimmt habe. Die von ihr festgestellten sozialen Anpassungsschwierigkeiten habe sie nicht wie er als mittelgradig bis schwer bewertet.

Die Klägerin habe angegeben unter HIV zu leiden, ihren beiden Kindern sei dies nicht bekannt. Unter medikamentöser Behandlung sei ihr Gesundheitszustand stabil, aufgrund der Medikation leide sie aber unter vielen Nebenwirkungen, sie habe auch psychische Probleme. Seit 2016 sei sie in regelmäßiger psychiatrischer Behandlung bei der A1. Sie gehe zweimal monatlich zur Psychotherapie und nehme als Medikamente Escitalopram 10 mg, Candesartan 16 mg, L-Thyroxin 125 µg, Trimipramin 40 mg/ml, Abacavir/ Lamiviudin 600/300 und Nevirapin Accord 400 ein. Zusammen lebe sie mit ihrem Ehemann und ihrem Sohn. Sie sei häufig erschöpft, deshalb übernehme ihr Ehemann viele Aufgaben im Haushalt.
Als psychopathologischer Befund habe sich ergeben, dass sie wach, bewusstseinsklar, zu allen Qualitäten orientiert, im formalen Denkablauf unauffällig, bei erhaltener Auffassung, subjektiv gestörter Konzentration und Gedächtnis, ohne manifeste Zwänge, Wahn, Sinnestäuschungen oder Ich-Störungen, bei niedergeschlagener Stimmung, Unruhe, Grübeln, Zukunftsängste, Schamgefühlen, Gefühl der Überforderung, schwerer Anhedonie, gestörtem Antrieb und ohne Suizidgedanken gewesen sei. Hinsichtlich des körperlichen Befundes seien die Stand- und Gangproben durchführbar gewesen, ohne Ataxie, bei erhaltener grober Kraft, Schmerzen im Rückenbereich und einem Taubheitsgefühl in den Schultern und Händen.

Bei der Klägerin habe sich, ausgelöst durch die hohe seelische Belastung durch eine HIV-Infektion mit beginnendem AIDS-Syndrom, eine depressive Störung entwickelt. Insbesondere die Geheimhaltung der Erkrankung in der Familie und der Vertrauensbruch durch ihre Schwester, die sie mit dem Wissen um die HIV-Infektion um das Erbe des Vaters erpresst habe, habe die Konfliktlage noch verstärkt. Durch eine ambulante fachpsychiatrische und psychotherapeutische Behandlung sowie durch eine stationäre Intervention unter Ausschöpfung medikamentöser Behandlungsoptionen habe das depressive Bild nicht wesentlich gebessert werden können. Es sei von einer behandlungsresistenten, chronifizierten depressiven Störung auszugehen. 

Die Klägerin hat den Bericht der A1 vom 16. Juli 2020 vorgelegt, wonach der Visus rechts ohne Korrektur 0,9 und links 0,1 betragen habe. Als Diagnosen seien rechts/links Hyperopie und Astigmatismus sowie links eine Retinitis, ein Z. n. Netzhautkyrokoagulation, eine Makulanarbe und ein Katarakt gestellt worden.    

Der Beklagte hat sich den gutachterlichen Ausführungen des L nicht anschließen können und hat die versorgungsärztliche Stellungnahme des W1 vorgelegt. Bei einer rezidivierenden depressiven Störung sei ein Durchschnitts-GdB zu bilden. Der anerkannte Einzel-GdB von 30 erfasse damit auch vorübergehende schwere depressive Episoden. Aus dem relativ knappen Sachverständigengutachten des L ergäben sich nicht einmal Gesichtspunkte für eine Erhöhung des Einzel-GdB auf 40. Der bisherige Einzel-GdB von 30 berücksichtigte bereits eine stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit. Der psychopathologische Befund habe ergeben, dass die Klägerin wach, bewusstseinsklar und zu allen Qualitäten orientiert gewesen sei, der formale Denkablauf sei unauffällig bei erhaltener Auffassung, Konzentration und Gedächtnis seien subjektiv gestört gewesen. Es sei zwar eine schwere Anhedonie, also die Unfähigkeit, Freude zu empfinden, angegeben worden, alleine diese Angabe sei aber nicht ausreichend für eine GdB-Erhöhung. Im Übrigen lasse das Sachverständigengutachten eine detaillierte Beschreibung des Tagesablaufs, der für die GdB-Bewertung ausschlaggebend sei, vermissen. Im vorgelegten augenärztlichen Bericht werde die Sehschärfe ohne Korrektur angegeben, maßgebend für den GdB sei jedoch der korrigierte Visus. Sollten die angegebenen Visus-Werte auch mit optimaler Korrektur bestehen, so ergäbe sich für die Sehminderung zwar ein Einzel-GdB von 20 statt wie bisher von 10, dies hätte im Ergebnis auf den Gesamt-GdB von 40 aber keine Auswirkungen.

Der Berichterstatter hat darauf hingewiesen, dass die Ausführungen des Beklagten wohl zutreffend sein dürften und die Rücknahme der Berufung angeregt (Verfügung vom 10. November 2020).

Die Klägerin ist zur Rücknahme der Berufung nicht bereit gewesen. Auf ihren Antrag nach § 109 SGG hat der Senat die ergänzende gutachterliche Stellungnahme des L vom 23. Juni 2021 eingeholt. Dieser hat ausgeführt, dass zwar bei rezidivierenden depressiven Störungen ein Durchschnitts-GdB zu bilden sei, bei der Klägerin aber zumindest seit 2017 durchgehend eine chronische schwere depressive Verstimmung vorliege, die behandlungsresistent sei. Es sei unzutreffend, dass sich aus seinem Sachverständigengutachten keine Gesichtspunkte für eine GdB-Erhöhung ergäben. Im ärztlichen Entlassungsbericht der V Klinik sei aufgrund der psychischen Erkrankung nur noch eine Teilerwerbsfähigkeit von drei bis unter sechs Stunden festgestellt worden. Im fachärztlichen Attest der A1 sei eine deutliche Einschränkung der Partizipation und der Anpassungsfähigkeit beschrieben. Diese gehe von einer mittelgradigen bis schweren depressiven Störung aus, was auf eine mittelgradige Anpassungsstörung und damit einen Einzel-GdB von 50 hinweise. Aus welchen Gründen sie dennoch in ihrer sachverständigen Zeugenaussage die Ansicht des Beklagten geteilt habe, sei nicht nachvollziehbar. Diesbezüglich müsse von Seiten des Gerichts eine Nachfrage erfolgen, ob es sich um ein Missverständnis handele. Im Sachverständigengutachten habe er Befunde angeführt – Antriebslosigkeit, reduzierte Freudfähigkeit, Selbstwertprobleme, Ängste, reduzierte Flexibilität und Umstellungsfähigkeit, reduzierte Durchhaltefähigkeit, reduzierte Selbstbehauptungs- sowie Kontakt- und Gruppenfähigkeit –, die zumindest für eine mittelgradige soziale Anpassungsstörung sprächen. W1 habe versorgungsärztlich den psychopathologischen Befund tendenziös verkürzt dargestellt; als pathologische Befunde seien eine reduzierte Stimmungslage, eine innere Unruhe, ein Grübeln, verschiedene Ängste, eine schwere Anhedonie sowie eine Antriebsstörung erhoben worden. Die im Weiteren bemängelte fehlende schriftliche Niederlegung des Tagesablaufs der Klägerin sei nicht maßgeblich. Unwahr sei die Behauptung, dass dieser die entscheidende Grundlage für die Beurteilung des GdB sei, aus den erhobenen Befunden lasse sich zwanglos ein Einzel-GdB von mindestens 50 ableiten.

