L 7 KA 10/20 WA

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
7
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 71 KA 93/00
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 7 KA 10/20 WA
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts

Berlin vom 11. Dezember 2002 wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 30.531,79 Euro festgesetzt.

Gründe

 

I.

 

Der Kläger wendet sich gegen einen Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid, mit dem die Beklagte den Honorarbescheid über die vertragsärztliche Vergütung, betreffend das Quartal II/1996 aufgehoben, das Honorar neu festgesetzt und die Summe von 59.715.00 DM zurückgefordert hat.

 

Der 1953 geborene Kläger war im Bereich der Beklagten im Planungsbezirk B-K zur vertragsärztlichen Versorgung als Arzt für Allgemeinmedizin zugelassen. Er war zunächst in Gemeinschaftspraxis (in I/1996 mit Dr. U) tätig, seit dem 1. April 2006 in einer Einzelpraxis. Die Beklagte setzte das Honorar des Klägers für das Quartal II/1996 auf der Grundlage des EBM-Ä 1996 zunächst auf 125.825,44 DM fest. Im Nachgang der Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 17. September 1997 (6 RKa 36/97), wonach die die durch den EBM-Ä 1996 vorgegebene, rückwirkende Budgetierung der Gesprächs- und Untersuchungsleistungen für I und II/1996 rechtswidrig war, setzte die Beklagte das Honorar des Klägers für das o.g. Quartal auf 117.923,61 DM fest (Bescheid vom 24. November 1997). Der Kläger erhob dagegen keinen Widerspruch. Der Disziplinarausschuss der Beklagten ordnete mit Beschluss vom 25. November 1998 das Ruhen der Zulassung des Klägers für vier Quartale, beginnend am 1. April 1999 an. Die Auswertung von Tagesprofilen für das Quartal II/1996 habe gezeigt, dass der Kläger für die Erbringung der abgerechneten ärztlichen Leistungen, nämlich zu 80 % die Abrechnungsziffern 10 und 11 EBM-Ä (1996), täglich 15,76 Stunden hätte tätig sein müssen. Unter den Bedingungen der (ehemals geltenden) rückwirkenden Budgetierung habe die vom Vorstand ursprünglich festgelegte Maßnahme, die Reduzierung des  Honorarvolumens auf den Fachgruppendurchschnitt, nicht greifen können, da die Abrechnung des Klägers nach der Budgetierung unterhalb des Fachgruppendurchschnitts gelegen habe. Der Vorstand der Beklagten habe daher beschlossen, in solchen Fällen ein Disziplinarverfahren anzustrengen. Dieser Vorstandsbeschluss betreffe den Kläger in doppelter Hinsicht. Er habe einerseits nicht auf den Fachgruppendurchschnitt zurückgestuft werden können und andererseits – bezogen auf die Tagesprofile – hätten sich 20 Arbeitstage mit über 18 Stunden gefunden, wobei an 7 Tagen allein EBM-Festzeitleistungen mit über 18 Stunden aufgetreten seien.  Nach Stellungnahme des Klägers und weiterer Auswertung der Tagesprofile habe sich eine durchschnittliche tägliche Arbeitszeit von 15,76 Stunden pro Tag ergeben. Für den Disziplinarausschuss stehe fest, dass der Kläger in dem Quartal II/1996 in mehreren hundert Fällen Leistungen abgerechnet habe, die er nicht oder aber nicht in ausreichendem Umfang erbracht habe. Die Abrechnungsfehler habe er in der mündlichen Verhandlung auch eingeräumt und konzediert, sich nicht viel mit der Abrechnung beschäftigt zu haben. Er sei mit einer Schadenswiedergutmachung einverstanden gewesen und würde die Entscheidung des Disziplinarausschusses akzeptieren. Er habe zudem eingestanden, so gut wie nie die für die Abrechnungsziffern 10 und 11 vorgegebene EBM-Zeit erfüllt zu haben. In der Diskussion mit dem Disziplinarausschuss sei der Eindruck entstanden, dass er sich mit den Leistungslegenden dieser GO-Nrn. weder in zeitlicher noch in qualitativer Hinsicht vertraut gemacht habe. Es bleibe dem Disziplinarausschuss nichts anderes übrig als die Abrechnungssammelerklärung des Klägers für das Quartal II/1996 als grob fahrlässige schriftliche Lüge zu bewerten. Jeder durchschnittlich begabte Nichtarzt müsse aufgrund des schlichten Lesens der Gebührenordnungsnummern 10 und 11 in der Lage sein, die Abrechnungsvoraussetzungen für diese Leistungen zu erkennen. Der Disziplinarausschuss könne davon ausgehen, dass der Kläger fast vollständig den Ansatz der GO-Nummern 10 und 11 unter falschen Voraussetzungen durchgeführt habe. Daraus ergebe sich ein Schaden allein für dieses Quartal von ca. 60.000 DM (berechnet nach Anzahl der abgerechneten Leistungen und einem Mischpunktwert von 5 Pfennigen). Aufgrund der zumindest grob fahrlässigen fehlerhaften Abrechnungen in einer Vielzahl von Fällen, die von ihm auch eingestanden worden seien, reichten die Sanktionsmittel des Disziplinarausschusses eigentlich nicht mehr aus. Gleichzeitig erscheine das Ruhen der Zulassung für 4 Quartale als das mildeste Mittel, um den Kläger für die Zukunft zu einem ansatzweise pflichtgemäßen Verhalten zu bewegen.

