1. Liegt nach dem Ergebnis eines staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens keine Vorsatztat vor, sind die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit zu eigener, weitergehender Ermittlungstätigkeit nur verpflichtet, wenn neue erfolgversprechende Ansatzpunkte zur Feststellung einer Vorsatztat aufgetaucht sind oder der Sachverhalt unter anderen rechtlichen Kriterien als im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren zu würdigen ist.
2. Ein Hauptzweck des § 2 Abs. 1 OEG ist es gerade, diejenigen von der Versorgung auszuschließen, die sich selbst bewusst oder leichtfertig in hohem Maße gefährden und dadurch einen Schaden erleiden. Wer bewusst oder leichtfertig ein hohes Risiko eingeht, hat die Folgen selbst zu tragen; das Opferentschädigungsrecht schützt ihn dann nicht. Insofern unterscheidet sich das Opferentschädigungsrecht wesentlich von denjenigen Bereichen des Entschädigungsrechts, in denen die Folgen einer Schädigung nur dann nicht wirtschaftlich ausgeglichen werden, wenn sich die Betroffenen absichtlich selbst geschädigt haben. Das BSG hat im Opferentschädigungsrecht die bewusste oder leichtfertige Selbstgefährdung in Fällen einer hohen Gefahr immer als Leistungsausschlussgrund beurteilt (vgl. die Nachweise bei BSG, Urteil vom 18. Oktober 1995 - 9 RVg 5/95 – juris).
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 22. Mai 2014 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander auch nicht für das Berufungsverfahren zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) wegen eines Wasserwerfereinsatzes der Polizei am 7. Juni 2007 in der Nähe der Ortschaft Heiligendamm.
Vom 6. bis 8. Juni 2007 fand in Heiligendamm das G8-Gipfeltreffen statt. Am 16. Mai 2007 hatte die Polizeidirektion Rostock eine Allgemeinverfügung erlassen, mit der unter anderem in der Zeit vom 5. Juni 2007, 0.00 Uhr, bis 8. Juni 2007, 24 Uhr, „alle öffentlichen Versammlungen und Aufzüge unter freiem Himmel“ in einem näher beschriebenen und auf einer Karte gekennzeichneten Gebiet um Heiligendamm untersagt worden waren. Dieses Gebiet bestand aus einer inneren und einer äußeren Verbotszone. Die innere Verbotszone I umfasste den Bereich der so genannten technischen Sperranlage um Heiligendamm zuzüglich vorgelagerter 200 m. Bei der Sperre handelte es sich um einen aus Anlass des G8-Gipfels errichteten, etwa 12,5 km langen und 2,50 m hohen Sperrzaun, der mit einem Übersteigschutz und Nato-Stacheldraht oben auf versehen war. Die äußere Verbotszone II umfasste einen dem nochmals um einige Kilometer vorgelagerten Bereich. Am 16. Mai 2007 erließ die Polizeidirektion Rostock eine Allgemeinverfügung über eine räumliche und zeitliche Beschränkung des Versammlungsrechts im Bereich um Heiligendamm und Laage im Zeitraum vom 30. Mai bis 8. Juni 2007. Unter anderen waren im genannten Zeitraum untersagt alle öffentlichen Versammlungen und Aufzüge unter freiem Himmel im Gebiet innerhalb der technischen Sperre um Heiligendamm und bis 200 Meter vor der technischen Sperre. Im Sperrgebiet II waren alle öffentlichen Versammlungen und Aufzüge unter freiem Himmel vom 5. bis 8. Juni 2007 untersagt. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die Allgemeinverfügung (wie auch gegen ein Verbot der Versammlung in Form eines Sternmarsches zum G 8-Gipfel) blieb im Wesentlichen erfolglos (Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 31. Mai 2007 - 3 M 53/07 – juris). Gleiches gilt für Eilrechtsschutz, der beim Bundesverfassungsgericht beantragt worden war (Beschluss vom 6. Juni 2007 - 1 BvR 1423/07 – juris).
Der Kläger wurde als Teilnehmer einer Demonstration gegen den G8-Gipfel auf einer Wiese bei Hinter Bollhagen in der Nähe des Westtores und damit direkt an der technischen Sperre vor einem dort errichteten Sicherheitszaun schwer verletzt.
Im August 2007 beantragte der Kläger bei dem Land Mecklenburg-Vorpommern, dem ehemaligen Beklagten, Leistungen nach dem OEG. Wegen des Sachverhaltes bezog er sich auf eine Strafanzeige gegen unbekannte Polizeibeamte wegen schwerer Körperverletzung und Körperverletzung im Amt vom 12. Juli 2007. In dieser hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers den Sachverhalt wie folgt geschildert:
„Mein Mandant lief am 7.6.2007 zusammen mit ca. 1000 weiteren friedlichen Demonstranten auf dem Weg vom Camp Reddelich durch den Wald zum Feld in der Nähe des sog. Westgates bei Heiligendamm. Am Feld angekommen, begab er sich mit der Masse friedlicher Demonstranten über das Feld direkt zur Böschung unterhalb der Straße.
In dieser Zeit bezogen auf der Straße drei Wasserwerfer mit Kölner Kennzeichen Stellung. Beim Anblick der Wasserwerfer bewegten sich einige vereinzelte Demonstranten, die weder vermummt waren noch Ketten bildeten, mit erhobenen Händen in Richtung Wasserwerfer. Sie riefen: „Wir sind friedlich! Was seid ihr!“ Daraufhin formierte sich am Straßenrand eine Polizeikette vor den Wasserwerfern. Die Demonstranten wurden aufgefordert, sich zurückzuziehen. Als dies nicht geschah, schossen die Wasserwerfer zunächst Richtung Boden, später direkt gegen Personen, die auch vereinzelt umfielen.
Dazu wird von einem Augenzeugen, der sich in der Nähe eines Wasserwerfers befand, sehr detailliert berichtet, wie er Augenkontakt mit einem Polizisten auf dem Wasserwerfer aufnahm und ihn durch Körpersprache fragte, was das solle. Der Kanonier lächelte daraufhin herausfordernd und selbstzufrieden. Dabei bemerkte der Augenzeuge, dass in diesem Moment die Wasserkanone direkt in seine Richtung fokussiert wurde und daraufhin zielgenau auf seine Hände geschossen wurde, die eine Matratze zum Schutz hielten.
Weiter konnte der Augenzeuge nach dem eigenen Beschuss beobachten, dass der Polizist sehr genau zielte. Der Kanonier schärfte zunächst immer seinen Blick, bevor er schoss und hielt des Öfteren inne, um wieder neu zu zielen. Dabei beobachtete der Zeuge, dass der Wasserwerfer überdurchschnittlich viele Köpfe traf und es in der Regel auf die Ränder der Planen abgesehen hatte.
Mein Mandant beobachtete das Geschehen zunächst aus sicherer Entfernung von ca. 100 m.
Von dort sah er, wie ein Wasserwerfer in Richtung Tor fuhr und ein anderer Wasserwerfer auf dieselbe Position rückte, wo der vorherige Wasserwerfer stand.
Auf dem Feld der Demonstranten herrschte angespannte Ruhe. Einige Demonstranten breiteten vorne vor dem nachrückenden Wasserwerfer eine Plane aus und versteckten sich dahinter. Mein Mandant begab sich zu den Demonstranten hinter dieser Plane. Dabei musste er sich durch Ducken gegen einen Wasserstrahl schützen, der gegen die Plane geschossen wurde. Danach hörte der Wasserwerfer auf zu spritzen.
In diesem Moment befand sich mein Mandant ca. 4-5 m von den Wasserwerfern entfernt und beobachtete, wie ein Polizist mit Helm vor den Planen der Demonstranten stand und mit seinem Knüppel auf einzelne Demonstranten zeigte. Hinter ihm befand sich im Sichtkontakt der Einsatzleiter der Wasserwerfer.
Danach herrschte kurz Ruhe.