Auch in Kenntnis der ergänzenden gutachterlichen Stellungnahme des L hat sich der Beklagte nicht zu einer abweichenden Beurteilung veranlasst gesehen. Er hat eine weitere versorgungsärztliche Stellungnahme des W1 vorgelegt, wonach sich auch weiterhin keine ausreichenden Gesichtspunkte für eine Erhöhung des bisherigen Einzel-GdB von 30 auf psychischem Gebiet ergeben hätten, da mit diesem GdB im Längsschnitt gesehen bereits eine stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit berücksichtigt werde. Soweit L auf die festgestellte Teilerwerbsfähigkeit von drei bis unter sechs Stunden hingewiesen habe, könne daraus nicht zwingend ein höherer Einzel-GdB abgeleitet werden, da im Rentenverfahren nicht dieselben Beurteilungskriterien zugrunde zu legen seien. Soweit er eine Nachfrage bei der A1 angeregt habe, werde dies für nicht notwendig erachtet, sei jedoch letztlich eine Frage der juristischen Beweiswürdigung. Der Ansicht, dass eine schriftliche Niederlegung des Tagesablaufs keine entscheidende Grundlage für die Beurteilung des GdB sei, könne in keiner Weise zugestimmt werden, denn gerade der Tagesablauf gebe entscheidend wieder, in welchem Ausmaß im täglichen Leben auf psychischem Gebiet eine Teilhabebeeinträchtigung bestehe.

Zur Berufungsbegründung verweist die Klägerin auf das Sachverständigengutachten des L und dessen ergänzende gutachterliche Stellungnahme. Das SG habe die Schwere der psychischen Erkrankung verkannt. Es habe die HIV-Erkrankung zwar zutreffend mit einem Einzel-GdB von 10 bewertet, habe jedoch nicht die negative Wechselwirkung dieser Erkrankung mit ihrem psychischen Zustand berücksichtigt. Eine HIV-Erkrankung sei in der Bevölkerung immer noch mit einem Stigma belegt. Sie habe sich deshalb sozial sehr zurückgezogen und komme gesellschaftlichen Aktivitäten nicht mehr nach. Bei der Bewertung der Beschwerden an der WS habe das SG nicht beachtet, dass insoweit muskuläre Verspannungen zu berücksichtigen seien und auch neurologische Symptome – Taubheitsgefühle in den Händen und Füßen – vorlägen. Ebenso habe die grobe Kraft der Rückenmuskulatur nachgelassen. Im Bereich der WS lägen darüber hinaus andauernde Schmerzen vor, die vor dem Hintergrund der bestehenden Somatisierungsstörung und des chronischen Schmerzsyndroms eine Höherbewertung des diesbezüglichen Einzel-GdB rechtfertigten. Zudem bestehe ein Bluthochdruck. Das SG habe den Amtsermittlungsgrundsatz verletzt, weil es ihren Hausarzt nicht als sachverständigen Zeugen befragt und nicht die Verwaltungsakte der DRV beigezogen habe.

Die Klägerin beantragt – sinngemäß –,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 25. Juli 2019 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 5. September 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. November 2017 zu verpflichten, unter teilweiser Aufhebung des Teil-Abhilfebescheides vom 28. April 2008 ab dem 15. Mai 2017 einen Grad der Behinderung von mindestens 50 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

Er hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend. Aus den von W1 versorgungsärztlich dargelegten Gründen sei den gutachterlichen Ausführungen des L nicht zu folgen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungs- und Gerichtsakten ergänzend Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Die form- und fristgerecht (§ 151 SGG) eingelegte Berufung, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs. 2 SGG), ist statthaft (§§ 143144 SGG), auch im Übrigen zulässig, aber unbegründet.

Gegenstand des Berufungsverfahrens ist der Gerichtsbescheid des SG vom 25. Juli 2019, mit dem das SG die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) der Klägerin auf Aufhebung des Bescheides des Beklagten vom 5. September 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. November 2017 (§ 95 SGG) und Verpflichtung des Beklagten, unter – sinngemäßer – teilweiser Aufhebung des Teil-Abhilfebescheides vom 28. April 2008 ab dem 15. Mai 2017 einen GdB von mindestens 50 festzustellen, abgewiesen hat. Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei der vorliegenden Klageart der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in den Tatsacheninstanzen (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 2. September 2009 – B 6 KA 34/08 R –, BSGE 104, 116 [124]; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 13. Aufl. 2020, § 54 Rz. 34, § 55 Rz. 21), ohne eine solche derjenige der Entscheidung, demnach der 9. Dezember 2021.

Die Unbegründetheit der Berufung folgt aus der Unbegründetheit der Klage. Der Bescheid vom 5. September 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. November 2017 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 54 Abs. 1 Satz 2 SGG). Zu Recht hat der Beklagte auf den Neufeststellungsantrag der Klägerin vom 15. Mai 2017 die teilweise Aufhebung des Teil-Abhilfebescheides vom 28. April 2008, der ab dem 18. Dezember 2007 den GdB mit 40 festgestellt hat, und die Feststellung eines höheren GdB abgelehnt. Zu Recht hat demnach auch das SG durch Gerichtsbescheid vom 25. Juli 2019 die auf die Verpflichtung des Beklagten zur Feststellung eines GdB von mindestens 50 gerichtete Klage abgewiesen. Der Senat hat sich ebenso wie das SG nicht davon überzeugen können, dass der festgestellte GdB von 40 unterbewertet ist. Das Sachverständigengutachten des L und dessen ergänzende gutachterliche Stellungnahme, wonach der GdB 60 betragen soll, hat den Senat nicht überzeugt.   