 

Der gegen das Ruhen gestellte Eilantrag des Klägers blieb erfolglos (Beschluss der 71. Kammer des Sozialgerichts Berlin vom 27. Januar 1999 – S 71 KA 256/98 ER, bestätigt durch Beschluss des Landessozialgerichts Berlin vom 11. März 1999). Die Klage des Klägers blieb ebenfalls erfolglos (Urteil der 71. Kammer des Sozialgerichts Berlin – S 71 KA 256/98). Mit Bescheid vom 8. März 1999 entzog der Zulassungsausschuss dem Kläger unter Berufung auf die Falschabrechnung in II/1996 die Zulassung. Widerspruch und Klage dagegen blieben erfolglos (Urteil der 79. Kammer des Sozialgerichts Berlin – S 79 KA 248/99*71, Urteil des LSG Berlin – L 7 KA 298/02).

 

Die Beklagte hob mit Bescheid vom 22. Februar 1999 den Honorarbescheid des Klägers für II/1996 in der Fassung des Neufestsetzungsbescheides auf und setzte das Honorar auf 52.206,61 DM fest. Sie verpflichtete den Kläger zur Schadenswiedergutmachung in Höhe von 59.715,00 DM. Entgegen der von ihm abgegebenen Garantieerklärung auf der Abrechnungssammelerklärung habe der Kläger die von ihm abgerechneten Leistungen nicht vollständig erbracht. Auf der Grundlage der Feststellungen des Disziplinarausschusses sei davon auszugehen, dass nahezu alle Gebührenpositionen nach den Abrechnungsziffern 10, 11 und 17 EBM-Ä (1996) nicht vollständig erbracht worden seien. Bei der Schadensberechnung werde davon ausgegangen, dass 90 % dieser Leistungen nicht abrechnungsfähig gewesen seien. Es handele sich um insgesamt 1.194.300 Punkte. Ausgehend von einem Punktwert von 0,05 DM ergebe sich die Kürzungssumme. Den Widerspruch des Klägers, den dieser nicht begründete, wies die Beklagte zurück (Sitzung vom  29. November 1999).

 

Der Kläger hat am 7. März 2000 Klage zum Sozialgericht Berlin erhoben. Die Kürzungen seien zu hoch, die Beklagte dürfe sich dazu nicht pauschal auf die Feststellungen des Disziplinarausschusses stützen. Er habe nicht eingestanden, im Quartal II/1996 grob fahrlässig falsch abgerechnet zu haben, sondern lediglich eingestanden, sich mit den Leistungslegenden der GO-Nummern 10 und 11 EBM-Ä nicht ausreichend befasst zu haben. Insbesondere habe er verkannt, dass diese nur bei Einhaltung von Mindestzeiten abrechenbar gewesen seien. Es sei vom Disziplinarausschuss nicht festgestellt worden, dass in allen Fällen Verstöße gegen die (Mindest-)Zeitvorgaben vorlägen. Eine Kürzung der Abrechnung um 90 % sei nicht gerechtfertigt. Er habe in dem Quartal 2.300 Patienten/Patientinnen behandelt, die überwiegend aus dem ehemaligen Jugoslawien stammten und wegen der Situation dort und ihres schlechten psychischen Zustandes in erster Linie ausführlicher mündlicher Beratung bedurft hätten. Daher müsse in 2.654 Fällen, in denen die Abrechnungsziffern 10 und 11 abgerechnet worden seien, zumindest die Ziffer 1 EBM-Ä abgerechnet werden. Der Honorarkürzung stehe auch der Bescheid des Prüfungsausschusses vom 27. März 1999 entgegen. Es sei festgestellt worden, dass die Leistungen der Ziffern 11 und 73 des EBM-Ä 1996 in der Regel sach- und diagnosegerecht zum Ansatz gelangt seien.

