L 1 BA 76/20 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Betriebsprüfungen
Abteilung
1.
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 56 BA 212/20 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 BA 76/20 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 4. November 2020 wird zurückgewiesen.

 

Die Antragstellerin hat auch die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.

 

Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 299.761,84 € festgesetzt.

 

Gründe:

 

Die Beschwerde gegen den genannten Beschluss des Sozialgerichts Berlin (SG) hat keinen Erfolg. Zu Recht hat das SG den Antrag abgelehnt, im Wege vorläufigen Rechtsschutzes die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen den Prüfbescheid der Antragsgegnerin vom 12. August 2020 anzuordnen.

 

Nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Der Widerspruch gegen den genannten Bescheid der Antragsgegnerin hat nach § 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG keine aufschiebende Wirkung, weil Beiträge und Nebenforderungen festgesetzt werden.

Anzuordnen ist die aufschiebende Wirkung einer Klage in den Fällen des § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG jedenfalls dann, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Bescheides bestehen (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. z. B. Beschluss vom 20. August 2018 - L 1 KR 215/18 B ER -, juris-Rdnr. 32, vom 23. Oktober 2017 - L 1 KR 421/17 B ER). Dies ergibt sich aus einem Vergleich mit der Vorschrift des § 86a Abs. 3 Satz 2 SGG. Im Übrigen gibt der Gesetzgeber in § 86b Abs. 1 SGG nicht ausdrücklich vor, nach welchen Maßstäben über die Aussetzung einer sofortigen Vollziehung zu entscheiden ist. Hat der Gesetzgeber aber - wie es § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG voraussetzt - an anderer Stelle bereits grundsätzlich die sofortige Vollziehbarkeit einer Verwaltungsentscheidung angeordnet, nimmt er damit in Kauf, dass eine angefochtene Entscheidung wirksam bleibt, obwohl über ihre Rechtmäßigkeit noch nicht abschließend entschieden worden ist. Von diesem Grundsatz ermöglicht § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG eine Ausnahme. Zumindest in den Fällen einer offensichtlichen Rechtswidrigkeit ist die Vollziehbarkeit auszusetzen, weil dann kein öffentliches Interesse an einer Vollziehung erkennbar ist. Unterbleiben muss die Aussetzung dagegen, wenn der eingelegte Rechtsbehelf offensichtlich aussichtslos ist. Hier gibt es keine Veranlassung, von dem vom Gesetzgeber für richtig gehaltenen Grundsatz abzuweichen. In den übrigen Fällen, in denen die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung nicht klar erkennbar ist, kommt es auf eine Interessenabwägung an (BT-Drs 11/3480, S. 54). Je geringer die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs sind, desto mehr muss für den Betroffenen auf dem Spiel stehen, damit trotz bloßer Zweifel an der Rechtmäßigkeit einer angefochtenen Maßnahme entgegen der grundsätzlichen Entscheidung des Gesetzgebers die aufschiebende Wirkung angeordnet werden kann (vgl. zum ganzen Keller in Meyer-Ladewig, SGG, 13. Aufl. 2020, § 86b Rdnr. 12e ff mit weit. Nachw.).

 

Bei Beachtung dieser Maßstäbe kann der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung keinen Erfolg haben. Das SG hat im angefochtenen Beschluss bereits zutreffend dargelegt, dass nach derzeitigem Sachstand der Widerspruch der Antragstellerin allenfalls geringe Erfolgschancen hat, weil ernstliche Zweifel an der Rechtsmäßigkeit des Prüfbescheides nicht ersichtlich sind.

Auf dessen Ausführungen wird zunächst nach § 142 Abs. 2 S. 3 SGG verwiesen.

 

Das Beschwerdevorbringen gibt zu einer anderen rechtlichen Beurteilung keinen Anlass.

 

Nach § 28f Abs. 1 Sozialgesetzbuch Viertes Buch (SGB IV) hat der Arbeitgeber für jeden Beschäftigten getrennt nach Kalenderjahren Entgeltunterlagen im Geltungsbereich dieses Gesetzes in deutscher Sprache zu führen und bis zum Ablauf des auf die letzte Prüfung folgenden Kalenderjahres geordnet aufzubewahren.