Rechtsgrundlage des angefochtenen Bescheides ist § 48 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X). Danach ist, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Nach § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X soll der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit die Änderung zugunsten der Betroffenen erfolgt (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB X). Dabei liegt eine wesentliche Änderung vor, soweit der Verwaltungsakt nach den nunmehr eingetretenen tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen nicht mehr so erlassen werden dürfte, wie er ergangen war. Die Änderung muss sich nach dem zugrundeliegenden materiellen Recht auf den Regelungsgehalt des Verwaltungsaktes auswirken. Das ist bei einer tatsächlichen Änderung nur dann der Fall, wenn diese so erheblich ist, dass sie rechtlich zu einer anderen Bewertung führt. Von einer wesentlichen Änderung ist auszugehen, wenn aus dieser eine Veränderung des Gesamt-GdB um wenigstens 10 folgt (vgl. BSG, Urteil vom 11. November 2004 – B 9 SB 1/03 R –, juris, Rz. 12). Im Falle einer solchen Änderung ist der Verwaltungsakt – teilweise – aufzuheben und durch die zutreffende Bewertung zu ersetzen (vgl. BSG, Urteil vom 22. Oktober 1986 – 9a RVs 55/85 –, juris, Rz. 11 m. w. N.). Die Feststellung einer wesentlichen Änderung setzt einen Vergleich der Sach- und Rechtslage bei Erlass des – teilweise – aufzuhebenden Verwaltungsaktes und zum Zeitpunkt der Überprüfung voraus (vgl. BSG, Urteil vom 2. Dezember 2010 – B 9 V 2/10 R –, SozR 4-3100 § 35 Nr. 5, Rz. 38 m. w. N.).
Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt. Es ist zwar im Vergleich zum insofern maßgeblichen Vergleichsbescheid, dem Teil-Abhilfebescheid vom 28. April 2008, bei der Klägerin eine weitere Funktionsbeeinträchtigung, eine chronische depressive Störung, die mittelgradig bis schwer ausgeprägt ist, wie der Senat insbesondere der erstinstanzlichen sachverständigen Zeugenaussage der A1 entnimmt, hinzugetreten. Diese Änderung ist jedoch zur Überzeugung des Senats nicht wesentlich im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X, da sie nicht zur Erhöhung des Gesamt-GdB um wenigstens 10, demnach von 40 auf 50 führt.   

Der Anspruch der Klägerin richtet sich nach § 152 Abs. 1 und 3 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) in der aktuellen, seit 1. Januar 2018 geltenden Fassung durch Art. 1 und 26 Abs. 1 des Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG) vom 23. Dezember 2016 (BGBl I S. 3234). Danach stellen auf Antrag des Menschen mit Behinderung die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den GdB zum Zeitpunkt der Antragstellung fest (§ 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Auf Antrag kann festgestellt werden, dass ein GdB bereits zu einem früheren Zeitpunkt vorgelegen hat (§ 152 Abs. 1 Satz 2 SGB IX). Menschen mit Behinderungen sind nach § 2 Abs. 1 SGB IX Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können (Satz 1). Eine Beeinträchtigung nach § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht (Satz 2). Menschen sind nach § 2 Abs. 2 SGB IX im Sinne des Teils 3 des SGB IX schwerbehindert, wenn bei ihnen ein GdB von wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 156 SGB IX rechtmäßig im Geltungsbereich des SGB IX haben. Die Auswirkungen der Behinderung auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als GdB nach Zehnergraden abgestuft festgestellt (§ 152 Abs. 1 Satz 5 SGB IX). Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die Bewertung des GdB maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind (§ 153 Abs. 2 SGB IX).

Nachdem noch keine Verordnung nach § 153 Abs. 2 SGB IX erlassen ist, gelten die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der aufgrund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnungen, somit die am 1. Januar 2009 in Kraft getretene Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung ­­– VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl I S. 2412), entsprechend (§ 241 Abs. 5 SGB IX). Die zugleich in Kraft getretene, auf der Grundlage des aktuellen Standes der medizinischen Wissenschaft unter Anwendung der Grundsätze der evidenzbasierten Medizin erstellte und fortentwickelte Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ (VG) zu § 2 VersMedV ist an die Stelle der bis zum 31. Dezember 2008 heranzuziehenden „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht“ (AHP) getreten. In den VG wird der medizinische Kenntnisstand für die Beurteilung von Behinderungen wiedergegeben (vgl. BSG, Urteil vom 1. September 1999 – B 9 V 25/98 R –, SozR 3-3100 § 30 Nr. 22). Hierdurch wird eine für den Menschen mit Behinderung nachvollziehbare, dem medizinischen Kenntnisstand entsprechende Festsetzung des GdB ermöglicht.

Soweit der Antrag sich auf den Zeitraum vor dem 1. Januar 2018 bezieht, richtet sich der Anspruch nach den in diesem Zeitraum geltenden gesetzlichen Vorgaben (vgl. §§ 69 SGB IX ff. a. F.), nach denen ebenso für die Bewertung des GdB die VersMedV und die VG die maßgebenden Beurteilungsgrundlagen waren.

Allgemein gilt, dass der GdB auf alle Gesundheitsstörungen, unabhängig ihrer Ursache, final bezogen ist. Der GdB ist ein Maß für die körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung aufgrund eines Gesundheitsschadens. Ein GdB setzt stets eine Regelwidrigkeit gegenüber dem für das Lebensalter typischen Zustand voraus. Dies ist insbesondere bei Kindern und älteren Menschen zu beachten. Physiologische Veränderungen im Alter sind bei der Beurteilung des GdB nicht zu berücksichtigen. Als solche Veränderungen sind die körperlichen und psychischen Leistungseinschränkungen anzusehen, die sich im Alter regelhaft entwickeln, also für das Alter nach ihrer Art und ihrem Umfang typisch sind. Demgegenüber sind pathologische Veränderungen, also Gesundheitsstörungen, die nicht regelmäßig und nicht nur im Alter beobachtet werden können, bei der Beurteilung des GdB auch dann zu berücksichtigen, wenn sie erstmalig im höheren Alter auftreten oder als „Alterskrankheiten“ (etwa „Altersdiabetes“ oder „Altersstar“) bezeichnet werden (VG, Teil A, Nr. 2, c). Erfasst werden die Auswirkungen in allen Lebensbereichen und nicht nur die Einschränkungen im allgemeinen Erwerbsleben. Da der GdB seiner Natur nach nur annähernd bestimmt werden kann, sind beim GdB nur Zehnerwerte anzugeben. Dabei sollen im Allgemeinen Funktionssysteme zusammenfassend beurteilt werden (VG, Teil A, Nr. 2, e). Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird nach § 152 Abs. 3 SGB IX der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen sind zwar zunächst Einzel-GdB anzugeben; bei der Ermittlung des Gesamt-GdB durch alle Funktionsbeeinträchtigungen dürfen jedoch die einzelnen Werte nicht addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung eines Gesamt-GdB ungeeignet. Maßgebend sind die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander (VG, Teil A, Nr. 3, a).

Bei der Beurteilung des Gesamt-GdB ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10, 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden (VG, Teil A, Nr. 3, c). Die Beziehungen der Funktionsbeeinträchtigungen zueinander können unterschiedlich sein. Die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen können voneinander unabhängig sein und damit ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen. Eine Funktionsbeeinträchtigung kann sich auf eine andere besonders nachteilig auswirken, vor allem dann, wenn Funktionsbeeinträchtigungen paarige Gliedmaßen oder Organe betreffen. Funktionsbeeinträchtigungen können sich überschneiden. Eine hinzutretende Gesundheitsstörung muss die Auswirkung einer Funktionsbeeinträchtigung aber nicht zwingend verstärken. Von Ausnahmefällen abgesehen, führen leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung. Dies gilt auch dann, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (VG, Teil A, Nr. 3, d).