 

Mit Urteil vom 11. Dezember 2002 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Rechtsgrundlage für die Aufhebung des Honorarbescheides und Neufestsetzung des Honorars sei § 45 Abs. 2 S. 1 Bundesmantelvertrag Ärzte (BMV) bzw. § 34 Abs. 4 S. 1 und 2 Ersatzkassenvertrag Ärzte (EKV). Danach berichtige die Beklagte die Honorarforderung bei nicht ordnungsgemäßer Honorarabrechnung. Im vorliegenden Fall stehe für das Gericht, wie sich aus dem rechtskräftigen Urteil vom 16.2.2000 (S 71 KA 256/98) ergebe, fest, dass der Kläger in dem streitigen Quartal Leistungen abgerechnet habe, die er nicht oder nicht in der erforderlichen Weise erbracht habe. Gemäß der Feststellung des Disziplinarausschusses habe er, abgesehen von Laborleistungen, überwiegend die Ziffern 1, 2, 10, 11, 17, 60, 603, 691 und 710 EBM-Ä abgerechnet. Hiervon entfalle ein Anteil von 80 % auf die Ziffern 10 und 11. Allein bei Zugrundelegung der im EBM-Ä vorgegebenen festen Zeiten hätte er aufgrund der erstellten Tagesprofile Sprechstunden von mehr als 18 Stunden bzw. mehr als 16 Stunden abhalten müssen, um die Leistung zu erbringen. Bei Hinzuziehung der Leistungen, für die der EBM-Ä keine feste Zeiten vorgebe, zeige sich, dass der Kläger an einzelnen Tagen Sprechzeiten von mehr als 18 Stunden hätte abhalten müssen. In diesen Zeiten seien seine Tätigkeiten im privatärztlichen Bereich sowie die sonstigen Praxistätigkeiten, wie zum Beispiel Abrechnung usw. noch nicht enthalten. Es stehe daher fest, dass die von dem Kläger auf der Abrechnungssammelerklärung II/1996 abgegebene Erklärung, mit der die ordnungsgemäße Erbringung und Abrechnung der Leistungen bestätige, falsch sei. Es sei höchstrichterlich entschieden, dass die Abgabe einer ordnungsgemäßen Abrechnungssammelerklärung eine eigenständige Voraussetzung für die Entstehung des Anspruchs des Vertragsarztes auf Vergütung der von ihm erbrachten Leistungen sei (BSG, Urteil vom 17. Juli 1996 – 6 RKa 85/96). Die Abrechnungssammelerklärung sei als Ganzes bereits dann unrichtig, wenn nur ein mit ihr erfasster Behandlungsausweis eine unrichtige Angabe über erbrachte Leistungen enthalte. Im vorliegenden Fall lägen zweifelsfrei für das streitige Quartal Abrechnungsfehler vor. Dies habe der Kläger auch eingestanden. Gemäß dem Protokoll über die Sitzung des Disziplinarausschusses habe er erklärt, er habe unabsichtlich falsche Ziffern eingetragen. In der Klageschrift habe er zudem ausgeführt, sich mit den Leistungslegenden der Ziff. 10 und 11 EBM-Ä nicht ausreichend befasst und deshalb auch verkannt zu haben, dass deren Abrechnung nur dann zulässig sei, wenn die vorgegebenen Mindestzeiten erfüllt seien. Hierin liege aus Sicht des Gerichts ein grob fahrlässiges Verfahren des Klägers, denn er habe seine Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt. Die Pflicht zur peinlich genauen Leistungsabrechnung gehöre zu den obersten Pflichten eines Vertragsarztes. Um eine ordnungsgemäße Abrechnung durchführen zu können, müsse er sich unter anderem mit den