Mein Mandant stand dann auf und schaute über die Plane und hatte Augenkontakt zu dem Kanonier des Wasserwerfers ihm gegenüber. In diesem Augenblick kam die Durchsage: „Achtung, wir löschen!“. Unmittelbar danach traf meinen Mandanten ein Wasserstrahl mit Hochdruck ins linke Auge.
Ihm war sofort bewusst, dass er schwer verletzt war und schrie: „Ich kann nichts mehr sehen!“ Ein anderer Zeuge schrie: „Der Wasserwerfer hat dem das Auge herausgerissen!“
Nach Verständigung des anwesenden Notarztes der Polizei, der meinen Mandanten zunächst nur vor Ort mit einer oralen Gabe behandeln wollte, wurde auf Druck von Polizei oder Sanitätern schließlich doch noch ein Rettungswagen gerufen. Zur Ruhigstellung wurde ihm ein Verband um beide Augen gelegt. Mein Mandant fühlte sich sehr schlecht. Er war vollständig nass, hatte riesige Schmerzen und konnte nichts mehr sehen. Seine Freunde durften ihn im Rettungswagen nicht begleiten, weil er bereits volljährig war. Der Rettungswagen fuhr meinen Mandanten zunächst zu einem Bereitschaftsarzt nach Bad Doberan, der sofort entschied, dass er in die Augenklinik nach Rostock verlegt werden musste. In Rostock wurde sofort eine Notoperation eingeleitet.
Nach der schweren Verletzung meines Mandanten wurde vom Augenzeugen berichtet, dass die vorderen Demonstranten, die vom Geschehen sichtlich geschockt waren, sofort auf einen Wasserwerfer zeigten und riefen: „Du bist schuld!“ Der betreffende Polizist verzog keine Miene, kann aber von dem Augenzeugen wiedererkannt werden.
Mein Mandant hat durch die beschriebene Tat das Sehvermögen auf seinem linken Auge fast vollständig verloren. Entsprechende Atteste werden beigefügt. Über die weiteren medizinischen Entwicklungen werde ich Sie nach Bekanntgabe des Aktenzeichens auf dem Laufenden halten.“
Der Kläger erlitt am 7. Juni 2007 am linken Auge eine hochgradige Sehminderung durch Netzhautvernarbungen bei Zustand nach Blow Out Fraktur und Contusio bulbi. Die Sehfähigkeit ist dauerhaft auf 1/36 herabgesetzt, Brillengläser bringen keine Besserung (Arztbrief der Augenärztin R vom 21. Januar 2009).
Das staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren bei der Staatsanwaltschaft Rostock () gestaltete sich wie folgt:
Die Staatsanwaltschaft ermittelte die Besatzungen der Wasserwerfer aus Köln. Sie hörte den Zeugen M S (S), der ebenfalls als Demonstrant anwesend war, an. Dieser erklärte am 7. Juli 2007 Folgendes:
„Zu 2.) Wo befanden sie sich im Augenblick des Vorfalls?
Ich stand vorne, ca. 6 m vor der Absperrung. Direkt zu meiner Linken (gen Westen) waren die Leute hinter den zwei Planen, zu meiner Rechten jemand mit einer Luftmatratze. Ich konnte den Polizisten, der die Wasserkanone bediente, sehr gut erkennen. Er saß 6-7 m entfernt und der Wasserwerfer-LKW bewegte sich nicht.
Ich erlebte aus ca. 8 m Entfernung, wie eine Person, infolge des Wasserwerferstrahles zu Boden gegangen war.
Zu 3.) Wie hat sich der Vorfall zugetragen?
Auf 80m Breite, in 10m - 15m Entfernung zur Polizeiabsperrung gab es zwei bis drei Planen, hinter denen 12-15 Menschen standen. Dies war auch für die Polizei über die Seiten einsehbar. Die Gruppe mit den Planen befanden sich zu dem Zeitpunkt der der betreffende Vorfall geschah ja auch vor den Polizisten stehen blieb. Ich hatte überhaupt nicht den Eindruck, dass die zwei Planen eine Gefahr oder Aggression darstellten. Die dahinter Verborgenen machten keine Anstalten, die Polizeikette zu attackieren noch fanden sie Nachahmer etc.
in kleinen Abständen, also auch immer mit Unterbrechungen von wenigen Minuten schoss der Wasserwerfer auf die Planen, weil das Nicht-Eingehen auf die polizeilichen Forderungen eine polizeiliche Maßnahme legitimieren würde?]. Wieder einmal zurückgedrängt befand sich die Gruppe mit den zwei Planen in 10m Entfernung zur Polizeikette und folglich 14m zu dem Wasserwerfer, der direkt vor uns stand und mit dessen Schützen ich zweimal Blickkontakt hatte. Plötzlich registrierte ich, dass am westlichen Rand, also zur Linken in Richtung Polizei blickend eine Person zu Boden gegangen war. Eine männliche Person rief etwas. Ich verstand etwas wie „Auge … Verletzung … Stopp … Hört auf!“ Schnell hörte ich aus mehreren Mündern die Worte „Auge raus!“ Die Info wurde von den Leuten auch weiter verbreitet als „Auge verletzt“ oder „Auge raus.“ Die Person, die gerufen hatte, bewegte sich selbstsicher und zielgerichtet auf die Polizeikette zu. Anfänglich muss die Polizei gedacht haben, der Mann wolle sie attackieren. Denn einige hoben den Schlagstock und Schilder, andere rückten enger zusammen. Nur dadurch, dass aber die anderen Demonstranten eher ein Schritt zurückmachten und es plötzlich ganz ruhig war, wurde klar, dass dieser Mann ein besonderes Anliegen an die Polizei hatte. Ihn begleitete jetzt eine Frau. Erst ein Polizist, der nicht vorne stand, muss erkannt haben, dass es sich um keine Aggression handelte, dann er gab einerseits irgendwelche Anweisungen an die Beamten, andererseits bewegte er sich auf die Person mit dem Anliegen. […]
Zu 4.) Es waren mehrere Wasserwerfer im Einsatz, können Sie zum Wasserwerfer konkrete Angaben machen, aus dem der Strahl verschossen wurde?
Gegen 11:30 Uhr fand sich die große Demo-Mehrheit auf der Wiese vor der Anhöhe ein – ein ca. 100m breiter Streifen (ein freies Grundstück). Nun bewegten sich alle direkt auf die Polizei zu. Ich konnte zu diesem Moment ungefähr 40 Polizisten ausmachen. Das heißt, dass es einen Abstand von ca. 2 m zwischen den Polizisten gab. Von Westen her kamen nun zwei Wasserwerfer. Später waren zwei weitere auszumachen. Zwei Wasserwerfer postierten sich vorne, ein dritter blieb erst hinter einem der beiden vorderen, schoss aber später auch. Diese drei Wasserwerfer hatten ein Kölner Nummernschild.
Der Wasserwerfer, von welchem aus der Geschädigte getroffen wurde, war der in der Mitte. Denn der in der Mitte stand uns (der Gruppe mit den Planen und mir) fast genau gegenüber.
Zu 5.) Können Sie zum Schützen konkrete Angaben machen, würden sie ihn eindeutig erkennen?
Ja, ich kann mich an den Schützen sehr gut erinnern. Ich kann ihn zweifelsfrei wiedererkennen. […]
Zum Verhalten des Schützens
Ich konnte den Polizisten, der die Wasserkanone bediente, sehr gut erkennen. Er saß ja bloß 6-7 m entfernt und der Wasserwerfer-LKW bewegte sich nicht. Einmal sahen wir uns beide an. Ich hob meine Achseln und machte ein fragendes, verständnisloses Gesicht und bedeutete ihm mit einem Kopfnicken die Frage, was das solle? (auf Köpfe zu zielen. Er hatte mich zuvor hart am Kopf getroffen und mich damit umgeworfen). Er erwiderte meine Geste mit einem selbstzufriedenen, arroganten und herausfordernden Lächeln. Dabei bemerkte ich, dass er parallel dazu/gleichzeitig die Wasserkanone wieder direkt in meine Richtung fokussierte. Er begann kurz darauf wieder zu schießen. Ich hielt mir den Unterarm vor den Kopf (Augen), weil ich Angst hatte, der Wasserstrahl würde mich verletzen. Schließlich traf er mich direkt am Kopf und auf das rechte Ohr. Der Strahl war so hart wie ein Schlag mit einer Küchenpfanne, also irgendwie sehr punktiert. Ich fiel seitlich nach hinten und muss kurz benommen gewesen sein. Ich weiß, wie ich in voller Länge in den Schlamm knallte und beim Aufstehen Probleme hatte. Zwei Personen kamen auf mich zu und wollten mir beim Aufstehen helfen. Dies war alles eine Frage von Sekunden. Meine Sonnenbrille war weg und in näherer Umgebung nicht mehr zu finden. Ich begab mich zurück in die Reihe vorne und suchte nun hinter der Luftmatratze Schutz. Als der Schütze uns kurz darauf wieder beschoss, traf der Strahl meine Hände, mit der ich den Rand der Luftmatratze hielt. Er war so hart, als ob mir die Finger und Gelenke brechen würden. Dies schien aber vom Grad des Auftreffens abzuhängen.