Der Gesamt-GdB ist nicht nach starren Beweisregeln, sondern aufgrund richterlicher Erfahrung, gegebenenfalls unter Hinzuziehung von Sachverständigengutachten, in freier richterlicher Beweiswürdigung festzulegen (vgl. BSG, Urteil vom 11. November 2004 – B 9 SB 1/03 R –, juris, Rz. 17 m. w. N.). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die auf der ersten Prüfungsstufe zu ermittelnden nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen und die sich daraus abzuleitenden Teilhabebeeinträchtigungen ausschließlich auf der Grundlage ärztlichen Fachwissens festzustellen sind. Bei den auf zweiter und dritter Stufe festzustellenden Einzel- und Gesamt-GdB sind über die medizinisch zu beurteilenden Verhältnisse hinaus weitere Umstände auf gesamtgesellschaftlichem Gebiet zu berücksichtigen (vgl. BSG, Beschluss vom 9. Dezember 2010 – B 9 SB 35/10 B –, juris, Rz. 5).

Eine rechtsverbindliche Entscheidung nach § 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX umfasst nur die Feststellung einer unbenannten Behinderung und des Gesamt-GdB. Die dieser Feststellung im Einzelfall zugrundeliegenden Gesundheitsstörungen, die daraus folgenden Funktionsbeeinträchtigungen und ihre Auswirkungen dienen lediglich der Begründung des Verwaltungsaktes und werden nicht bindend festgestellt (vgl. BSG, Urteil vom 24. Juni 1998 – B 9 SB 17/97 R –, juris, Rz. 13). Der Einzel-GdB ist somit keiner eigenen Feststellung zugänglich. Er erscheint nicht im Verfügungssatz des Verwaltungsaktes und ist nicht isoliert anfechtbar. Es ist somit auch nicht entscheidungserheblich, ob von Seiten des Beklagten oder der Vorinstanz Einzel-GdB-Werte in anderer Höhe als im Berufungsverfahren vergeben worden sind, wenn der Gesamt-GdB hierdurch nicht beeinflusst wird.

In Anwendung dieser durch den Gesetz- und Verordnungsgeber vorgegebenen Grundsätze sowie unter Beachtung der höchstrichterlichen Rechtsprechung steht zur Überzeugung des Senats, wie auch des SG fest, dass die behinderungsbedingten Funktionseinschränkungen der Klägerin auch ab dem 15. Mai 2017, dem Zeitpunkt des Neufeststellungsantrags, weiterhin mit einem Gesamt-GdB von 40 ausreichend bewertet sind. Ein Gesamt-GdB von 50 und demnach die Schwerbehinderteneigenschaft wird nicht erreicht.

Führend ist bei der Klägerin die im Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ bestehende Funktionsstörung, die zur Überzeugung des Senats mit einem Einzel-GdB von 30 ausreichend bewertet ist. Den gutachterlichen Ausführungen des L nach § 109 SGG, wonach der Einzel-GdB im Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ 50 betragen soll, konnte sich der Senat, auch in Kenntnis dessen nach § 109 SGG erstellten ergänzenden gutachterlichen Stellungnahme, hingegen nicht anschließen. Die Klägerin leidet, wie der Senat der sachverständigen Zeugenaussage der A1 und dem ärztlichen Entlassungsbericht der V Klinik, den er im Wege des Urkundsbeweises (§ 118 Abs. 1 SGG in Verbindung mit §§ 415 ff. Zivilprozessordnung [ZPO]) verwertet, entnimmt, an einer chronischen depressiven Störung, die mittelgradig bis schwer ausgeprägt ist. Weitergehende Diagnosen hat auch L in dem auf Antrag erstellten Sachverständigengutachten nicht gestellt, dieser ist lediglich davon ausgegangen, dass die chronische depressive Störung durchgehend schwer sei. Eine von der Klägerin im Rahmen der Berufungsbegründung angeführte Somatisierungsstörung oder ein chronisches Schmerzsyndrom ergibt sich aus den vorliegenden ärztlichen Meinungsäußerungen und Berichten, auch aus dem Sachverständigengutachten des L, nicht.      

Nach den VG, Teil B, Nr. 3.7 bedingen Neurosen, Persönlichkeitsstörungen, Folgen psychischer Traumen in Form leichterer psychovegetativer oder psychischer Störungen einen GdB von 0 bis 20, stärkere Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z. B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) einen GdB von 30 bis 40, schwere Störungen (z. B. schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten einen GdB von 50 bis 70 und mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten einen GdB von 80 bis 100. Die funktionellen Auswirkungen einer psychischen Erkrankung, insbesondere wenn es sich um eine affektive oder neurotische Störung nach ICD-10 F30.- oder F40.- handelt, manifestieren sich dabei im psychisch-emotionalen, körperlich-funktionellen und sozial-kommunikativen Bereich (vgl. Philipp, Vorschlag zur diagnoseunabhängigen Ermittlung der MdE bei unfallbedingten psychischen bzw. psychosomatischen Störungen, MedSach 6/2015, S. 255 ff.). Diese drei Leidensebenen hat auch das BSG in seiner Rechtsprechung angesprochen (vgl. BSG, Beschluss vom 10. Juli 2017 – B 9 V 12/17 B –, juris, Rz. 2). Dabei ist für die GdB-Bewertung, da diese die Einbußen in der Teilhabe am Leben in der (allgemeinen) Gesellschaft abbilden soll, vor allem die sozial-kommunikative Ebene maßgeblich (vgl. Senatsurteil vom 12. Januar 2017 – L 6 VH 2746/15 –, juris, Rz. 61). Bei dieser Beurteilung ist auch der Leidensdruck zu würdigen, dem sich der behinderte Mensch ausgesetzt sieht, denn eine „wesentliche Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit“ meint schon begrifflich eher Einschränkungen in der inneren Gefühlswelt, während Störungen im Umgang mit anderen Menschen eher unter den Begriff der „sozialen Anpassungsschwierigkeiten“ fallen, der ebenfalls in den VG genannt ist. Die Stärke des empfundenen Leidensdrucks äußert sich nach ständiger Rechtsprechung des Senats auch und maßgeblich in der Behandlung, die der Betroffene in Anspruch nimmt, um das Leiden zu heilen oder seine Auswirkungen zu lindern. Hiernach kann bei fehlender ärztliche Behandlung in der Regel nicht davon ausgegangen werden, dass ein diagnostiziertes seelisches Leiden über eine leichtere psychische Störung hinausgeht und bereits eine stärker behindernde Störung im Sinne der GdB-Bewertungsgrundsätze darstellt (vgl. Senatsurteil vom 22. Februar 2018 – L 6 SB 4718/16 –, juris, Rz. 42; vgl. auch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 17. Dezember 2010 – L 8 SB 1549/10 –, juris, Rz. 31).