Abrechnungstatbeständen im EBM-Ä vertraut machen. Dies habe der Kläger nicht getan. Folge der falschen Abrechnungssammelerklärung sei, dass der Honorarbescheid als Ganzes rechtswidrig werde, was zur Aufhebung durch die Beklagte berechtige. Sofern davon auszugehen sei, dass Leistungen tatsächlich ordnungsgemäß erbracht worden seien, habe die Kassenärztliche Vereinigung das Honorar neu festzusetzen. Dabei habe sie ein weites Schätzungsermessen. Anhaltspunkte dafür, dass die Beklagte dieses Ermessen fehlerhaft ausgeübt habe, bestünden nicht.  Die Beklagte sei zugunsten des Klägers davon ausgegangen, dass es lediglich bei Abrechnung der Ziff. 10,11 und 17 EBM-Ä zu Fehlern gekommen sei und habe nur bei der Abrechnung dieser Ziffern Kürzungen vorgenommen. Anhand der erstellten Tagesprofile sei für das Gericht nachvollziehbar, dass hier eine 90-prozentige Kürzung vorgenommen worden sei. Denn es sei völlig unrealistisch, dass der Kläger in einem Quartal durchschnittlich über 15 Stunden täglich habe aufwenden müssen, nur um die Leistungen zu erbringen, für die der EBM-Ä Mindestzeiten vorsehe. Soweit der Kläger die Ansicht vertrete, die Beklagte müsse im einzelnen die Unrichtigkeit der von ihm angesetzten Ziffern 10, 11 und 17 EBM-Ä nachweisen, verkenne er die Gegebenheiten des Vertragsarztrechts. Wegen der aufgrund des Sachleistungssystems auseinanderfallenden Beziehungen bei der Leistungserbringung (Arzt/Patient) und der Vergütung (Arzt/KV) und der damit verbundenen mangelnden Kontrollmöglichkeiten basiere die Abrechnung des Arztes auf Vertrauen. Werde dieses Vertrauen jedoch wie im vorliegenden Fall durch grobe Abrechnungsfehler zerstört, liege das Honorarrisiko auf Seiten des Arztes, der die unrichtigen Angaben gemacht habe. Es liege insoweit eine Beweislastumkehr vor. Auch sei die Beklagte nicht gehalten gewesen, die von ihm falsch abgerechneten Ziffern zu seinen Gunsten in andere Ziffern umzusetzen. Es wäre vielmehr seine Sache gewesen, seine Abrechnung von Anfang an korrekt durchzuführen. Soweit er aus den Ausführungen des Prüfungsausschusses Feststellungen zur korrekten Abrechnung herleiten wolle, könne er hiermit ebenfalls keinen Erfolg haben. Berichtigungen wie im vorliegenden Fall seien zwingend vor Durchführung der Wirtschaftlichkeitsprüfung vorzunehmen. Im Übrigen werde bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung die Tätigkeit des Vertragsarztes mit der derjenigen seiner Fachgruppe verglichen. Über die Frage, ob die abgerechneten Leistungen auch tatsächlich erbracht worden seien, könnten die Prüfgremien dagegen in der Regel keine Aussage treffen. Zugunsten des Klägers sei die Beklagte bei der Feststellung des Schadens, der i.H.v. 1.194.300 Punkten beziffert werde, von einem Punktwert von 0,05 DM ausgegangen. Wären hingegen die tatsächlichen Auszahlungspunktwerte zugrunde gelegt worden, hätte der Schaden höher festgesetzt werden müssen. Im Übrigen habe sich die Beklagte damit begnügt, dem Kläger ein Honorar über dem Fachgruppendurchschnitt zu belassen.