Der „Kanonier“ zielte sehr genau. Zum einen schärfte er immer seinen Blick, bevor er schoss und hielt des Öfteren inne, um wieder neu zu zielen. Zum anderen war es offensichtlich, dass er überdurchschnittlich viel die Köpfe traf. Wie in meinem Fall hatte er es auch auf die Ränder der Planen abgesehen. Ebenso kann ich mich erinnern, dass er zumindest einmal einen Hinweis eines anderen Kollegen erhielt. In diesem Zusammenhang fokussierten beide ihren Blick und der Kanonier machte mit der Hand eine zielende Geste bzw. bestätigte scheinbar etwas Gesagtes, indem er auf jemanden zeigte. Darauf hin begann er zu schießen. Ich weiß, dass er in diesem Moment jemanden direkt am Kopf traf und der Demonstrant sich eine Hand auf das rechte Ohr drückte und Abstand suchte. Ich hatte den Eindruck, als ob ganz gezielt auf einzelne Personen gezielt wurde. Womöglich war die Entfernung auch zu gering, um nicht auf Einzelpersonen zu schießen.
Als die Person, der gerade das Auge verletzt worden war, hinter der Polizeiabsperrung verschwunden war, gab es einen Ruf, der sich an den Schützen des besagten Wasserwerfers richtete: „Du bist Schuld!“ Dem Ruf schlossen sich viele, scheinbar alle an, die vorne standen. Alle schauten dabei zu dem Kanonier und machten zusätzlich Armbewegungen, mit dem Gestus einen Schuldigen zu kennzeichnen. Das gingen ziemlich lang so – bestimmt 2 Minuten. Der betreffende Polizist verzog aber kaum eine Miene; er wirkte, es wolle ihm alles gleichgültig erscheinen. An das Gesicht dieses Polizisten kann ich mich noch erinnern.
Ein Demonstrant ging auf die Polizei und den Wasserwerfer zu und forderte: „Nu dreht doch endlich mal den Druck runter!“
In einer Zeugennachvernehmung durch die Polizei P am 30. Januar 2008 erklärte S Folgendes:
„[…]
Ich stand ungefähr 6 bis 7 Meter von der Polizeikette entfernt. Sie standen genau vor mir. Dahinter befanden sich drei Wasserwerfer. Der betreffende Wasserwerfer (auf Skizze die Nummer 2) stand schräg links mir gegenüber. Die Entfernung liegt etwa bei 7 bis 12 Meter. Schräg links hinter mir standen mehrere Personen mit zwei Planen. Ich schätze es waren ca. 5 bis 6 Leute hinter den Planen. Die Personen konnte ich in meinem Augenwinkel sehen. Ich sah, wie der Wasserstrahl in Richtung der Planen ging. Ich habe gesehen, wie der Geschädigte zu Boden ging. Ich selbst wurde auch drei mal von diesem Wasserwerfer getroffen. Zwei mal bekam ich ihn am Kopf ab. Einmal bekam ich den Strahl an der Schläfe ab. Ich ging zu Boden und fühlte mich eine Weile benommen. Der Strahl war sehr hart.
Jemand der in der Nähe des Geschädigten stand, schrie. Ich verstand nur: „Auge“, „Auge raus“, Auge verletzt“. In dem Moment trat auch eine enorme Ruhe ein. Es gab dann keine Rufe mehr. Es war ca. 1 bis 1,5 Minuten lang. Es konzentrierten sich alle auf die eine Person am Boden. Die Person, die „Auge raus“ gerufen hat, ging dann nach vorn zur Polizeikette. Es herrschte immer noch totale Ruhe. Er sprach mit einem Beamten, der von hinten kam. Dann wurde der Geschädigte gestützt und ebenfalls nach vorn gebracht. Dort wurde er den Sanitätern übergeben.
Als ich von dem Wasserwerfer getroffen wurde und zu Boden gegangen bin, stand ich auf und guckte ihn fragend an. Ich verstand nicht, warum er meinen Kopf getroffen hat. Wir hatten kurzzeitig auch Augenkontakt. Ich sah, dass er einen Kaugummi kaute. Er sah mich auch an und grinste mich an. Dabei zielte er wieder auf mich. Als sich dies sah, duckte ich meinen Kopf nach unten und versuchte, ihn durch meine Arme zu schützen. Er traf mich trotzdem ein weiteres mal am Kopf.“
Es wurde nun eine Lichtbildvorlage durchgeführt. Nach deren Auswertung („Ähnlichkeit auf Grund des Alters, Augenpartie. Zweifelsfreie Wiederkennung traut er sich nicht zu.“) wurde der Polizeibeamte M H (H) als Werfer ermittelt und dementsprechend als Beschuldigter geführt. Außer dem H befanden sich noch folgende Polizeibeamte auf dem Wasserwerfer: Als Kommandant Herr S G (G), als Fahrer Herr U E (E), als weiterer Werfer Herr D B (B) und als Beobachterin Frau K V (V). Die Vorgenannten wurden von der Polizei K jeweils als Zeugen vernommen, auch der Kläger wurde von der Polizei P als Zeuge vernommen. In der Folge wurde auch G als Beschuldigter geführt. H sagte zur Sache nicht aus.
Der Kläger selbst sagte in seiner polizeilichen Vernehmung am 11. November 2008 Folgendes aus:
„Ich bin mit einer großen Gruppe vom „Camp Redelich“ losgelaufen. Ich bin zu diesem Camp zusammen mit Freunden mit dem Auto hingefahren und wir haben dort übernachtet.
Am 07.06.2007 sind wir in einer riesigen Gruppe gegen 09:00 oder 10:00 Uhr losgelaufen. Wir sind im Prinzip 2 Stunden gelaufen, durch Wälder und über Felder. Wir waren vielleicht 2000 Leute. Ich kann das schlecht schätzen. Vielleicht waren es auch mehr.
Irgendwann sind wir bei dieser Wiese Hinter Bollhagen angekommen. Es ist mir noch wichtig zu sagen, dass ich im hinteren Drittel gelaufen bin. Ich wollte erst mal sehen, was da los ist. Wir liefen auf diese Wiese. Die Wiese befindet sich auf so einem Abhang. Oberhalb der Wiese war eine Straße. Dort standen Wasserwerfer. Ich denke es waren zwei oder drei Wasserwerfer zu dem Zeitpunkt des Einkommens. Da möchte ich mich nicht festlegen.
Die Masse hat vorn gestockt. Die ersten Reihen sind mit erhobenen Händen in Richtung der Wasserwerfer gelaufen. Vor den Wasserwerfern hatte sich eine Polizeikette gebildet. Die Leute sind weiter in Richtung Wasserwerfer gegangen. Dann wurden auch schon die ersten Wasserstöße abgegeben. Zu diesem Zeitpunkt war ich hinten und noch 100 oder 200 Meter entfernt. Mir war noch nicht bewusst, was da vorne abgeht. Ich stand mit meinen Freunden noch ungefähr 15 bis 20 Minuten in der Entfernung und haben uns das dort angesehen.
