Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 15. April 2021 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger dessen notwendige außergerichtliche Kosten für das Berufungsverfahren zu erstatten. Im Übrigen bleibt es bei der Kostenentscheidung des Sozialgerichts.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten im Berufungsverfahren noch über die Entziehung des Merkzeichens H (Hilflosigkeit).
Die 1998 geborene Kläger leidet an einer geistigen Behinderung. Der Beklagte hatte mit Bescheid vom 22. Februar 2005 bei ihm einen Grad der Behinderung (GdB) von 80 sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen B, G und H festgestellt. Im Nachprüfungsverfahren veranlasste der Beklagte die Begutachtung des Klägers durch die Psychologin und Psychotherapeutin Dr. L, die im Gutachten vom 8. Oktober 2016 zu dem Schluss gelangte, dass die Voraussetzungen für das Merkzeichen H seit dessen Volljährigkeit nicht mehr vorlägen. Mit Bescheid vom 26. September 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Februar 2018 hob der Beklagte die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen H mit Wirkung vom 30. September 2017 auf.
Mit der Klage bei dem Sozialgericht Berlin hat der Kläger die Feststellung eines GdB von 100 begehrt und sich gegen die Entziehung des Merkzeichens H gewandt. Hierzu hat er u.a. die von der Bundesagentur für Arbeit veranlasste sozialmedizinische gutachterliche Stellungnahme des Dipl. Med. M vom 28. April 2017 eingereicht. Das Sozialgericht hat die Pflegegutachten des MDK vom 25. April 2013 und vom 1. Juli 2013 beigezogen und neben dem Befundbericht des Facharztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie Dr. B vom 1. April 2019 das Gutachten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. H vom 20. Dezember 2019 mit ergänzender Stellungnahme vom 28. August 2020 eingeholt, der die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens H für gegeben gehalten hat.
Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 15. April 2021 den Entziehungsbescheid des Beklagten aufgehoben und die Klage, soweit sie auf Feststellung eines GdB von 100 gerichtet war, abgewiesen. Zur Begründung hat es, gestützt auf die Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen, ausgeführt, bei dem Kläger lägen die Voraussetzungen für das Merkzeichen H weiterhin vor.
Mit der Berufung wendet sich der Beklagte gegen die Aufhebung des Bescheides vom 26. September 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Februar 2018, mit dem er bei dem Kläger die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen H entzogen hat. Die vom Sozialgericht herangezogenen Ausführungen des Sachverständigen zum Umfang der Pflegeaufwands seien nicht überzeugend.
Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 15. April 2021 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt schriftsätzlich,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die Entscheidung des Sozialgerichts für zutreffend.
Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.
II.
Die Berufung des Beklagten wird nach § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Beschluss zurückgewiesen, da der Senat sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.
Das angefochtene Urteil ist nicht zu beanstanden. Das Sozialgericht hat den Bescheid vom 26. September 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Februar 2018 zu Recht aufgehoben, da die Entziehung des Merkzeichens H rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt.
Rechtsgrundlage für einen Entziehungsbescheid ist § 48 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch (SGB X). Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei dem Erlass dieses Verwaltungsakts vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Im hier zu entscheidenden Fall handelt es sich bei dem Verwaltungsakt mit Dauerwirkung um den Bescheid vom 22. Februar 2005, mit der Beklagte dem bei dem Kläger u.a. das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen H festgestellt hatte. In den tatsächlichen Verhältnissen, die bei dem Erlass dieses Verwaltungsakts vorgelegen hatten, trat im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Beklagten keine wesentliche Änderung ein, die eine Entziehung des Merkzeichens H rechtfertigen würde.
Der Kläger erfüllte im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Beklagten über die Entziehung die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichen H.
Gemäß § 152 Abs. 4 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) treffen die zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen in Verfahren nach § 152 Abs. 1 SGB IX, wenn neben dem Vorliegen der Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen sind. Hierbei sind die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ (VMG) heranzuziehen.