 

Gegen das ihm am 16. Januar 2003 zugestellte Urteil hat der Kläger am 4. Februar 2003 Berufung eingelegt.

 

Nicht in Abrede gestellt werde die Rechtmäßigkeit der von der Beklagten vorgenommenen Aufhebung des ursprünglichen Honorarbescheides. Soweit das Erstgericht aber die Beklagte für berechtigt gehalten habe, unter Ausnutzung eines weiten Schätzermessens das Honorar des Klägers im Hinblick auf die Abrechnungs-Ziffern 10,11 und 17 EBM-Ä um 90 % zu kürzen und somit auf einen Restbetrag von 10 % der ursprünglich Abrechnung festzusetzen, halte dies der rechtlichen Überprüfung nicht stand. Es lägen insoweit keine plausiblen und nachvollziehbaren Erwägungen zur Honorarfestsetzung vor. So sei zu berücksichtigen, dass der Kläger in dem streitgegenständlichen Quartal mehr als 2.300 Patienten, d. h. etwa viermal so viel wie eine Berliner Durchschnittsarztpraxis, behandelt habe. Außerdem habe seine Vertragsarztpraxis über eine ganz außergewöhnliche Patientenstruktur verfügt. Fast sämtliche Patienten seien aus dem früheren Staatsgebiet Jugoslawiens gekommen. Sie seien damit Kriegsflüchtlinge. Diese hätten gastroenterologische, Herz- oder Lungenerkrankungen aufgewiesen und sich fast alle in einem extrem beeinträchtigten psychischen Zustand befunden. Sie hätten daher an erster Stelle ausführlicher mündlicher Beratung bedurft. Es sei daher nicht verwunderlich, dass es zu dieser außergewöhnlich hohen Abrechnung der Abrechnungsziffern 10, 11 und 17 EBM-Ä gekommen sei. Außerdem habe die Beklagte zu keinem Zeitpunkt bestritten, dass der Kläger in dem Quartal regelmäßig 15 Stunden und mehr am Tag gearbeitet habe. Es spreche auch nichts dagegen, dass er in diesem Umfang täglich tatsächlich gearbeitet habe. Dies sei auch in Anbetracht der hohen Patientenzahl nicht anders zu bewerkstelligen gewesen. Bereits erstinstanzlich habe der Kläger zum Beweis für diese enorme Arbeitszeit einen Zeugenbeweis angeboten. Die Zeuginnen (Praxismitarbeiterinnen) könnten auch bestätigen, dass der Kläger zumindest in den ganz überwiegenden Fällen mit seinen Patienten Beratungsgespräche geführt habe, welche die Dauer von 15 Minuten erreicht und teilweise auch deutlich überschritten hätten. Die Beklagte hätte sich daher im Rahmen der Neufestsetzung dazu gedrängt fühlen müssen, Praxismitarbeiterinnen des Klägers zu einer Stellungnahme dazu aufzufordern, in welchem Umfang die vom Kläger geführten Beratungsgespräche eine Dauer von mindestens 15 Minuten erreicht hätten. Diese hätten dann bestätigt, dass zumindest in 75 % der Fälle die von dem Kläger mit seinen Patienten durchgeführten Gespräche die Zeitspanne von 15 Minuten erreicht hätten. Außerdem sei es der Beklagten bis heute nicht gelungen, eine nachvollziehbare Begründung für die durchgeführte 90-prozentige Honorarkürzung zu geben. Sie habe sich im wesentlichen auf die Feststellung in dem Disziplinarverfahren gestützt. Es sei nicht klar geworden, auf welcher Grundlage der Disziplinarausschuss die Feststellung getroffen habe, der Kläger habe in mehreren Hundert Fällen Leistungen abgerechnet, die er nicht oder in nicht ausreichendem Maße erbracht habe. Auch habe die Beklagte nichts dafür vorbringen können, weshalb die Honorarkürzung gerade in einem Umfang von 90 % durchgeführt worden sei. Zu berücksichtigen sei schließlich, dass der Beklagten bereits zum Zeitpunkt der Sitzung des Widerspruchsausschusses bekannt gewesen sei, dass der Kläger in sämtlichen Folgequartalen bis III/1999 die streitgegenständlichen Gebührenpositionen in einem beinahe gleichen Umfang abgerechnet habe, ohne dass die Beklagte hieran Anstoß genommen habe. So spreche also nichts dafür, dass er gerade in dem streitigen Quartal Falschabrechnungen vorgenommen habe, zumal in einem Umfang, wie ihn die Beklagte willkürlich geschätzt habe.

 

Der Kläger beantragt,

 

unter Abänderung des Urteils des Sozialgerichts Berlin vom 11. Dezember 2002 den Rücknahme- und Neufestsetzungsbescheid der Beklagten vom 22. Februar 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. November 1999 aufzuheben.

 

Die Beklagte beantragt,

 

            die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 11.

Dezember 2002 zurückzuweisen.

 

Sie verweist auf die Begründung des erstinstanzlichen Urteils. Es seien auch wegen Folgequartalen Disziplinarverfahren gegen den Kläger geführt worden. Diese seien nur wegen der bestandskräftigen Entziehung der Zulassung des Klägers eingestellt worden.

 

Der Senat hat am 14. Juli 2006 einen Termin zur Erörterung der Sache durchgeführt.

 

Am 8. Februar 2005 hat das Amtsgericht Tempelhof-Kreuzberg über das Vermögen des Klägers das Insolvenzverfahren eröffnet (Az.: 37 IK 123/04). Nach Abhaltung des Schlusstermins und der rechtskräftigen Entscheidung der Restschuldbefreiung wurde das Insolvenzverfahren mit Beschluss vom 4. Juni 2012 vom Amtsgericht aufgehoben.