Ein Wasserwerfer hat sich dann umgestellt und ein weiterer Wasserwerfer ist nachgerückt. Vor dem mittleren Wasserwerfer haben Leute eine Plane ausgebreitet. Es war vermutlich eine Bauplane. Ich habe sie aber nicht von vorne gesehen. Sie war vielleicht vier Meter breit und stand ungefähr 10 Meter vor den Wasserwerfern. Ich bin daraufhin neugierig geworden und bin Stück für Stück nach vorne gelaufen. Dann bin ich bis zu dieser Plane vorgelaufen. Hinter der Plane befanden sich vielleicht 20 Personen. Ich kann nicht genau sagen, wie viele dahinter waren. Sie duckten sich und stemmten sich gegen die Plane. Ich habe mich sozusagen hinten angestellt. Und die Plane wurde auch zu diesem Zeitpunkt schon mit dem Wasserwerfer beschossen.
Als der Wasserstrahl aufhörte, habe ich über die Plane geguckt. Ich wollte mal sehen was jetzt ist. Ich sah einen Polizisten. Er stand vor der Plane, vielleicht 5 Meter entfernt. Er stand ein Stück vor der Polizeikette. Er hatte einen Polizeistock in der Hand und hatte mit dem Stock in drei Richtungen dirigiert. Wahrscheinlich hat er die Richtungen für den Wasserwerfer angezeigt.
Dann ging es auch schnell. Er zeigte dann auch in meine Richtung. Ich wusste gar nicht, warum er jetzt meine Richtung zeigte und was jetzt passiert. Ich kann mich noch erinnern, dass jetzt die Durchsage kam: „Achtung wir löschen!“. Ich habe nicht realisiert, was das jetzt heißt. In dem Moment wurde ich durch den Strahl vom Wasserwerfer am Kopf getroffen und bin zu Boden gegangen. Der Wasserstrahl ging genau in mein linkes Auge, auf dem ich jetzt auch fast blind bin. Das ging so schnell, dass ich nicht mal den Wasserstrahl kommen sah. Sonst hätte ich mich vielleicht noch ducken können. Ich habe sofort mitbekommen, dass was ganz krasses passiert ist. Ich bekam mein Auge nicht mehr auf, hatte wahnsinnige Schmerzen. Ich war geschockt und schrie, dass ich nichts mehr sehen kann.
Ich lag dann da. Irgendjemand brüllte noch, dass mir das Auge weggeschossen wurde. Der Spruch beruhigte mich überhaupt nicht in dem Moment. Im Prinzip habe ich die ganze Zeit geweint und geschrien. Ich hatte unheimliche Angst.
Dann kamen irgendwelche Sanitäter, die mir als erstes einen Augenverband um beide Augen gemacht haben.
Frage:
Können Sie sagen von welchem der Wasserwerfer sie mit dem Wasserstrahl beschossen worden?
Antwort:
Ja, das weiß ich genau. Zu dem Zeitpunkt waren definitiv drei Wasserwerfer da. Der mittlere Wasserwerfer stand genau 10 Meter vor der Plane. Von diesem Wasserwerfer wurde ich mit Wasser angeschossen.
Frage:
Können Sie die Person, die sie angeschossen hat, wiedererkennen?
Antwort:
Kann ich nicht sagen. Ich habe versucht, mir das Bild in Erinnerung zu bringen. Aber es ist verblasst. Es wird schwierig.
Frage:
Wie viele Personen befanden sich auf dem mittleren Wasserwerfer?
Antwort:
Vorn saß der Kommandoführer. Der sitzt etwas tiefer. Auf der linken Seite saß der Fahrer. Etwas weiter oben saßen die beiden Personen, die die Wasserwerfer bedienen. Der mittlere Wasserwerfer stand etwas schräg vor uns. Sozusagen war die „Beifahrerseite“ gut für mich sichtbar. Den von vorn gesehen auf der linken Seite sitzenden Beamten, der den Wasserwerfer bediente, konnte ich gut sehen. Ich bin mir jedoch nicht sicher, welcher von beiden mich beschossen hat. Ich denke, dass es die linke Person sein muss. Durch das Schrägstehen des Wasserwerfer saß die Person weiter vor.
Frage:
Wurden Gegenstände in Richtung der Polizeibeamten geworfen?
Antwort:
Auf keinen Fall. Als ich da vorn war, wurde nichts geworfen.
Frage:
Wurde hinter der Plane ein Feuer oder ähnliches angemacht?
Antwort:
Dazu war überhaupt keine Zeit und das hatte auch keiner vor! Als ich da war, hatten die Leute hinter der Plane überhaupt keine Zeit, ein Feuer zu machen. Sie hatten zu tun, sich hinter die Plane zu stemmen, weil sie zu diesem Zeitpunkt mit Wasser beschossen wurden. Auch bevor ich dorthin kam, konnte ich nicht sehen, dass dort ein Feuer gezündet wurde. Ich konnte genau sehen, dass dort kein Feuer gezündet wurde.
Frage:
Können Sie noch weitere Zeugen benennen?
Antwort:
Ich hatte mich ja von meinem Freundeskreis getrennt und bin allein nach vorn zur Plane gegangen. Die Leute hinter der Plane kenne ich nicht. Ich kann keinen weiteren Zeugen benennen.
[…]
Frage:
Möchten Sie noch etwas ergänzen?
Antwort:
Ja, mir es wichtig zu betonen, dass es sich am 07.06.2007 um eine friedliche Sache gehandelt hat. Es gab überhaupt keinen Grund den Wasserwerfer einzusetzen.“
Mit Schreiben an den Prozessbevollmächtigten des Klägers vom 8. September 2009 teilte die Staatsanwaltschaft Rostock mit, das Verfahren gegen H und G gemäß § 170 Abs. 2 der Strafprozessordnung (StPO) einzustellen. In dem Schreiben heißt es unter anderem, für ein vorsätzliches Handeln der Beschuldigten, welches Voraussetzung für die angezeigte schwere Körperverletzung wäre, gebe es keine Anhaltspunkte. In der Anzeige habe der Prozessbevollmächtigte des Klägers mitgeteilt, dass es zwischen dem Kläger und dem Beschuldigten H einen direkten Blickkontakt gegeben und dieser punktiert - und damit vorsätzlich - auf den Kläger geschossen habe. Diese Darstellung habe sich im Ergebnis der Ermittlungen nicht bestätigt. Dass es zwischen dem Kläger und dem H nicht zu einem direkten Blickkontakt im Augenblick des Wasserstoßes bzw. unmittelbar davor gekommen sei, ergebe sich bereits aus der Aussage des Klägers selbst, nach welcher er sich von hinten der senkrecht erhobenen Plane genähert und dahinter Platz genommen habe und so den Beschuldigten H zu diesem Zeitpunkt zumindest nicht habe sehen können. Sodann habe er aus Neugierde über die Plane geschaut, die Ankündigung der Polizei „Achtung wir löschen“ gehört und sei anschließend von dem Wasserstrahl erfasst worden. Einen Blickkontakt, durch den unter Umständen auf ein vorsätzliches Handeln geschlossen werden könnte, behaupte der Kläger indessen nicht. Soweit der Zeuge S in seiner Aussage angegeben habe, selbst Blickkontakt zum Beschuldigten H gehabt zu haben, so sei diese Aussage für das Geschehen zum Nachteil des Klägers unerheblich. Hinzu komme, dass der Zeuge S den eigentlichen Vorfall, der zur Schädigung des Klägers geführt habe, nach eigener Schilderung nicht beobachtet habe, er sage hierzu lediglich aus, bemerkt zu haben, dass am westlichen Rand eine Person zu Boden gegangen sei. Konkrete Beobachtungen, wie es zu der Verletzung des Klägers gekommen sei, seien den Aussagen des Zeugen S nicht zu entnehmen. Soweit der Zeuge S ausgesagt habe, er habe den Beamten, der die Wasserkanone bedient habe, sehr gut erkennen können und dieser sei seiner Geste der Fassungslosigkeit mit einem „selbstzufriedenen, arroganten und herausfordernden Lächeln“ begegnet, während er ihn gleichzeitig mit der Wasserkanone fokussiert und beschossen habe, erscheine diese Aussage höchst zweifelhaft. Zum einen sei der Beschuldigte H ohne Anweisung nicht befugt, Wasserstöße abzugeben, zum anderen erscheine die Beschreibung