Hat ein Arbeitgeber die Aufzeichnungspflicht nicht ordnungsgemäß erfüllt und können dadurch die Versicherungs- oder Beitragspflicht oder die Beitragshöhe nicht festgestellt werden, kann der prüfende Träger der Rentenversicherung nach § 28f Abs. 2 S. 1 SGB IV den Beitrag in der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung und zur Arbeitsförderung von der Summe der vom Arbeitgeber gezahlten Arbeitsentgelte geltend machen. Ob der prüfende Rentenversicherungsträger einen sogenannten Summenbescheid erlassen darf, beurteilt sich nach den Verhältnissen bei Bekanntgabe des Bescheides. Entscheidend ist, ob aufgrund einer Gesamtwürdigung der Erlass eines Summenbescheides verhältnismäßig ist. Dies kann im gerichtlichen Verfahren voll überprüft werden (vgl. Bundessozialgericht -BSG Urt. v. 7. Februar 2002 - B 12 KR 12/01 R - juris-Rdnr. 28). Soweit der prüfende Träger der Rentenversicherung die Höhe der Arbeitsentgelte nicht oder nicht ohne unverhältnismäßig großen Verwaltungsaufwand ermitteln kann, hat er diese zu schätzen, § 28 f Abs. 2 S. 3 SGB IV.

Hier ist aufgrund einer Schätzung der für den Restaurantbetrieb erforderlichen Arbeitsstunden ein Beitragssummenbescheid ergangen.

Deren Grundlagen und die konkreten Berechnungen sind von der Antragsgegnerin in ihrem Bescheid auf Seite 2 bis 6 dargestellt. Die Ermittlungsergebnisse des Hauptzollamtes in Auswertung der bei den beiden Razzien am 12. März 2017 und am 8. Juni 2018 gewonnenen Erkenntnisse, die Zeugenaussage eines ehemaligen Mitarbeiters der Antragsgegnerin und die Befragungen von Mitarbeitern sind im Einzelnen dargestellt.

Eine solche Schätzung ist hier angezeigt gewesen.

Wie bereits das SG im angefochtenen Beschluss dargestellt hat, hat die Antragstellerin bis heute nicht die vollständigen Lohnunterlagen vorgelegt. Dem behördlichen Vorwurf, Schwarzarbeiter beschäftigt zu haben, hat sie im Prinzip auch gar nicht widersprochen. Sie bemängelt auch im Beschwerdeverfahren der Sache nach die Schätzung der nicht angegebenen Arbeitsstunden unbekannter Beschäftigter als zu hoch.

 

Ihre Angriffe gehen jedoch ins Leere. Die Antragsgegnerin durfte ihrem Bescheid die Ermittlungsergebnisse des Hauptzollamtes zu Grunde legen. Weitere eigene Ermittlungen sind hier nicht zwingend geboten gewesen:

Nach § 28f Abs. 2 S. 5 SGB IV hat der prüfende Versicherungsträger einen aufgrund der Sätze 1, 3 und 4 des § 28f Abs. 2 SGB IV ergangenen Bescheid insoweit zu widerrufen, als nachträglich Versicherungs- oder Beitragspflicht bzw. Versicherungsfreiheit festgestellt und die Höhe des Arbeitsentgelts nachgewiesen werden. Dies zu ermöglichen, bleibt der Antragstellerin unbenommen.