 

Der Kläger ist am 31. Dezember 2015 nach Serbien verzogen. Auf Antrag der Beklagten hat der Senat das Verfahren wieder aufgenommen.

 

Wegen des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird ergänzend auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie des Verwaltungsvorgangs des Beklagten Bezug genommen, der, soweit wesentlich, Gegenstand der Entscheidungsfindung war.

 

II.

 

A. Der Senat darf über die Berufung nach Anhörung der Beteiligten durch Beschluss entscheiden, weil er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält (§ 153 Abs. 4 Satz 1 und 2 Sozialgerichtsgesetz [SGG]).

 

B. Die zulässige Berufung ist unbegründet.

 

1. Das Verfahren durfte wieder aufgenommen werden. Mit der (förmlichen) Aufhebung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Klägers durch den Beschluss des Amtsgerichts Tempelhof-Kreuzberg vom 4. Juni 2012 (37 IK 123/04) endete die Unterbrechung des Berufungsverfahrens (§ 202 SGG) i.V.m. §  240 Satz 1 Zivilprozessordnung).

 

2. Das Sozialgericht hat die Anfechtungsklage des Klägers (§ 131 Abs. 4 SGG) gegen den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid der Beklagten vom 22. Februar 1999 in der Fassung des Widerspruchsbescheides zu Recht abgewiesen. Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat nach eigener Sachprüfung auf die zutreffenden Gründe der angefochtenen Entscheidung Bezug (§ 153 Abs. 2 SGG). Dort wird die Sache sorgfältig und überzeugend gewürdigt. Die Begründung der Berufung setzt dem nichts von Substanz entgegen. Zu ergänzen bleibt:

 

Der Kläger wendet sich in der Berufung allein noch gegen die Kürzung seines Honoraranspruchs für das Quartal II/1996, die Rechtmäßigkeit der Aufhebung des ursprünglichen Honorarbescheides zieht er dagegen nicht in Zweifel. Die Beklagte hat von ihrem Schätzungsermessen in zutreffender Weise Gebrauch gemacht.

 

1. Maßgebliche Sach- und Rechtslage für die Beurteilung, ob die Entscheidung der Beklagten rechtmäßig erging, ist im Rahmen der reinen Anfechtungsklage der Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung (BSG, Urteil vom 17. September 1996 – 6 RKa 86/95, Rn. 18, zitiert nach juris). Im Fall des Klägers kommt es mithin auf den Zeitpunkt der Widerspruchsentscheidung am 29. November 1999 an. Der Kläger hatte seinen Widerspruch vom März 1999 bis zur Entscheidung der Widerspruchsstelle am 29. November 1999 nicht begründet. Noch am 18. November 1999 waren die Bevollmächtigten des Klägers darauf hingewiesen worden, dass der Vorstand der Beklagten dem Widerspruch nicht abhelfen werde und die Sache der Widerspruchsstelle zugeleitet werde. Auf die fehlende Begründung wurden die Rechtsanwälte hingewiesen. Soweit der Kläger daher erstmals im erstinstanzlichen Klageverfahren einen Zeugenbeweis für die Tatsache angeboten hat, dass er in dem streitgegenständlichen Quartal regelmäßig 15 Stunden und mehr pro Tag gearbeitet habe und im Berufungsverfahren dann auch die bereits genannte Mitarbeiterin als Zeugin dafür benannt hat, dass die Patientenberatungsgespräche auch regelmäßig die Schwelle von 15 Minuten erreicht und überschritten hätten, kann das keine Berücksichtigung finden. Der Senat muss sich insoweit nicht zu dem Umstand verhalten, dass der Vortrag in gewissem Widerspruch zu den Feststellungen des Disziplinarausschusses und den eigenen Einlassungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem Disziplinarausschuss steht. In dieser Anhörung hat er eingeräumt, falsche Gebührenordnungsnummern in die Behandlungsausweise eingetragen zu haben, dies deshalb, weil er sich nicht viel mit der Abrechnung beschäftigt habe. Im Übrigen kann unterstellt werden, dass eine durchschnittliche tägliche Arbeitszeit von über 15 Stunden vorlag. Davon geht auch der Disziplinarausschuss in seiner Entscheidung aus (tägliche Arbeitszeit von durchschnittlich 15,76 Stunden, vgl. S. 3 der Entscheidung). Auch soll gerade die Garantiefunktion der Abrechnungssammelerklärung des Vertragsarztes vermeiden, dass in zeitlichem Abstand kleinteilig ermittelt werden muss, in welchem Umfang der Vertragsarzt tatsächlich welche Leistungen erbracht hat. Daher ist die ordnungsgemäße Abrechnungssammelerklärung auch eigenständige Voraussetzung für die Entstehung des Honoraranspruchs. Das BSG führt dazu aus:

 

„Die Richtigkeit der Angaben auf den Behandlungsausweisen kann nur in engen Grenzen überprüft werden, und Kontrollen sind mit erheblichem Aufwand und unsicheren Ergebnissen verbunden.“

       (BSG, Urteil vom 17. September 1997 – 6 RKa 86/95 – Rn. 19, juris)

 

2. Die Beklagte war an der Neufestsetzung schließlich nicht deshalb gehindert, weil sie die Abrechnung der streitgegenständlichen Gebührenpositionen durch den Kläger,  die in einem beinahe gleichen Umfang in Folgequartalen erfolgt sein sollen, bis zum Quartal III/1999 nicht beanstandet haben soll. Die Beklagte ist an der Neufestsetzung für ein Quartal, in welchem nachweislich die Garantiewirkung der Abrechnungssammelerklärung entfällt, weil grob fahrlässig Gebührenziffern für erbrachte Leistungen unrichtig von dem Vertragsarzt angegeben wurden, nicht dadurch gehindert, dass sie die gleiche Verhaltensweise in späteren Quartalen nicht ahndet. Einen Anspruch auf Gleichbehandlung kann der Kläger insoweit nicht in Stellung bringen. Denn eine Vorwirkung eines erst späteren Verhaltens kennt die Rechtsordnung nicht. Auch gibt es keinen "Anspruch auf Gleichbehandlung im Unrecht" (BSG, Urteil vom 21. März 2012 – B 6 KA 22/11 R –, BSGE 110, 269-287,  Rn. 69).

 

3. Fehler in der Ermittlung der Schadenssumme und bei der Neufestsetzung des Honorars ergeben sich zur Überzeugung des Senates nicht. Die Aufhebung eines gesamten Honorarbescheids hat zur Folge, dass das Honorar insgesamt neu festgesetzt werden kann. Dieses darf sich auf eine Schätzung stützen (Clemens in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl., § 106d SGB V (Stand: 15.06.2020), Rn. 344). Die KV darf den Umfang der Unrichtigkeit schätzen, wenn der Vertragsarzt grob fahrlässig gehandelt hat. Davon durfte die Beklagte hier Gebrauch machen, weil der Kläger die Abrechnungssammelerklärung für das Quartal falsch abgegeben hat und dies nach den Feststellungen und der nachvollziehbaren Begründung des Disziplinarausschusses in seinem Fall zumindest grob fahrlässig erfolgte. Der Kläger hat gewusst oder sich zumindest vorwerfbar der naheliegenden Erkenntnis verschlossen, dass die Abrechnung der GO-Nummern 10 und 11 wie auch 17 eine Zeitvorgabe von mindestens 15 Minuten erfordert (vgl. BSG, Urteil vom 24. Oktober 2018 – B 6 KA 44/17 R, Rn. 21, zitiert nach juris) . Er hatte sich mit diesen Vorgaben aber – auch nach eigenem Eingeständnis, bestätigt durch den Eindruck des Disziplinarausschusses in der von diesem durchgeführten mündlichen Verhandlung – in keiner Weise vertraut gemacht.

 

Der KV kommt insoweit das für jede Schätzung kennzeichnende Ermessen zu Gute. Es ist in der Regel nicht zu beanstanden, wenn die KV das Honorar in der Höhe des Durchschnitts der Fachgruppe festsetzt. Auch sind Anhaltspunkte dafür, dass dieses Vorgehen im Falle des Klägers erkennbar unangemessen sein könnte, auf der Grundlage der Feststellungen des Disziplinarausschusses nicht ersichtlich. Zwar besteht bei Schätzungen nach der Rechtsprechung kein der Gerichtskontrolle entzogener Beurteilungsspielraum. Vielmehr gehören sie zu den Tatsachenfeststellungen. Das Gericht hat deshalb die Schätzung entweder selbst vorzunehmen oder jedenfalls selbst nachzuvollziehen. Die Verpflichtung zur eigenen Schätzung bedeutet allerdings nicht, dass das Gericht nunmehr erneut alle Schätzungsgrundlagen erhebt und eine völlig eigene Schätzung vornimmt. Sofern der Verwaltungsakt überzeugende Ausführungen zur Schätzung enthält, reicht es aus, wenn das Gericht sich diese Ausführungen zu eigen macht und sie in seinen Entscheidungsgründen nachvollzieht (BSG, Urteil vom 17. September 1997 – 6 RKa 86/95 –, Rn. 28, juris). Ausgehend davon hat die Beklagte, anknüpfend an die Feststellungen des Disziplinarausschusses, zugrunde gelegt, dass nahezu alle angesetzten Gebührenordnungsnummern 10, 11 und 17 vom Kläger nicht vollständig erbracht worden sind. Sie hat die Anzahl dieser abgerechneten Ziffern sowie die auf ihnen beruhenden Punkte ermittelt und davon 90 % abgezogen. Der dabei berücksichtigte Mischpunktwert von 0,05 DM benachteiligt den Kläger nicht in rechtswidriger Weise. Hätte die Beklagte die tatsächlichen Auszahlungspunktwerte zugrunde gelegt, wäre der zu berücksichtigende Schaden sogar noch höher ausgefallen.