Entgegen der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 20. Februar 2020, die sich auf eine (nicht näher zitierte) „Arbeitshilfe der versorgungsmedizinisch gutachterlich tätigen Ärztinnen und Ärzte von April 2018“ stützt, ist für das Merkzeichen H bei geistigen Behinderungen kein Mindest-GdB von 100 erforderlich. Dieser Arbeitshilfe kommt keine Außenwirkung gegenüber dem Kläger zu. Verbindlich festgelegt sind die Voraussetzungen der Hilflosigkeit seit dem 1. Januar 2009 ( BGBl I 2008, 2412) vielmehr in A 4 VMG. Diese Rechtsnorm kennt keinen Mindest-GdB von 100 für das Merkzeichen H. A 4f aa Var. 3 VMG in Verbindung A 4e Satz 1 VMG, wonach in der Regel bei geistiger Behinderung, die für sich allein einen GdB von 100 bedingt, angenommen werden kann, dass die Voraussetzungen für das Vorliegen von Hilfslosigkeit erfüllt sind, stellt eine Vermutung zugunsten des behinderten Menschen auf, schließt aber die Zuerkennung des Merkzeichens H nicht aus, wenn – wie hier – für die geistige Behinderung ein GdB von unter 100 anzusetzen ist.
Nach A 4b Satz 1 VMG sind diejenigen hilflos, die infolge von Gesundheitsstörungen für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung ihrer persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd bedürfen; vgl. auch § 33b Abs. 6 Satz 3 Einkommensteuergesetz in der bis zum 14. Dezember 2020 gültigen Fassung vom 26. Juni 2013 (BGBl. I 1809) bzw. § 33b Abs. 3 Satz 4 Einkommensteuergesetz in der ab 15. Dezember 2020 gültigen Fassung vom 9. Dezember 2020 (BGBl. I 2770).
Bei den hiernach zu berücksichtigenden Verrichtungen handelt es sich um solche, die im Ablauf eines jeden Tages unmittelbar zur Wartung, Pflege und Befriedigung wesentlicher Bedürfnisse des Betroffenen gehören sowie häufig und regelmäßig wiederkehren (vgl. Bundessozialgericht -BSG-, Urteil vom 12. Februar 2003 – B 9 SB 1/02 R –, SozR 4-3250 § 69 Nr. 1). Dazu zählen zunächst die Bereiche der Körperpflege (Waschen, Duschen, Baden, Zahnpflege, Kämmen, Rasieren, Darm- und Blasenentleerung), Ernährung (mundgerechtes Zubereiten und Aufnahme der Nahrung) und Mobilität (Aufstehen, Zubettgehen, An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen, Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung), nicht aber der Hilfebedarf bei hauswirtschaftlichen Verrichtungen. Hinzu kommen Maßnahmen zur psychischen Erholung, geistige Anregungen und Kommunikation (vgl. BSG, Urteil vom 23. Juni 1993 – 9/9a RVs 1/91 –, BSGE 72, 285; siehe zu § 35 Abs. 1 Satz 1 Bundesversorgungsgesetz : BSG, Urteil vom 10. Dezember 2002 – B 9 V 3/01 R –, BSGE 90, 185).
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (siehe Urteil vom 10. Dezember 2002 a.a.O. m.w.N.; vgl. auch BT-Drucks 12/5262, S. 164) ist darüber hinaus ein Hilfebedarf erheblichen Umfangs erforderlich. Dies richtet sich nach dem Verhältnis der dem Betroffenen ohne fremde Hilfe nicht mehr möglichen Verrichtungen zu denen, die er auch ohne fremde Hilfe noch bewältigen kann. In der Regel wird dabei auf die Zahl der Verrichtungen, den wirtschaftlichen Wert der Hilfe und den zeitlichen Aufwand abzustellen sein.
Zunächst kann eine "bei einer Reihe von Verrichtungen" wiederkehrende Hilfe regelmäßig erst dann angenommen werden, wenn es sich um mindestens drei Verrichtungen handelt.
Das ist vorliegend der Fall: Nach den Feststellungen des Sachverständigen Dr. H benötigt der Kläger aufgrund seiner geistigen Behinderung Unterstützung beim Essen (situativ beim Kleinschneiden von Fleisch, Bestreichen von Broten), Hilfen in Form von Anleitung und Überwachung beim Waschen, beim Duschen, beim Rasieren, bei der Zahn- und Haarpflege, bei der Nachsäuberung nach der Toilettenbenutzung, beim An- und Auskleiden und beim Wäschewechsel sowie Hilfeleistungen bei der Tagesstrukturierung, der verbalen Kommunikation, der intellektuellen und auch körperlichen Anregung bei der Tätigkeit in der Werkstatt für behinderte Menschen und bei der sozialen Interaktion.