des Gesichtsausdrucks des Beschuldigten derart von den persönlichen Wünschen und Überzeugungen des Zeugen geprägt, dass diese Aussage als weder glaubhaft noch nachvollziehbar zu würdigen sei. Auch ließen die Aussagen der hierzu vernommenen Polizeibeamten keinen Hinweis darauf erkennen, dass der Kläger von diesen überhaupt wahrgenommen worden sei. Auch der in der Anzeige erhobene Vorwurf, ein anderer Polizeibeamter habe einen direkten Beschuss des Klägers mittels eines Schlagstockes angewiesen, habe sich nicht bestätigt und werde vom Kläger auch nicht behauptet. Die Beschuldigten hätten bestritten, den Kläger vorsätzlich beschossen und am Kopf getroffen zu haben, mehr noch, diesen überhaupt als einzelne Person wahrgenommen zu haben. Es gebe keine nachvollziehbaren Anhaltspunkte für ein gegenteiliges Geschehen. Die Unterstellung, dass die Beschuldigten eine derartige Verletzung bei dem Kläger hätten vorsätzlich herbeiführen wollen, entbehre jeder Grundlage. Soweit der Prozessbevollmächtigte Internetadressen unter YouTube genannt habe, unter denen Videokonsequenzen zu sehen seien, aus denen sich Anhaltspunkte für ein vorsätzliches Verhalten der Beschuldigten ergäben, sei festzustellen, dass von den genannten Adressen lediglich die erstgenannte Adresse aufrufbar gewesen sei. Soweit dort der Einsatz von Wasserwerfern zu sehen sei, werde deutlich, dass lediglich auf die unteren Extremitäten der Demonstranten gezielt worden sei. Die dort hinterlegte Sequenz zeige keinen Sachverhalt, bei dem von den Wasserwerfern gezielt auf Köpfe von G8-Gegnern geschossen worden wäre und sei damit als Nachweis eines strafbaren und erst recht eines vorsätzlichen Handelns nicht geeignet. Gleiches gelte auch für die zur Auswertung gelangten Videoaufnahmen der Polizei. Der zur Verletzung führende Wasserstoß könne nicht konkretisiert werden. Den Videos sei lediglich zu entnehmen, dass auch nach Beendigung der Wasserstöße die Demonstranten durch die weiterhin hochgehaltenen Planen geschützt gewesen seien. Ein hinreichender Tatverdacht für ein vorsätzliches Verhalten bestehe somit nicht. Im Anschluss ist in dem Schreiben aufgeführt, dass ebenfalls nicht der Tatbestand einer fahrlässigen Körperverletzung im Amt erfüllt sei.
Die Beschwerde des Prozessbevollmächtigten des Klägers gegen den Einstellungsbescheid vom 8. September 2009 hat Der Generalstaatsanwalt in Rostock unter dem 3. November 2009 zurückgewiesen.
Das Oberlandesgericht Rostock hat mit Beschluss vom 21. Januar 2010 den Antrag des Klägers auf gerichtliche Entscheidung gegen den Beschwerdebescheid des Generalstaatsanwalts in Rostock vom 3. November 2009 als unzulässig verworfen (). Zur Begründung ist in dem Beschluss im Wesentlichen aufgeführt, die Antragsschrift lasse eine aus sich heraus verständliche hinreichende Darstellung des Sachverhalts sowie der Inhalte, insbesondere der Beweiswürdigung im Bescheid der Staatsanwaltschaft Rostock vom 8. September 2009 sowie des Bescheids des Generalstaatsanwalts vom 3. November 2009 vermissen.
Eine Klage des Klägers gegen den ehemaligen Beklagten auf Schmerzensgeld und Feststellung, dass der ehemalige Beklagte alle weiteren materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen habe, die auf der Verletzung des Klägers vom 7. Juni 2007 beruhen, ist durch das Landgericht Rostock mit Urteil vom 9. November 2010 abgewiesen worden und zwar im Wesentlichen mit der Begründung, das beklagte Land sei nicht passiv legitimiert (). Während des anschließenden Berufungsverfahrens vor dem Oberlandesgericht Rostock () haben sich die Beteiligten außergerichtlich dahingehend geeinigt, dass der ehemalige Beklagte dem Kläger insgesamt 20.000 Euro zur Erledigung des Rechtsstreits zahle.
Nach Ermittlungen, insbesondere nach Beiziehung der Akten der Staatsanwaltschaft Rostock, lehnte der ehemalige Beklagte den Antrag auf Leistungen nach dem OEG mit Bescheid vom 24. März 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Juli 2011 ab, weil sich nach der Auswertung der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakte nicht nachweisen lasse, dass es sich bei dem Vorfall am 7. Juni 2007 um einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff im Sinne des § 1 OEG gehandelt habe.
Hiergegen hat der Kläger am 18. August 2011 Klage erhoben. Zur Begründung hat er vorgetragen, er habe sich am 7. Juni 2007 in der Nähe der für den G8-Gipfel eingerichteten Sicherheitszone um Heiligendamm (auf einer Wiese bei Hinter Bollhagen in der Nähe des sog. Westgates vor dem dort errichteten Sicherheitszaun) befunden, um seinen Protest gegen die Politik der acht wichtigsten Industrienationen sichtbar zu machen. Nachdem die Polizei, die auf der angrenzenden Straße eine bedrohlich wirkende Kette gebildet habe, zusätzlich Wasserwerfer habe auffahren und Hubschrauber habe kreisen lassen, sei der Kläger mit weiteren Demonstranten zur Straße gegangen. Diese Personen hätten mit erhobenen Händen in Richtung Polizei gerufen: „Wir sind friedlich! Was seid Ihr?“. Wenig später sei eine kurze Durchsage der Polizei erfolgt, mit der die Demonstranten aufgefordert worden seien, nicht näher zu kommen. Danach sei es noch zu der Aufforderung gekommen, sich zurückzuziehen. Im Weiteren sei aber wieder die Aufforderung ergangen, nicht näher zu kommen; wobei damit gedroht worden sei, andernfalls Wasserwerfer einzusetzen. Die Demonstranten seien tatsächlich stehen geblieben und hätten im Übrigen mit dem Wiederholen der Sprechchöre, einer „Polonaise“, mit Hinsetzen und deeskalierenden Performances reagiert. Einige hätten sich sogar gesonnt. Ein unübersichtliches, dynamisches Geschehen, das auf aggressiven Handlungen oder ein Anstürmen von Demonstranten beruht hätte, habe nicht vorgelegen. Versuche, die Polizeikette zu durchbrechen, seien nicht beobachtet worden. Die Polizei habe jedoch gegen 12:30 Uhr ohne unmittelbare Vorwarnung die Wasserwerfer eingesetzt. Da der Kläger hierbei völlig durchnässt worden sei, habe er sich zu einer kleinen Gruppe von Personen begeben, die sich hinter einer Plane zu schützen versucht hätten. Nachdem der Wasserbeschuss beendet gewesen sei, sei auch die Plane ein Stück heruntergenommen worden. Der Kläger habe nun ungehinderte Sicht zum nur wenige Meter entfernt stehenden Wasserwerfer gehabt, wobei er dann auch Blickkontakt zum Kanonier gehabt habe. Plötzlich sei die Durchsage „Achtung, wir löschen!“ erfolgt, und schon im nächsten Augenblick und ohne eine Chance des Kopfwegziehens sei der Kläger von einem einzelnen Wasserstoß im Gesicht getroffen und hierdurch erheblich verletzt worden. Der Kläger hat zum Beweis für den vorstehenden Vortrag Zeugen benannt. Dass das Strafverfahren gegen einzelne Polizeibeamte eingestellt worden sei, sei hier ohne Relevanz. Das Vorgehen der Polizei sei rechtswidrig gewesen. Insbesondere sei auch keine Auflösung der Versammlung verfügt und bekannt gegeben worden. In jedem Fall sei der Wasserwerfereinsatz zweifellos unverhältnismäßig gewesen.