Der Senat hält die Bewertung der im Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ bei der Klägerin bestehenden Funktionsstörung mit einem Einzel-GdB von 30 für angemessen. Er geht demnach vom Vorliegen einer
stärker behindernden Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z. B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) aus. Die Ausschöpfung des diesbezüglichen Bewertungsrahmens (GdB 30 bis 40) hält der Senat nicht für angezeigt. Eine schwere Störung (z. B. schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten, die mit einen GdB von 50 bis 70 zu bewerten wäre, wie von L gutachterlich vertreten, liegt somit ebenfalls nicht vor.

Gegen einen Einzel-GdB von mehr als 30 spricht der von der A1 erhobene psychische Befund. Die Klägerin ist bewusstseinsklar und allseits orientiert bei leichten Konzentrations- und Ausdauerstörungen, Erschöpfung, depressiver Gereiztheit, gemindertem Antrieb, Zukunftsängsten, innerer Unruhe, Einschlafstörungen und affektiver Einengung gewesen. Es haben kein Wahn, keine Halluzinationen, keine Ich-Störungen, keine Zwänge, keine Suizidalität und keine Fremdaggressivität vorgelegen. In den Dimensionen Orientierung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis sowie inhaltlichem und formalem Denken haben keine Störungen bestanden. Imponiert haben ein Gefühl der Überforderung, eine geminderte Stresstoleranz, ein Ruhebedarf, Angst vor Neuem und ein sozialer Rückzug. Auch L hat keinen psychischen Befund erhoben, der hiervon wesentlich abweicht. Die Klägerin war wach, bewusstseinsklar, zu allen Qualitäten orientiert, im formalen Denkablauf unauffällig bei erhaltener Auffassung. Die Konzentration und das Gedächtnis waren subjektiv gestört. Es haben nicht manifeste Zwänge, Wahn, Sinnestäuschungen, Ich-Störungen und eine Suizidalität vorgelegen. Die Stimmung war niedergeschlagen bei Unruhe, Grübeln, Zukunftsängsten, Schamgefühlen und Gefühlen der Überforderung. Es hat eine schwere Anhedonie bei gestörtem Antrieb bestanden. Ein entsprechender Befund ergibt sich auch aus dem ärztlichen Entlassungsbericht des V Klinik, wonach die Klägerin zum damaligen Zeitpunkt unter einer bedrückten Stimmung, einer Antriebslosigkeit, Konzentrationsstörungen und massiven Schlafstörungen gelitten hat, wobei durch die Rehabilitationsbehandlung die psychische Situation ansatzweise hat stabilisiert werden können. Nach dem – urkundsbeweislich verwerteten – im Verwaltungsverfahren zur Vorlage gekommenen Bericht der A1 hat unter der Therapie mit Opipramol 100 mg zur Nacht eine Verbesserung der Schlafqualität erreicht werden können. Aus diesem psychischen Befund ergeben sich für den Senat, auch unter Berücksichtigung der von L festgestellten schweren Anhedonie, keine Gesichtspunkte, die für einen höheren Einzel-GdB als 30 sprechen.      

Im Weiteren spricht gegen die Höherbewertung des Einzel-GdB als mit 30, dass, wie sich aus dem ärztlichen Entlassungsbericht der V Klinik und dem Sachverständigengutachten des L ergibt, sich die Klägerin zwar sozial zurückgezogen hat. Maßgeblich hierfür wie auch für ihre psychische Erkrankung an sich ist insbesondere die HIV-Infektion, die für sie äußerst schambehaftet ist, wie sich ebenso für den Senat aus dem vorgenannten Entlassungsbericht und dem vorgenannten Sachverständigengutachten ergibt. Der soziale Rückzug ist jedoch nicht in einem Umfang ausgeprägt, der eine Bewertung mit einem Einzel-GdB von 40 oder gar 50 rechtfertigt. Denn die Klägerin lebt, wie der Senat dem ärztlichen Entlassungsbericht der V Klinik entnimmt, mit ihrem Ehemann und einem ihrer Söhne zusammen, und ist in der Lage, Freunde und Bekannte zu treffen, auch wenn sie sich hierbei schnell überfordert fühlt. Mithin liegt ein vollständiger sozialer Rückzug nicht vor.

Aus dem Sachverständigengutachten des L ergibt sich nicht einmal ansatzweise eine Beschreibung des Tagesablaufs. Maßgeblich für die Bewertung des Schweregrads einer Funktionsstörung im Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ ist jedoch insbesondere das Ausmaß der Einbuße der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft (vgl. oben), wofür sich aus der Schilderung des Tagesablaufs wesentliche Erkenntnisse ergeben. Ebenso lässt sich maßgeblich der Schilderung des Tagesablaufs die Fähigkeit zur Strukturierung entnehmen, die weitere Anhaltspunkte für das Ausmaß der psychischen Teilhabebeeinträchtigung ergibt. Auf die Notwendigkeit der Erhebung des Tagesablaufs in einem psychiatrischen Sachverständigengutachten hat der Beklagte versorgungsärztlich zutreffend hingewiesen, es ist nicht überzeugend, wenn L in seiner ergänzenden gutachterlichen Stellungnahme den Standpunkt vertritt, dass er die schriftliche Niederlegung eines Tagesablaufs in einem Sachverständigengutachten für nicht erforderlich hält, obwohl das sozialmedizinischer Standard der Begutachtung ist, wie dem Senat aufgrund seiner jahrzehntelanger Befassung mit medizinischen Fällen bekannt ist. Für eine noch erhaltene Fähigkeit zur Strukturierung des Tagesablaufs spricht aber, dass die Klägerin durchaus noch Haushaltstätigkeiten ausübt; sie benötigt hierzu lediglich Unterstützung, und auch ihren Hobbys (Lesen und Sport), wenn auch selten, nachgehen kann. Dies entnimmt der Senat dem ärztlichen Entlassungsbericht der V Klinik. Aus dem Sachverständigengutachten des L ergibt sich ebenso, dass die Klägerin auch weiterhin mit ihrem Ehemann und ihrem Sohn zusammenlebt und zwar ihr Ehemann viele Aufgaben im Haushalt übernimmt, im Umkehrschluss demnach aber auch sie weiterhin im Haushalt tätig ist.