Erfolgt dies nicht, hängt die Rechtmäßigkeit der -hier zu überprüfenden- Schätzung (nur) davon ab, ob die Beitragshöhe ohne unverhältnismäßig großen Verwaltungsaufwand festgestellt bzw. das Arbeitsentgelt bestimmten bekannten Arbeitnehmern zugeordnet werden kann (vgl. § 28f Abs. 2 S. 2 SGB IV). Diese Verhältnismäßigkeit der Schätzung kann zwar auch im gerichtlichen Verfahren überprüft werden. Für eine Beanstandung durch ein Gericht ist es jedoch erforderlich, dass die Schätzung im Zeitpunkt des Abschlusses des Widerspruchsverfahrens als unverhältnismäßig erscheinen muss (ständige Rechtsprechung des Senats, z. B. Urt. vom 14. November 2014 -L 1 KR 380/12- juris-Rdnr. 48 und vom 26. April 2013 -L 1 KR 98/11-mit Bezugnahme auf BSG, a. a. O., juris-Rdnr. 28). Der Arbeitgeber, der seiner Aufzeichnungspflicht nach § 28f SGB IV nicht ordnungsgemäß nachgekommen ist, wie hier nach Aktenlage die Antragstellerin, trägt die objektive Darlegungs- bzw. Beweislast, dass statt einer Schätzung der eigentlich richtige Betrag ohne unverhältnismäßigen Aufwand festgestellt werden könnte (KassKomm/Wehrhahn, 111. EL September 2020, SGB IV § 28f Rdnr. 9 mit Nachweisen der BSG-Rechtsprechung).

 

Ohne Erfolg verweist die Antragstellerin zunächst auf eine Betriebsprüfung der Antragsgegnerin bei ihr im Herbst 2020 für den Prüfzeitraum vom 1. Januar 2016 bis 31. Dezember 2019, welche ausweislich der Prüfmitteilung vom 4. November 2020 zu keinen Feststellungen geführt hat.

Diese Prüfmitteilung lässt den hier indirekt streitgegenständlichen Prüfbescheid unberührt. Ihr lässt sich entgegen der Auffassung der Antragstellerin nicht entnehmen, dass die Antragsgegnerin den hier im Streit befindlichen Sachverhalt erneut überprüft hat und nunmehr zu dem Ergebnis gelangt ist, die früheren Ergebnisse seien fehlerhaft. Zu den Gesamtsozialversicherung-Beiträgen heißt es in der Prüfmitteilung nämlich lediglich, dass sich die sozialversicherungsrechtliche Beurteilung von Arbeitsentgelt grundsätzlich nach dem Steuerrecht richte und im Prüfzeitraum nach Angaben der Antragstellerin selbst bzw. denen ihrer Abrechnungsstelle keine Lohnsteueraußenprüfung stattgefunden habe.

 

Die Tragfähigkeit der Schätzannahme, im Restaurantbetrieb der Antragstellerin seien während der Öffnungszeiten (15 Stunden täglich) im Schnitt immer 10 Beschäftigte tätig gewesen, wird durch das Beschwerdevorbringen nicht erschüttert.

Dass die Annahme, der Restaurantbetrieb bedürfe 6-7 Arbeitskräfte am Tag und etwa 15 am Abend auch aufgrund der Aussagen des ehemaligen Mitarbeiters Y getroffen wurden, stellen zunächst weder die Antragsgegnerin im angegriffenen Bescheid noch das SG in Zweifel.

Dass es untauglich ist, aus Angaben über Stundenumsätze auf den Bedarf an Arbeitnehmern zu schließen, hat ebenfalls bereits das SG ausgeführt. Auf dessen Ausführungen, es käme nicht nur auf das Verkaufen bzw. Servieren an, sondern auch auf Vor-und Nachbereitungsarbeiten, das Kochen und das Saubermachen, auf Einkauf, Waren- und Buchhaltungsarbeiten, geht die Antragstellerin nicht ein. Ob die von ihr jetzt eingereichten Angaben von Tages-und Monatsumsätze zutreffend sind, ist unerheblich.

Es ist auch nicht ersichtlich, dass eine Auswertung der elektronischen Kassen ein einfachere und/oder bessere Ermittlung der geleisteten Schwarzarbeit ermöglichen würde. Damit könnten lediglich die Angaben der Antragstellerin zu den Umsätzen über den Tag hinweg überprüft werden. Bestenfalls könnte ermittelt werden, welchen Umsatz welcher Kellner zu welcher Uhrzeit getätigt hat. Verlässliche Rückschlüsse auf notwendige Arbeitszeiten bzw. den notwendigen Personalaufwand des Betriebes können damit nicht getroffen werden.