Das Sozialgericht hat zum Zweck der Sachverhaltsermittlung die unter www.g8-tv.org hinterlegten Videoclips eingesehen und die Beteiligten darüber in Kenntnis gesetzt. Das Sozialgericht hat die unter der vorgenannten Internetadresse hinterlegten Videoclips „2. Blockade in Hinter-Bollhagen 07.06.2007“ auf CD gebrannt und als Beweismittel zur Gerichtsakte genommen (zunächst im Umschlag Blatt 56 der Gerichtsakte, nunmehr im Umschlag Blatt 102 der Gerichtsakte). Es hat des Weiteren die Akten der Staatsanwaltschaft Rostock beigezogen.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht am 22. Mai 2014 hat der Kläger unter anderem eine von ihm angefertigte Lageskizze nebst Foto von Google, eine Anlage Fotos und eine CD mit Videoaufnahmen vorgelegt. Die 2. Videosequenz der zur Gerichtsakte genommenen gebrannten CD sowie ein vom Prozessbevollmächtigten des Klägers bezeichnetes unter www.myvideo.de/watch/1638655 abgelegtes Video sind im Verhandlungstermin abgespielt worden.
Die auf Gewährung von Leistungen nach dem OEG gerichtete Klage hat das Sozialgericht durch Urteil vom 22. Mai 2014 abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen Folgendes ausgeführt:
Es stehe zur Überzeugung des Gerichts nicht fest, dass der Kläger die gesundheitliche Schädigung infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine Person erlitten habe. Für eine soziale Entschädigung nach dem OEG müssten die anspruchsbegründenden Tatsachen zur Überzeugung des Tatrichters erwiesen sein. Fehle es daran, gehe dies zu Lasten des Klägers. Das gelte auch für den erforderlichen Vorsatz des tätlichen Angriffs; eine fahrlässige Schädigung genüge nicht. Soweit der Kläger auf § 15 Satz 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) hinweise, folge daraus hier nichts anderes. Denn vorliegend wisse der Kläger bereits nicht, aus welcher Motivation heraus der den Wasserwerfer bedienende Polizeibeamte den Wasserstrahl auf das obere Ende der Plane, hinter welcher der Kläger gestanden habe, gerichtet habe. Insoweit könne der Kläger nur Mutmaßungen anstellen. Auch stehe für das Gericht gerade im Hinblick auf den zur Gerichtsakte genommenen Videomitschnitt der Ereignisse „2. Blockade in Hinter Bollhagen“, von welchem der Kläger im Rahmen der mündlichen Verhandlung habe bestätigen können, dass er das streitige Geschehen zeige, nicht fest, dass der oder die Polizeibeamten in feindseliger Willensrichtung gehandelt hätten. Diesbezüglich weiterführende Gesichtspunkte ergäben sich ebenso wenig aus dem durch den Kläger eingeführten Videomitschnitt, der ebenfalls im Rahmen der mündlichen Verhandlung gezeigt worden sei. Indiziell wirke für das Gericht zudem, dass das Strafverfahren gegen Polizeibeamte der Wasserwerferbesatzung wegen mangelnden hinreichenden Tatverdachts einer vorsätzlichen Körperverletzung eingestellt worden sei. Schließlich könne eine Beweiserleichterung dem Kläger auch nicht deshalb zugestanden werden, weil der Beklagte den Kläger durch mangelhafte Sachverhaltsaufklärung in einen Beweisnotstand gebracht hätte. Der Beklagte habe im Rahmen der ihm obliegenden Amtsermittlung unter anderem die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakten beigezogen. Dass die beschuldigten Polizeibeamten in diesem Verfahren von ihrem Recht zu schweigen Gebrauch gemacht hätten, könne dem Beklagten nicht angelastet werden, zumal der Kläger mit Rechtsbehelfen und Rechtsmitteln gegen die Einstellungsentscheidung nicht habe durchdringen können.
Darüber hinaus liege nach Auffassung des Gerichts ein Versagungsgrund nach § 2 Abs. 1 OEG vor. Danach seien Leistungen zu versagen, wenn der Geschädigte die Schädigung verursacht habe oder wenn es aus sonstigen, insbesondere im eigenen Verhalten des Anspruchstellers liegenden Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren. Ob das Opfer seine Schädigung mitverursacht habe, sei vor den Voraussetzungen des Versagungsgrundes nach § 2 Abs. 1 Satz 1 2. Alt. OEG zu prüfen. Die Mitverursachung stelle gegenüber dem Ausschlussgrund der Unbilligkeit einen Sonderfall dar. Zum Bereich der Mitursächlichkeit gehörten alle unmittelbaren, nach natürlicher Betrachtungsweise mit dem eigentlichen schädigenden Tatgeschehen - insbesondere auch zeitnah - eng verbundenen Umstände, während alle nicht unmittelbaren, lediglich erfolgsfördernden Umstände, die typischerweise die Vorgeschichte der eigentlichen Gewalttat beträfen, im Rahmen der Unbilligkeit zu prüfen seien. Die Mitverursachung erfordere, dass der Tatbeitrag des Opfers nicht nur eine nicht hinwegzudenke Teilursache darstelle, sondern eine wesentliche, d. h. annähernd gleichwertige Bedingung neben dem Beitrag des rechtswidrig handelnden Angreifers sei. Eine Mitverursachung sei auch dann zu bejahen, wenn eine bewusste oder leichtfertige Selbstgefährdung des Opfers vorliege. Die Entschädigung sei zu versagen, wenn sich das Opfer im unmittelbaren Zusammenhang mit der Tatbegehung bewusst oder leichtfertig, das heißt grob fahrlässig durch ein schwerwiegendes vorwerfbares Verhalten der Gefahr einer Gewalttat aussetze und sich dadurch selbst gefährdet habe, etwa durch schuldhafte Herausforderung des Angriffs. In Bezug auf die grobe Fahrlässigkeit sei ein subjektiver Maßstab entscheidend; dabei sei zu prüfen, ob das Opfer die Selbstgefährdung nach seinen persönlichen Fähigkeiten und den Umständen des Einzelfalls habe erkennen und vermeiden können und mit der Gewalttat habe rechnen müssen. Das Gericht sehe vorliegend eine leichtfertige Selbstgefährdung des Klägers, was sich zum einen aus seiner eigenen Aussage im Rahmen der polizeilichen Vernehmung, als auch aus dem Videomitschnitt „2. Blockade in Hinter Bollhagen“ ergebe. Der Kläger habe angegeben, das Geschehen auf der Wiese hinter Hinter Bollhagen zunächst aus sicherer Entfernung beobachtet zu haben. Zu diesem Zeitpunkt hätten sich die Wasserwerfer bereits im Einsatz befunden. Der Kläger sei dann Richtung Wasserwerfer bis zu einer Plane vorgerückt, hinter der sich ca. 20 Personen befunden hätten und die zu diesem Zeitpunkt bereits durch den Wasserwerfer beschossen worden seien. Dem Videomitschnitt sei zu entnehmen, dass der Wasserwerfer mehrfach und zwar jeweils nach gut hörbarer Ankündigung des Einsatzes durch einen Polizeibeamten in Richtung der Füße der Demonstranten und des unteren Endes der Plane eingesetzt worden sei. Dennoch sei insbesondere die Personengruppe hinter der Plane, hinter der sich der Kläger nach eigenen Angaben im Rahmen der mündlichen Verhandlung befunden habe, weiter Richtung Polizeikette und Wasserwerfer vorgerückt, so dass sich die Distanz zum Wasserwerfer tatsächlich verkürzt habe. Das Gericht sei der Auffassung, dass der Kläger im Hinblick auf die im Videomitschnitt dokumentierte zeitliche Abfolge der Wasserstöße und die jeweiligen Ankündigungen derselben ausreichend Gelegenheit gehabt hätte, sich wieder in eine sichere Entfernung zu dem Wasserwerfer zu bringen. Mag auch eine aus dem Videomitschnitt durchaus zu erkennende Gruppendynamik für das Verhalten des Klägers beeinflussend gewesen sein, so habe eine solche den Kläger nicht von der nur ihm obliegenden Eigenverantwortung entbinden können.