Das Sachverständigengutachten des L ist auch insofern nicht schlüssig, als es von bei der Klägerin bestehenden mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten ausgeht, wegen denen eine schwere Störung im Sinne der VG, Teil B, Nr. 3.7 vorliegen soll. Eine Begründung, woraus sich diese schwere Störung selbst ergibt, die nach dem Wortlaut der VG, Teil B, Nr. 3.7 z. B. bei einer schweren Zwangskrankheit vorliegt, lässt sich den Ausführungen des L jedoch nicht entnehmen. So wird zwar eine schwer reduzierte Durchhaltefähigkeit ebenso wie eine schwer reduzierte Selbstbehauptungsfähigkeit beschrieben, die Flexibilität und Umstellungsfähigkeit, die Kontaktfähigkeit zu Dritten, die Fähigkeit zu familiären und intimen Beziehungen werden jedoch nur als mittelgradig reduziert bewertet, was gegen das Vorliegen einer psychischen Störung spricht, die vergleichbar mit einer schweren Zwangskrankheit ist. Auch verkennt L, dass mittlere soziale Anpassungsschwierigkeiten erst dann vorliegen, wenn die Integration in Lebensbereiche nicht ohne umfassende Unterstützung (z. B. einem Integrationshelfer als Eingliederungshilfe) möglich ist (VG, Teil B, Nr. 3.5.1). Für derartig schwere Einschränkungen der Klägerin ergeben sich jedoch keine Hinweise.

L hat zwar ausgeführt, dass die psychische Erkrankung der Klägerin maßgeblich durch die HIV-Infektion bedingt ist. Seinen gutachterlichen Ausführungen lässt sich aber nicht entnehmen, inwiefern diese psychischen Folgen der HIV-Infektion bereits bei der Bewertung der HIV-Infektion mitberücksichtigt sind. Denn nach den VG, Teil A, Nr. 2, j) sind die üblichen seelischen Begleiterscheinungen in den in der GdB-Tabelle niedergelegten Sätzen bereits eingespeist.

Auch die von der Klägerin im Zeitraum vom 1. September 2017 bis zum 31. Dezember 2019 bezogene Rente wegen voller Erwerbsminderung zwingt entgegen der Annahme des L nicht zur Bewertung ihrer psychischen Funktionseinschränkungen mit einem Einzel-GdB von 50. L verkennt insoweit, dass sich nach den VG, Teil A, Nr. 2, b) aus dem GdB nicht auf das Ausmaß der Leistungsfähigkeit schließen lässt und sich deshalb auch aus dem für die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung maßgeblichen arbeitstäglichen Leistungsvermögen keine Rückschlüsse auf die Höhe des GdB ziehen lassen.

Zutreffend hat der Beklagte darauf hingewiesen, dass nach den VG, Teil A, Nr. 2, f) Schwankungen im Gesundheitszustand bei einem längeren Leidensverlauf mit einem Durchschnittswert Rechnung zu tragen sind. Soweit L in seiner ergänzenden gutachterlichen Stellungnahme ausgeführt hat, das zumindest seit 2017 durchgehend eine chronische schwere depressive Verstimmung vorliege, die behandlungsresistent sei, und damit kein schwankender Krankheitsverlauf bestehe, ist dies nicht zutreffend. Aus dem ärztlichen Entlassungsbericht der V Klinik über die stationäre Rehabilitationsmaßnahme vom 19. April bis zum 17. Mai 2017 ergibt sich vielmehr, dass zum damaligen Zeitpunkt eine mittelgradige Episode der rezidivierenden depressiven Störung vorgelegen hat. Die E hat im erstinstanzlichen Verfahren als sachverständige Zeugin ebenso die depressive Störung als mittelgradig bis schwer beschrieben. Zur von L im Weiteren angeführten Behandlungsresistenz ist darüber hinaus zu berücksichtigen, dass nach dem ärztlichen Entlassungsbericht der V Klinik zum damaligen Zeitpunkt eine ambulante Richtlinienpsychotherapie nicht stattgefunden hat, mithin die Behandlungsmöglichkeiten gerade nicht ausgeschöpft waren. Im weiteren Verlauf hat seit dem Jahr 2017 auch keine weitere stationäre Behandlung der Klägerin bis zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats am 9. Dezember 2021 und damit in einem Zeitraum von mehr als vier Jahren mehr stattgefunden, was ebenso gegen die Annahme einer Behandlungsresistenz und vor allem gegen das Ausschöpfen aller Therapieoptionen spricht, was bei einer – wie von L angenommenen – schweren Störung aber zu erwarten wäre. Denn – wie bereits ausgeführt (vgl. oben) – äußert sich die Stärke des empfundenen Leidensdrucks nach ständiger Rechtsprechung des Senats (vgl. Senatsurteil vom 22. Februar 2018 – L 6 SB 4718/16 –, juris, Rz. 42; vgl. auch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 17. Dezember 2010 – L 8 SB 1549/10 –, juris, Rz. 31) auch und maßgeblich in der Behandlung, die der Betroffene in Anspruch nimmt, um das Leiden zu heilen oder seine Auswirkungen zu lindern.

Die A1 hat unter Berücksichtigung des schwankenden Krankheitsverlaufs den Einzel-GdB, wie auch der Beklagte, zutreffend und für den Senat nachvollziehbar mit 30 bewertet. Vor diesem Hintergrund war eine nochmalige Befragung der A1, wie von L und auch der Klägerin angeregt, nicht angezeigt. Es würde sich hierbei um eine
wiederholte Beweiserhebung handeln, auf die kein Anspruch besteht. Es ist nicht erkennbar, welchen über die Wiederholung der bereits vorliegenden Äußerungen hinausreichenden Mehrwert die erneute Befragung haben sollte (vgl. Senatsurteil vom 6. April 2017 – L 6 VJ 1281/15 –, juris, Rz. 73).

Im Funktionssystem „Rumpf“ beträgt zur Überzeugung des Senats der Einzel-GdB entgegen der Bewertung durch den Beklagten und der erstinstanzlichen sachverständigen Zeugenaussage des W nicht mehr als 10. Wie sich für den Senat aus dessen sachverständiger Zeugenaussage ergibt, leidet die Klägerin im Funktionssystem „Rumpf“ unter einem chronischen Wirbelsäulensyndrom, einer Osteochondrose der HWS, Bandscheibenprotrusionen C3 bis C6, einer Muskeltonusdysbalance in der HWS und im Schultergürtel, einer rezidivierenden Blockierung der HWS, einer skoliotischen Fehlhaltung der BWS und LWS mit degenerativen Veränderungen, einer rezidivierenden Lumbago, einer rezidivierender Dorsalgie und unter einer rezidivierenden Blockierung der BWS und LWS.
 
Nach den VG, Teil B, Nr. 18.1 wird der GdB für angeborene und erworbene Schäden an den Haltungs- und Bewegungsorganen entscheidend bestimmt durch die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen (Bewegungsbehinderung, Minderbelastbarkeit) und die Mitbeteiligung anderer Organsysteme. Die üblicher Weise auftretenden Beschwerden sind dabei mitberücksichtigt. Außergewöhnliche Schmerzen sind gegebenenfalls zusätzlich zu berücksichtigen. Schmerzhafte Bewegungseinschränkungen der Gelenke können schwerwiegender als eine Versteifung sein. Bei Haltungsschäden und/oder degenerativen Veränderungen an Gliedmaßengelenken und an der WS (z. B. Arthrose, Osteochondrose) sind auch Gelenkschwellungen, muskuläre Verspannungen, Kontrakturen oder Atrophien zu berücksichtigen. Mit Bild gebenden Verfahren festgestellte Veränderungen (z. B. degenerativer Art) allein rechtfertigen noch nicht die Annahme eines GdB. Ebenso kann die Tatsache, dass eine Operation an einer Gliedmaße oder an der WS (z. B. Meniskusoperation, Bandscheibenoperation, Synovialektomie) durchgeführt wurde, für sich allein nicht die Annahme eines GdB begründen.