Weiter stellt das Bundessozialgericht zur Ermittlung der Erheblichkeit des Hilfebedarfs auf den täglichen Zeitaufwand für erforderliche Betreuungsleistungen ab: Wer nur in relativ geringem Umfang von täglich etwa einer Stunde auf fremde Hilfe angewiesen ist, ist nicht hilflos. Demgegenüber ist ein täglicher Zeitaufwand als hinreichend erheblich anzusehen, wenn er mindestens zwei Stunden erreicht (vgl. BSG, Urteil vom 12. Februar 2003 a.a.O.). Bei einem täglichen Zeitaufwand für fremde Hilfe zwischen einer und zwei Stunden ist Hilflosigkeit dann anzunehmen, wenn der wirtschaftliche Wert der erforderlichen Pflege (wegen der Zahl der Verrichtungen bzw. ungünstiger zeitlicher Verteilung der Hilfeleistungen) besonders hoch ist (vgl. BSG, Urteil vom 10. Dezember 2002 a.a.O.).
Gemessen an diesen Maßstäben steht nach Überzeugung des Senats nach dem Ergebnis der Ermittlungen fest, dass der Kläger einen hinreichend erheblichen Hilfebedarf hat. Der Sachverständige Dr. H hat in seinem Gutachten herausgearbeitet, dass der tägliche Hilfebedarf den Umfang von zwei Stunden überschreitet: Im Bereichen der Grundpflege benötigt der Kläger aufgrund seiner geistigen Behinderung täglich 49 Minuten Hilfe. Hinzu kommt die Unterstützung in Form von geistiger Anregung, Kommunikation und Maßnahmen zur geistigen Anregung, für die nach der überzeugenden Einschätzung des Sachverständigen mehrere Stunden täglich erforderlich sind. Die Einwendungen des Beklagten führen zu keinem anderen Ergebnis. Denn zu berücksichtigen ist, dass der Kläger aufgrund seiner intellektuellen Beeinträchtigungen seine Alltagskompetenzen überschätzt. Bei ihm liegen eine Reihe von Funktionsbeeinträchtigungen vor: Er leidet an eingeschränkter Motivation, an eingeschränkter Daueraufmerksamkeit, an eingeschränkten Funktionen des Denkens, an eingeschränkten höheren Funktionen wie Abstraktionsvermögen, Organisation und Planen, Zeitmanagement, kognitiver Flexibilität, an eingeschränkten Funktionen des Rechnens und an eingeschränkten kognitiv-sprachlichen Funktionen. Der Kläger ist durchaus in der Lage, bestimmte Sachverhalte zu erkennen, und auch körperlich fähig, entsprechende Handlungen vorzunehmen, aber er erkennt nicht die Notwendigkeit, dies auch zu tun. Deshalb benötigt er, wie der Sachverständige aufgezeigt hat, für zahlreiche Angelegenheiten des täglichen Lebens ständige Anleitung.
Selbst unter der Annahme eines täglichen Betreuungsaufwandes von unter zwei Stunden – für die nach der Überzeugung des Senats nichts spricht – wäre zu berücksichtigen, dass nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts auch den besonderen Umständen der Hilfeleistung, insbesondere ihrem wirtschaftlichen Wert, Bedeutung zukommt. Denn eine Hilfsperson kann regelmäßig nur für zusammenhängende Zeitabschnitte, nicht jedoch für einzelne Handreichungen herangezogen bzw. beschäftigt werden. Angesichts der Zahl der von dem Kläger benötigten Hilfen und deren zeitliche Verteilung über den gesamten Tag ist der Senat davon überzeugt, dass sie einen hohen wirtschaftlichen Wert erreichen, der dazu führt, dass der Hilfebedarf des Klägers als erheblich im Sinne der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu betrachten ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt den Ausgang des Rechtsstreits.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.