Gegen das ihm am 17. Juni 2014 zugestellte Urteil hat der Kläger am 10. Juli 2014 Berufung eingelegt. Wer einen Wasserstoß auf den Kopf eines Menschen abgebe, der wisse auch, dass eine Verletzung folge oder wahrscheinlich sei und nehme dies auch mindestens billigend in Kauf. Der Kläger habe insgesamt zehn Kopftreffer unter Beweis gestellt, ohne dass dies vom ehemaligen Beklagten bestritten worden sei. Es spreche nichts dafür, dass die Kopftreffer nicht beabsichtigt gewesen seien. Zugunsten des Klägers greife die Beweiserleichterung des § 15 Satz 1 KOVVfG. Nach einer Entscheidung des Sozialgerichts Düsseldorf trete zugunsten des Betroffenen sogar eine Beweislastumkehr ein, wenn die Strafverfolgungsbehörden keine ernstlichen Anstrengungen zur Aufklärung einer schweren Straftat unternommen hätten, was hier der Fall sei.
Mit Blick auf die Regelung des § 4 Abs. 2 Satz 2 OEG hat der Senat den bisherigen Beklagten aus dem Rechtsstreit entlassen und führt seitdem das Land Brandenburg als Beklagten.
Auch im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Senat sind die Videoaufnahmen der zur Gerichtsakte genommenen gebrannten CD sowie ein vom Prozessbevollmächtigten des Klägers bezeichnetes unter www.myvideo.de/watch/1638655 abgelegtes Video abgespielt worden. Im Einzelnen handelt es sich um vier Aufnahmen der dem Senat zur Verfügung stehenden Videosequenzen (g8-tv-1.flv, g8-tv-2.flv, Demonstranten.avi, Kopfhöhe.avi).
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 22. Mai 2014 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides des Landes Mecklenburg-Vorpommern vom 24. März 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Juli 2011 zu verurteilen, dem Kläger wegen des Ereignisses am 7. Juni 2007 Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für rechtmäßig.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten, die Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft Rostock (Az.: ), die Akten des Landgerichts Rostock sowie die den Kläger betreffenden OEG-Akten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Einleitend weist der Senat darauf hin, dass im Zuge der Umstellung von der Tatort- zur Wohnortzuständigkeit im OEG zum 1. Juli 2020 auf Beklagtenseite ein Beteiligtenwechsel kraft Gesetzes eingetreten ist. Die Zuständigkeit des ehemaligen Beklagten bis zum 30. Juni 2020 hat sich gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 OEG in der bis zum 19. Dezember 2019 gültigen Fassung und nach der Übergangsregelung des § 4 Abs. 2 Satz 1 OEG in der seit dem 20. Dezember 2019 gültigen Fassung danach gerichtet, in welchem Land die Schädigung eingetreten ist, so dass das bisher beklagte Land zuständig gewesen ist. Die Zuständigkeit des jetzigen Beklagten folgt aus § 4 Abs. 2 Satz 2 OEG in der seit dem 20. Dezember 2019 gültigen Fassung. Ab dem 1. Juli 2020 ist nach dieser Übergangsregelung für die Entscheidung dasjenige Land zuständig, in dem die berechtigte Person ihren Wohnsitz hat.
Die Berufung des Klägers ist zulässig, jedoch unbegründet. Das Urteil des Sozialgerichts ist zutreffend. Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Bescheid des ehemaligen Beklagten vom 24. März 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Juli 2011 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Er hat aufgrund des Vorfalls vom 7. Juni 2007 keinen Anspruch auf Gewährung einer Beschädigtenrente nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG gegen den Beklagten.
Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes, wer im Geltungsbereich des OEG durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Die Voraussetzungen für einen Anspruch des Klägers sind nicht erfüllt. Ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff auf den Kläger lässt sich nicht feststellen. Zudem wäre bei unterstellter Vorsatztat jedenfalls der Versagungsgrund des § 2 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. OEG einschlägig. Zur Begründung verweist der Senat auf die ausführlichen und überzeugenden Gründe der angefochtenen Entscheidung, denen er nach eigener Prüfung folgt, vgl. § 153 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Nur ergänzend merkt er Folgendes an:
Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist bei der Auslegung des Rechtsbegriffs „vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff“ im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG auf die Rechtsfeindlichkeit, vor allem verstanden als Feindlichkeit gegen das Strafgesetz, abzustellen (vgl. BSG, Urteil vom 7. April 2011 - B 9 VG 2/10 R -, juris). Das Vorliegen eines tätlichen Angriffs ist danach aus der Sicht eines objektiven, vernünftigen Dritten zu beurteilen und insbesondere sozial angemessenes Verhalten auszuscheiden. Als tätlicher Angriff ist eine in feindseliger bzw. rechtsfeindlicher Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung anzusehen, wobei die Angriffshandlung in aller Regel den Tatbestand einer – jedenfalls versuchten – vorsätzlichen Straftat gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit erfüllen muss (vgl. nur BSG, Urteil vom 29. April 2010 - B 9 VG 1/09 R - juris). Der tätliche Angriff setzt die Einwirkung auf den Körper eines anderen voraus (BSG, Urteil vom 8. November 2007 - B 9/9a VG 2/06 R - juris).
Das Vorliegen eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs hat der Kläger zu beweisen. Beweismaßstab ist nach der Rechtsprechung des BSG (vgl. Urteil vom 17. April 2013 - B 9 V 3/12 R - juris) zunächst der Vollbeweis. Danach muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen. Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen, da ein darüber hinausgehender Grad an Gewissheit so gut wie nie zu erlangen ist. Daraus folgt, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen Worten bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (BSG, Urteil vom 24. November 2010 - B 11 AL 35/09 R - juris). Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen. Auch der Vorsatz des Angreifers bedarf des Nachweises. Ist der Täter unbekannt geblieben oder lässt sich der Sachverhalt insoweit nicht oder nicht ausreichend aufklären, zum Beispiel weil der Täter zum Tatgeschehen schweigt oder nur ungenügende Angaben macht, darf aus den festgestellten äußeren Umständen auf das Vorliegen des (bedingten) Vorsatzes geschlossen werden. Ist auch dies nicht möglich, geht das Nichtfestgestelltsein des Vorsatzes nach den Grundsätzen der objektiven Beweis- bzw. Feststellungslast zu Lasten des Klägers (vgl. BSG, Urteil vom 3. Februar 1999 – B 9 VG 7/97 R – juris).
Eine Beweiserleichterung greift zugunsten des Klägers vorliegend nicht. Namentlich steht dem Kläger auch nicht die Beweiserleichterung nach § 6 Abs. 3 OEG i. V. m. § 15 Satz 1 KOVVfG zur Seite. Danach sind die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, der Entscheidung zugrunde zu legen, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind, soweit sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen. Hier fehlt es zum einen bereits an Angaben des Klägers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen. Denn aus den Tatsachen, die der Kläger zur Sache erklärt hat, ergibt sich unmittelbar kein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff. Soweit er Hilfstatsachen bezeichnet, die insbesondere für eine Vorsatztat sprechen könnten, sind Unterlagen vorhanden und zwar insbesondere in Gestalt der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakten. Soweit die Beweiserleichterung des § 15 Satz 1 KOVVfG auch dann anwendbar ist, wenn für den schädigenden Vorgang keine Zeugen vorhanden sind (BSG, Urteil vom 15. Dezember 2016 – B 9 V 3/15 R – juris), liegt hier kein solcher Fall vor, weil Zeugen vorhanden und entsprechende Zeugenaussagen aktenkundig sind.