Der GdB bei angeborenen und erworbenen Wirbelsäulenschäden (einschließlich Bandscheibenschäden, Scheuermann-Krankheit, Spondylolisthesis, Spinalkanalstenose und dem so genannten „Postdiskotomiesyndrom“) ergibt sich nach den VG, Teil B, Nr. 18.9 primär aus dem Ausmaß der Bewegungseinschränkung, der Wirbelsäulenverformung und -instabilität sowie aus der Anzahl der betroffenen Wirbelsäulenabschnitte. Der Begriff Instabilität beinhaltet die abnorme Beweglichkeit zweier Wirbel gegeneinander unter physiologischer Belastung und die daraus resultierenden Weichteilveränderungen und Schmerzen. So genannte „Wirbelsäulensyndrome“ (wie Schulter-Arm-Syndrom, Lumbalsyndrom, Ischialgie sowie andere Nerven- und Muskelreizerscheinungen) können bei Instabilität und bei Einengungen des Spinalkanals oder der Zwischenwirbellöcher auftreten. Für die Bewertung von chronisch-rezidivierenden Bandscheibensyndromen sind aussagekräftige anamnestische Daten und klinische Untersuchungsbefunde über einen ausreichend langen Zeitraum von besonderer Bedeutung. Im beschwerdefreien Intervall können die objektiven Untersuchungsbefunde nur gering ausgeprägt sein.

Wirbelsäulenschäden ohne Bewegungseinschränkung oder Instabilität haben einen GdB von 0 zur Folge. Gehen diese mit geringen funktionellen Auswirkungen (Verformung, rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität geringen Grades, seltene und kurz dauernd auftretende leichte Wirbelsäulensyndrome) einher, ist ein GdB von 10 gerechtfertigt. Ein GdB von 20 ist bei mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität mittleren Grades, häufig rezidivierende und über Tage andauernde Wirbelsäulensyndrome) vorgesehen. Liegen schwere funktionelle Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt vor (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität schweren Grades, häufig rezidivierende und Wochen andauernde ausgeprägte Wirbelsäulensyndrome) ist ein Einzel-GdB von 30 angemessen. Ein GdB-Rahmen von 30 bis 40 ist bei mittelgradigen bis schweren funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten vorgesehen. Besonders schwere Auswirkungen (etwa Versteifung großer Teile der WS; anhaltende Ruhigstellung durch Rumpforthese, die drei Wirbelsäulenabschnitte umfasst [z. B. Milwaukee-Korsett]; schwere Skoliose [ab ca. 70° nach Cobb]) eröffnen einen GdB-Rahmen von 50 bis 70. Schließlich ist bei schwerster Belastungsinsuffizienz bis zur Geh- und Stehunfähigkeit ein GdB-Rahmen zwischen 80 und 100 vorgesehen. Anhaltende Funktionsstörungen infolge Wurzelkompression mit motorischen Ausfallerscheinungen – oder auch die intermittierenden Störungen bei der Spinalkanalstenose – sowie Auswirkungen auf die inneren Organe (etwa Atemfunktionsstörungen) sind zusätzlich zu berücksichtigen. Bei außergewöhnlichen Schmerzsyndromen kann auch ohne nachweisbare neurologische Ausfallerscheinungen (z. B. Postdiskotomiesyndrom) ein GdB über 30 in Betracht kommen.

Zur Überzeugung des Senats wird entsprechend diesen Vorgaben ein Einzel-GdB von mehr als 10 im Funktionssystem „Rumpf“ nicht erreicht. Aus den Bewegungsmaßen der HWS und der Rumpfwirbelsäule, die der Senat der sachverständigen Zeugenaussage des W entnimmt, ergeben sich keine mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität mittleren Grades, häufig rezidivierende und über Tage andauernde Wirbelsäulensyndrome), die mit einem Einzel-GdB von mindestens 20 zu bewerten wären. Es bestehen eine leichte Muskelverspannung der paravertebralen Muskulatur rechts mehr als links, positive Druckpunkte 1 und 2 nach Sell im M. trapecius rechtsseitig, eine freie Motorik der HWS (Rotation links/rechts 60-0-70°), eine intakte DFS-Reihe mit leichter Druckdolenz über dem Vertebra prominez (Inklination/Reklination 40-0-30° mit leichten endgradigen Schmerzen, Seitneigung rechts/links seitengleich je 40°) und ein manualtherapeutisch schmerzhaft gestörtes intersegmentales Gelenkspiel C5/6 rechts. Der Kompressions-/Traktionstest der HWS war unauffällig, eine radikuläre Symptomatik in Bezug auf die oberen Extremitäten liegt nicht vor. Im Weiteren liegen spondylarthrotische Veränderungen der WS bei einer intakten peripheren DMS (Durchblutung, Motorik, Sensibilität) der oberen Extremitäten und einer nachgelassenen groben Kraft der Rückenmuskulatur vor. Der Bewegungsumfang der LWS ist Vor-/Rückneigung 30-0-20° und Rechts-/Linksrotation 40-0-40°; das Zeichen nach Ott beträgt 30/33 cm und das Zeichen nach Schober 10/13 cm. Aus dem urkundsbeweislich verwerteten ärztlichen Entlassungsbericht der V Klinik ergibt sich ein FBA von 0 cm ohne Druckschmerzen über den Dornfortsätzen, der paravertebralen Muskulatur und dem ISG. Dem Bericht des S4, den der Senat urkundsbeweislich verwertet, lässt sich entnehmen, dass die Auswertung des MRT der HWS vom 20. Februar 2018 ergeben hat, dass kein Prolaps, keine Protrusionen, keine Myelopathie und keine relevanten degenerativen Veränderungen vorliegen. Es bestehen jeweils sehr diskrete minimale Vorwölbungen der Bandscheiben C3/4 bis C5/6 bei ausreichend weiten Foramen. Mit diesen Befunden korrespondierend hat der W die degenerativen Veränderungen der WS als im Wesentlichen kaum abweichend vom alterstypischen Zustand beschrieben, was nach den VG, Teil A, Nr. 2, c) im Grundsatz nicht die Bewertung mit einem Einzel-GdB von 10 rechtfertigt.

Die Bewertung mit einem Einzel-GdB von 10 rechtfertigt sich nur unter Berücksichtigung der von dem W darüber hinaus mitgeteilten von der jeweiligen Belastungssituation abhängigen leichten bis mittelschweren, teilweise sogar andauernden von der WS herrührenden Schmerzen. Gegen eine Höherbewertung spricht, dass sich die Klägerin von Oktober 2012 bis Februar 2018 wegen dieser Schmerzen nicht in fachärztlicher Behandlung befunden hat, wie der W mitgeteilt hat, und demnach ein erhöhter Leidensdruck nicht vorgelegen hat. Darüber hinaus hat weder die A1 noch L in dem von ihm erstellen Sachverständigengutachten eine eigenständige Schmerzerkrankung diagnostiziert.