 

Soweit wiederholt ausgeführt wird, die Razzia am 8. Juni 2018 um 21:30 Uhr habe zu einem Zeitpunkt höchster Auslastung stattgefunden, weil der Tag in den Ramadan gefallen sei, sodass die dort angetroffenen 10-11 Arbeitnehmer keinesfalls als Durchschnitt für die gesamte 15-stündige tägliche Betriebszeit herangezogen werden könnten, vermag dies nach jetziger Sach-und Rechtslage eine Unrichtigkeit der Schätzung ebenfalls nicht darzulegen. Denn die Antragstellerin blendet dabei alle anderen Faktoren aus, welche die Antragsgegnerin in Auswertung der Erkenntnisse des Hauptzollamtes zu anderen Annahmen geführt haben.

Für einen höheren Personalbedarf in Spitzenzeiten spricht bereits, dass bei der ersten Durchsuchung nicht nur 12 Arbeitskräfte, sondern 15 angetroffen worden sind.

 

Soweit jetzt vorgetragen wird, in dem Restaurantvertrieb würden überwiegend Döner verkauft mit einem entsprechend geringen Zubereitungsaufwand sowie ferner auf einen großen Anteil an Auslieferungen verwiesen wird, erschließt sich von vornherein nicht, dass deshalb die Grundannahmen zum erforderlichen Personalaufwand fehlerhaft sein könnten.

 

Bereits das SG hat im Übrigen darauf hingewiesen, dass in dem Prüfbescheid einige Parameter zu Gunsten der Antragstellerin vorsichtig angesetzt sind. So sind als Betriebszeiten die angegebenen Öffnungszeiten zu Grunde gelegt worden, obgleich es Anhaltspunkte dafür gibt, dass der Restaurantbetrieb nicht bereits jeweils um 24.00 Uhr beendet worden ist. Auch ist unterstellt worden, dass der Geschäftsinhaber Vollzeit im Restaurantbetrieb mitgearbeitet hat.

 

Soweit die Antragstellerin der Antragsgegnerin nunmehr schlicht Berechnungsfehler unterstellt, vermag der Senat dem nicht zu folgen. In sich schlüssig ergeben sich bei den vorgegebenen Ausgangsfaktoren von 15 Stunden Öffnungszeiten täglich, zu welchen durchschnittlich immer zehn Beschäftigte tätig gewesen sein müssen, die angesetzten benötigten Stundenzahlen von 4200 (jeweils im Februar), 4500 (Monate mit 30 Tagen) bzw. 4056 (Monate mit 31 Tagen). Eine darüber hinausgehende Schätzung, wie viele Personen wie viele Stunden jeden Tag im Lokal der Antragstellerin gearbeitet haben, enthält der Summenbescheid nicht.

 

Eine Unrichtigkeit der dem Bescheid zu Grunde gelegten Schätzungen kann die Antragstellerin zuletzt auch nicht darauf stützen, dass es unter dem Namen S nach ihren Angaben drei weitere gastronomische Betriebe in B gibt und deshalb die Internetrecherche hinsichtlich der Öffnungszeiten des Restaurants der Antragstellerin falsch sein könnte. Dass das Hauptzollamt oder die Antragsgegnerin falsch recherchiert haben könnten, ist reine Spekulation. Nur ergänzend sei angemerkt, dass ausweislich einer hiesigen Überprüfung die Internetseite www. jedenfalls am 9. Oktober 2018 für das S Restaurant B Sstraße  Öffnungszeiten montags bis sonntags von 9:00 Uhr bis 24 Uhr angegeben hat.

 

Das SG hat abschließend auch zu Recht festgestellt, dass der Sofortvollzug des streitgegenständlichen Prüfbescheids keine besondere Härte darstellt.

 

Die Kostenentscheidung ergeht nach § 197a SGG i. V. m. § 154 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung.

 

Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf §§ 53 Abs. 3 Nr. 4, 52 Abs. 1, Abs. 3 Gerichtskostengesetz. In Fällen des vorläufigen Rechtsschutzes nach § 86b Abs. 1 SGG, bei welchen die Erfolgschancen im Hauptsacheverfahren zu prüfen sind, ist grundsätzlich die Hälfte des Hauptsachenstreitwerts -hier: 599.523,67 €- anzusetzen (ständige Rechtsprechung des Senats).

 

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).

 

Rechtskraft
Aus
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