 

Der Kläger hat keinen Anspruch darauf, anstatt der falsch berechneten Ziffern zumindest die Gebührenziffer 1 vergütet zu bekommen. Denn der Vertragsarzt, der grob fahrlässige Falschabrechnungen und damit die Abgabe einer unrichtigen Sammelerklärung zu verantworten hat, kann gerade keine möglichst genaue Alternativberechnung beanspruchen (so LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 26. November 2014, L 3 KA 70/12, Rn. 29, juris). Er muss sich als Folge seines gravierenden Fehlverhaltens auf eine mehr oder weniger grobe Schätzung verweisen lassen. Ein Anspruch des Klägers auf Umsetzung in eine niedriger bewertete alternative GOP würde dazu führen, dass er trotz seines Fehlverhaltens kein Risiko bei der Falschabrechnung tragen würde. Dies würde die Pflicht eines Vertragsarztes zur peinlich genauen Abrechnung ad absurdum führen und die Steuerungswirkung der Neufestsetzung verhindern. Die Beklagte ist daher nicht verpflichtet, die Abrechnungsunterlagen auf mögliche ungenutzte Abrechnungspotentiale hin zu überprüfen (Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 11. März 2015 – L 12 KA 25/13 –, Rn. 17 - 18, juris). Die Schadenssumme, die die Beklagte berücksichtigt hat, entspricht daher auch der Berechnung, die der Disziplinarausschuss angestellt hat, der einen Schaden von ca. 60.000 DM für die unrichtig in Ansatz gebrachten Gebühren-Nummern in dem streitigen Quartal ermittelt hat (vgl. S. 12 der Entscheidung des Disziplinarausschusses der Beklagten vom 25. November 1998).

 

Die Beklagte durfte sich am Fachgruppendurchschnitt orientieren, obwohl der Kläger mehr Patienten als die Fachgruppe hatte. Zunächst ist im Rahmen der Neufestsetzung der Fachgruppendurchschnitt ein geeigneter Maßstab im Fall solcher Vertragsärzte, deren Abrechnungsvolumen deutlich über dem Durchschnitt ihrer Fachgruppe lag. Bei unterdurchschnittlich Abrechnenden ist hingegen nach anderen Gesichtspunkten zu suchen (Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 11. März 2015 – L 12 KA 25/13 –, Rn. 17 - 18, juris). Das Kriterium, dass die Fallzahl des Klägers in dem streitigen Quartal über dem Fachgruppenwert lag,  führt nicht dazu, dass er zwingend mit dem verbleibenden Honorar ebenfalls über dem Fachgruppendurchschnitt liegen muss. Dieses Kriterium rechtfertigt allein nicht, dass ihm ein höherer Honoraranspruch (aus Gründen der Verhältnismäßigkeit) zwingend verbleiben muss (vgl. dazu auch Urteil des Senats vom 10. Oktober 2007 – L 7 KA 56/03 –, Rn. 34 - 35, juris). Es ist gerade nicht auszuschließen, dass der Kläger deshalb viel mehr Patienten als der Fachgruppendurchschnitt behandeln konnte, weil er die Mindestzeit für die zeitgebundenen Leistungen nicht eingehalten hat.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i.V.m. § 154 Abs. 2 VwGO, die Bestimmung des Streitwertes auf § 52 Abs. 3 Gerichtskostengesetz (GKG). Die Streitwertfestsetzung ist unanfechtbar (§ 177 SGG).

 

Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht, § 160 Abs. 2 SGG.

 

Rechtskraft
Aus
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