Vorliegend lässt sich ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff nicht feststellen. Diese Einschätzung deckt sich mit dem Ergebnis des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens. Zu eigener, weitergehender Ermittlungstätigkeit wäre der Senat nur verpflichtet, wenn neue erfolgversprechende Ansatzpunkte zur Feststellung einer Vorsatztat aufgetaucht wären oder der Sachverhalt unter anderen rechtlichen Kriterien als im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren zu würdigen wäre (vgl. dazu BSG, Urteil vom 22. Juni 1988 - 9/9a RVg 3/87 - juris). Das ist hier aber nicht der Fall. Zwar ging es im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren in erster Linie um die Aufklärung des Verdachtes einer strafbaren Handlung, die vorsätzlich oder auch fahrlässig geschehen sein kann, während es im vorliegenden Verfahren entscheidend auf die Frage ankommt, ob ein vorsätzlicher tätlicher Angriff vorgelegen hat. Ein konkreter Täter braucht dabei nicht festgestellt zu werden, wenn nur die äußeren Umstände zwingend auf eine Vorsatztat schließen lassen. Dafür ist hier aber nichts ersichtlich. Die im Termin zur mündlichen Verhandlung abgespielten Videoaufnahmen lassen nach Einschätzung des Senats keine zielgerichteten Stöße mit den Wasserwerfern auf die Köpfe der Demonstranten erkennen.
Der Senat folgt aber auch der Einschätzung des Sozialgerichts, dass hier bei unterstellter Vorsatztat jedenfalls der Versagungsgrund des § 2 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. OEG einschlägig ist. Bei dem Tatbestand der 1. Alternative der Vorschrift - Mitverursachung - handelt es sich um einen Sonderfall der Unbilligkeit - 2. Alternative -, der abschließend regelt, wann die unmittelbare Tatbeteiligung des Geschädigten Leistungen ausschließt (vgl. hierzu und zum Folgenden BSG, Urteil vom 18. April 2001 - B 9 VG 3/00 R – juris). Diese Alternative ist stets zuerst zu prüfen. Eine Mitverursachung kann nur angenommen werden, wenn das Verhalten des Opfers nach der auch im Opferentschädigungsrecht anwendbaren versorgungsrechtlichen Kausalitätsnorm nicht nur einen nicht hinwegzudenkenden Teil der Ursachenkette, sondern eine wesentliche, das heißt annähernd gleichwertige Bedingung neben dem Beitrag des rechtswidrig handelnden Angreifers darstellt. Ein Leistungsausschluss ist insbesondere dann gerechtfertigt, wenn das Opfer in der konkreten Situation in ähnlich schwerer Weise wie der Täter gegen die Rechtsordnung verstoßen hat.
Aber auch wenn das Opfer zwar keinen Straftatbestand erfüllt hat, sich aber leichtfertig durch eine unmittelbare, mit dem eigentlichen Tatgeschehen insbesondere zeitlich eng zusammenhängende Förderung der Tat, zum Beispiel eine Provokation des Täters, der Gefahr einer Gewalttat ausgesetzt und dadurch selbst gefährdet hat, kann eine Mitverursachung vorliegen. Gleiches gilt, wenn sich das Opfer einer konkret erkannten Gefahr leichtfertig nicht entzogen hat, obwohl es ihm zumutbar und möglich gewesen wäre. Die leichtfertige Selbstgefährdung setzt einen erhöhten Grad von Fahrlässigkeit, der etwa der groben Fahrlässigkeit im Sinne des bürgerlichen Rechts entspricht, voraus. Allerdings gilt im Gegensatz zum bürgerlichen Recht nicht der objektive Sorgfaltsmaßstab des § 276 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), sondern ein individueller, der auf die persönlichen Fähigkeiten des Opfers abstellt. Zu prüfen ist danach, ob sich das Opfer auch anders hätte verhalten können oder müssen, weiter, ob es sich der erkannten oder grob fahrlässig nicht erkannten Gefahr nicht entzogen hat, obwohl ihm dies zumutbar gewesen wäre. Dafür ist die gesamte tatnahe Situation, wie sie sich nach natürlicher Betrachtungsweise darstellt, zu würdigen.
Die Beteiligung des Klägers an seiner Schädigung ist als gleichwertige Mitverursachung im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. OEG zu beurteilen. Diese Gleichwertigkeit kann nicht deshalb bestritten werden, weil sie voraussetzt, dass die Mitwirkung des Opfers ebenso wie der rechtswidrige Angriff von der Rechtsordnung missbilligt sein muss. Insbesondere muss die Beteiligung des Opfers nicht in demselben Maß missbilligt werden wie die Beteiligung des Täters (vgl. hierzu und zum Folgenden BSG, Urteil vom 18. Oktober 1995 - 9 RVg 5/95 – juris). Auf der Grundlage einer solchen Meinung wäre die Selbstgefährdung des Opfers im Vergleich mit der gegen ihn gerichteten vorsätzlichen Straftat des Täters nie gleichwertig. Denn zwangsläufig wird die Straftat von der Rechtsordnung stärker missbilligt als eine Selbstgefährdung des Opfers dieser Straftat. Die Missbilligung der Selbstgefährdung findet ihren Ausdruck in der Normierung von Rechtsnachteilen, zum Beispiel in der Kürzung oder Versagung von Ersatz- oder Entschädigungsansprüchen. Ein Hauptzweck des § 2 Abs. 1 OEG ist es gerade, diejenigen von der Versorgung auszuschließen, die sich selbst bewusst oder leichtfertig in hohem Maße gefährden und dadurch einen Schaden erleiden. Wer bewusst oder leichtfertig ein hohes Risiko eingeht, hat die Folgen selbst zu tragen; das Opferentschädigungsrecht schützt ihn dann nicht. Insofern unterscheidet sich das Opferentschädigungsrecht wesentlich von denjenigen Bereichen des Entschädigungsrechts, in denen die Folgen einer Schädigung nur dann nicht wirtschaftlich ausgeglichen werden, wenn sich die Betroffenen absichtlich selbst geschädigt haben. Das BSG hat im Opferentschädigungsrecht die bewusste oder leichtfertige Selbstgefährdung in Fällen einer hohen Gefahr immer als Leistungsausschlussgrund beurteilt (vgl. die Nachweise bei BSG, Urteil vom 18. Oktober 1995 - 9 RVg 5/95 – juris). Die bewusste Selbstgefährdung ist nur dann nicht dem Opfer angelastet worden, wenn für sie ein beachtlicher Grund vorlag, so dass die Selbstgefährdung nicht missbilligt werden konnte. Das ist vor allem dann der Fall, wenn das Opfer sich nach der besonderen Fallgestaltung für andere eingesetzt hat.
Der Senat teilt die Einschätzung des Sozialgerichts, dass sich bereits aus den Angaben des Klägers selbst das Vorliegen eines Versagensgrundes ergibt. Der Kläger hat sich leichtfertig selbst gefährdet, weil er sich einer hohen Gefahr ausgesetzt hat. Denn er hat sich aus seiner sicheren Position und in Kenntnis des polizeilichen Wasserwerfereinsatzes gleichsam ins „Zentrum des Geschehens“ und damit selbst in Gefahr begeben. Das gesamte Verhalten des Klägers kann nur als leichtfertig im skizzierten Sinne angesehen werden. Dabei ist zu beachten, dass er nach eigenen Aussagen mit den anderen Demonstranten zunächst im hinteren Drittel gelaufen ist und sehen wollte, was los ist. Aus 100 bis 200 Metern Entfernung hat er sich 15 bis 20 Minuten das Geschehen angeschaut und gesehen, dass die Wasserwerfer gegen die Demonstranten eingesetzt wurden. Er hat demnach die Gefahrenlage eingehend eingeschätzt, ist aber gleichwohl vorgerückt bis hinter die nur ca. zehn Meter von den Wasserwerfern entfernte Plane. Ein beachtlicher Grund, so dass die Selbstgefährdung nicht missbilligt werden könnte, hat hier schon deshalb nicht vorgelegen, weil der Kläger an einer ausdrücklich verbotenen Versammlung teilgenommen hat. Der von ihm in den Vordergrund gerückte – von den Videoaufnahmen indes nur teilweise gedeckte – Gesichtspunkt, es habe sich um eine „friedliche“ Demonstration gehandelt, ist daher hier unmaßgeblich.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil ein Grund hierfür gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG nicht vorliegt.