Im Funktionssystem „Augen“ beträgt der Einzel-GdB ebenso 10. Nach dem urkundsbeweislich verwerteten, von der Klägerin im Berufungsverfahren vorgelegten Bericht der A1 besteht am rechten und am linken Auge eine Hyperopie und ein Astigmatismus sowie am linken Auge zusätzlich eine Retinitis, und ein Z. n. Netzhautkyrokoagulation, Makulanarbe und Katarakt. Der Visus beträgt rechts ohne Korrektur 0,9 und links 0,1. Nach den VG, Teil B, Nr. 4.3 würde sich hieraus ein Einzel-GdB von 20 ergeben. Versorgungsärztlich hat der Beklagte aber zutreffend darauf hingewiesen, dass nach den VG, Teil B, Nr. 4 für die Beurteilung einer Sehbehinderung in erster Linie die korrigierte Sehschärfe maßgeblich ist. Aus keinem der vorliegenden ärztlichen Befunde und ärztlichen Meinungsäußerungen ergibt sich für den Senat jedoch, dass die Klägerin über eine Funktionsbehinderung der Augen geklagt hätte, die eine Bewertung mit einem Einzel-GdB von mehr als 10 rechtfertigen würde. Dem urkundsbeweislich verwerteten Bericht des S1 über die Vorstellung der Klägerin am 10. März 2016 lässt sich entnehmen, dass sie Beschwerden an den Augen verneint hat. Auch den streitgegenständlichen Neufeststellungsantrag vom 15. Mai 2017 hat die Klägerin nicht auf eine Verschlechterung ihres Sehvermögens gestützt, was zusätzlich gegen eine Einschränkung des Sehvermögens in einem Umfang spricht, der mit einem höheren Einzel-GdB als 10 zu bewerten ist.

Die im Funktionssystem „Blut einschließlich blutbildendes Gewebe und Immunsystem“ zu berücksichtigende HIV-Infektion ist ebenso nicht mit einem höheren Einzel-GdB als 10 zu bewerten. Nach den urkundsbeweislich verwerteten Angaben des M1 im Verwaltungsverfahren besteht eine HIV-Infektion C3 (ED September 2006, Z. n. CMV-Retinitis). Mit einer antiretroviralen Behandlung hat eine schnelle und nachhaltige Stabilisierung der ursprünglichen im Jahr 2006 bestehenden schweren Erkrankung erzielt werden können. Seit Juli 2007 ist die Viruslast unter die Nachweisbarkeitsgrenze gedrückt, damit ist auch die Infektiösität entscheidend reduziert. Die Klägerin hat gegenüber L ausgeführt, dass unter der medikamentösen Behandlung ihr Gesundheitszustand insoweit stabil ist. Es besteht demnach keine klinische Symptomatik der HIV-Infektion, wonach nach den VG, Teil B, Nr. 16.11 der diesbezügliche Einzel-GdB 10 beträgt. Dieser Bewertung hat auch die Klägerin im Rahmen der Berufungsbegründung zugestimmt. 

Im Funktionssystem „Arme“ liegt kein Einzel-GdB von mindestens 10 vor. Soweit der Beklagte versorgungsärztlich eine Gebrauchseinschränkung beider Hände berücksichtigt hat, ergeben sich hierfür keine Anhaltspunkte. Im ärztlichen Entlassungsbericht der V Klinik ist eine entsprechende Funktionsbehinderung nicht genannt, auch der W hat als sachverständiger Zeuge hiervon nicht berichtet. Ihm haben über Handgelenkserkrankungen oder Funktionseinschränkungen seitens der Handgelenke keine Angaben oder Befunde vorgelegen.  

Zuletzt besteht im Funktionssystem „Herz und Kreislauf“ für den von der Klägerin geltend gemachten Bluthochdruck nach den VG, Teil B, Nr. 9.3 kein Einzel-GdB von mindestens 10. Nach dem ärztlichen Entlassungsbericht der V Klinik hat der Blutdruck 130/80 mmHg betragen. Eine hieraus resultierende Leistungsbeeinträchtigung der Klägerin ergibt sich aus der medizinischen Beweisaufnahme nicht.

Die vorliegenden ärztlichen Unterlagen, ärztlichen Meinungsäußerungen, sachverständigen Zeugenaussagen und das nach § 109 SGG bei L erhobene Sachverständigengutachten haben dem Senat die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen Grundlagen vermittelt. Weiteren Sachverhaltsermittlungen, insbesondere die Beiziehung der Verwaltungsakten der DRV oder die Vernehmung des Hausarztes der Klägerin – das Unterlassen dieser Beweiserhebungen hat die Klägerin als Verletzung des Amtsermittlungsgrundsatzes durch das SG gerügt, aber trotz anwaltlicher Vertretung im erstinstanzlichen Verfahren und auch im Berufungsverfahren nicht ausdrücklich beantragt –, waren nicht vorzunehmen. Bei weiteren Sachverhaltsermittlungen würde es sich um Ermittlungen ins Blaue hinein handeln und um eine Ausforschung des Sachverhaltes, zu der der Senat nicht verpflichtet ist (vgl. BSG, Beschluss vom 17. Oktober 2018 – B 9 V 20/18 B –, juris, Rz. 19).
 
Aus den vorliegenden Einzel-GdB-Werten von 30 im Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ und jeweils 10 in den Funktionssystemen „Rumpf“, „Augen“ und „Blut einschließlich blutbildendes Gewebe und Immunsystem“ ist kein höherer Gesamt-GdB als 40 zu bilden. Unter Berücksichtigung der Grundsätze für die Bildung des Gesamt-GdB, wonach insbesondere Einzel-GdB-Werte nicht addiert werden dürfen (VG, Teil A, Nr. 3, a) sowie grundsätzlich leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung führen, und es auch bei leichten Funktionsstörungen mit einem GdB von 20 vielfach nicht gerechtfertigt ist, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (VG, Teil A, Nr. 3, d, ee), wird ein Gesamt-GdB von mehr als 40 nicht erreicht. Lediglich ergänzend wird darauf hingewiesen, dass auch bei Annahme eines Einzel-GdB von 20 im Funktionssystem „Augen“ ein Gesamt-GdB von 50 nicht erreicht werden würde.

Nach alledem sind der Gerichtsbescheid des SG vom 25. Juli 2019 und der Bescheid des Beklagten vom 5. September 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. November 2017 rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Verpflichtung des Beklagten, unter teilweiser Aufhebung des Teil-Abhilfebescheides vom 28. April 2008 einen GdB von 50 ab dem 15. Mai 2017 festzustellen. Die Berufung war deshalb zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht gegeben, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.

Rechtskraft
Aus
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